Angesichts der Entbehrungen, die sie erleiden musste, und der Hungerjahre, die nicht nur am Magen, sondern auch am Kopf, am Wissen, an der Würde nagten, kann man es zweifellos als eine Tour de force bezeichnen, dass Skarga ein solches philosophisches Œuvre geschaffen hat. Es ist ein Œuvre, in dem nicht ein Opus magnum im Zentrum steht, sondern das von Essayistik und der Kunst des Fragens geprägt ist. Ein guter Philosoph ist nicht in erster Linie jemand, der die richtigen Antworten kennt, sondern jemand, der die richtigen Fragen stellt. Und darin hat sich Skarga ausgezeichnet, ein wenig wie ihr philosophischer Lehrer Leszek Kołakowski. Ihr Œuvre besteht aus zahllosen Essays, einem Kreisen um zentrale Fragen, in dem man nicht nach gradlinigen, fertigen Antworten suchen darf.
Skargas erstes philosophisches Spezialgebiet war der Positivismus, wie er Mitte des 19. Jahrhunderts in Polen aufkam. Den Begriff »Positivismus« entlehnten die polnischen Positivisten von Auguste Comte, aber ihre Menschen- und Gesellschaftslehre hatte mehr mit Denkern wie John Stuart Mill und Herbert Spencer gemeinsam als mit Comte: dem Glauben an und dem Kampf für die Gleichberechtigung von Mann und Frau, der Emanzipation der Bauern, dem Primat der Vernunft vor den Gefühlen. Der Positivismus in Polen war eher eine breite kulturelle Strömung als eine philosophische Schule. Darüber promovierte Skarga 1964, was ein Kuriosum darstellte: Damals war es in kommunistischen Ländern höchst ungewöhnlich, eine philosophische Dissertation zu schreiben, in der Marx oder der Marxismus keine bedeutende Rolle spielten. Was nicht heißt, dass sie nicht mit den Arbeiten ihrer marxistischen Kollegen vertraut gewesen wäre. Im Gegenteil: Sie hatte gute Kontakte zu Adam Schaff (1913–2006), damals zweifellos der bedeutendste polnische Marxist. Schaff verschaffte Skarga die Möglichkeit, in Paris zu leben und zu arbeiten, doch sie hatte das Gefühl, dass sie ss ihrer Mutter nicht antun könne; sie konnte sie nicht ein weiteres Mal zurücklassen.
Außerdem hatte sie guten Kontakt zu Leszek Kołakowski. Kołakowski war anfangs ein marxistischer Philosoph, in den fünfziger Jahren entfernte er sich jedoch immer weiter von der offiziellen Doktrin und wurde zum Revisionisten und später zum vielleicht führenden Kritiker des Kommunismus, der in Polen und weit darüber hinaus Resonanz fand. Sein dreibändiges Werk Die Hauptströmungen des Marxismus, das in den siebziger Jahren erschien, ist die bedeutendste Dekonstruktion der marxistischen Philosophie und sorgte dafür, dass auch bei vielen westlichen Intellektuellen, die anfänglich mit dem Marxismus sympathisierten, langsam die Scheuklappen fielen.
Für seine zunehmende Dissidenz zahlte Kołakowski einen hohen Preis. 1968 war ein Horrorjahr in der polnischen Geschichte. Die Daumenschrauben der kommunistischen Repression wurden angezogen, und das ging mit einem lähmenden Antiintellektualismus und einem abscheulichen Antisemitismus einher. Binnen weniger Monate wurden etwa zwanzigtausend Juden und Intellektuelle gezwungen, das Land zu verlassen, darunter viele von Skargas jüdischen Freunden und philosophischen Kollegen: Kołakowski, aber auch Bronisław Baczko (1924–2016) und Krzysztof Pomian (*1934), die beide danach auch international Karriere als Denker machten und deren Werke mit zahlreichen Preisen, Ehrendoktorwürden und Ehrungen ausgezeichnet wurden. Für manche war das erzwungene Exil eine Tragödie. So beschreibt Skarga, dass einige ihrer Kollegen keine Ahnung hatten, was sie im Ausland tun oder wohin sie gehen sollten. In späteren Interviews erzählte sie, wie sie viele ihrer Kollegen nach Dworzec Gdanski brachte, den Bahnhof in Warschau, an dem der Exodus für viele begann. »Okropne były pożegnania«: Der Abschied war immer wieder schrecklich.5
Skarga selbst ließ sich nur teilweise auf die politischen Entwicklungen im Lande ein. Ihre Arbeit als Philosophin war meist unpolitisch, sie konzentrierte sich auf ideengeschichtliche Aspekte, die mit gesellschaftlichen Entwicklungen wenig zu tun hatten. Sie war allerdings dabei, als Dziady (dt.: Totenfeier) – ein Bühnenstück von Mickiewicz mit antirussischen Untertönen – unter der Regie von Kazimierz Dejmek Ende 1967 aufgeführt wurde. Diese Aufführung war eine aufsehenerregende Form des Protests gegen die Unterdrückung und die russische Einflussnahme im Land, und sie bildete den unmittelbaren Auslöser für weitere Repressionen des Regimes, die zum Massenexodus von 1968 führten.
Doch Skarga selbst wollte Polen nicht mehr verlassen. Allerdings entwickelte sich mit den Jahren Frankreich zu einer zweiten Heimat für sie. Dass sie einmal die Möglichkeit hatte, sich in Frankreich niederzulassen – wovon sie absah –, war kein Zufall: In ihrer Arbeit als Philosophin beschäftigte sie sich zunehmend mit Denkern wie August Comte und anderen französischen Philosophen, die als Wegbereiter des polnischen Positivismus im 19. Jahrhundert galten. Dass sich Skarga in diese französischen Denker vertiefte, war eine Konsequenz, die sich aus ihrer Dissertation ergab, und ein logischer Schritt in ihrer weiteren Forschung. Skarga genießt zu Recht Anerkennung dafür, dass sie viele französische Denker in Polen eingeführt hat. Und im Laufe der Jahre entwickelte sie eine große Affinität zu Frankreich, zur französischen Sprache und zu französischen Philosophen: sowohl zu den toten als auch zu den lebenden. Mit Emmanuel Levinas beispielsweise verband sie eine enge Freundschaft. Levinas hatte selbst litauische Wurzeln, hatte für kurze Zeit in Charkiw studiert und gelebt und war ein philosophischer Weggefährte. In ihren eigenen Essays baute Skarga oft auf Levinas auf; was die beiden vielleicht am meisten verband, war ihr Europäertum. Einmal fragte sie Levinas, was er nun eigentlich sei, was für ein Denker er sei, mit seinem gemischten kulturellen Hintergrund (er sprach auch Russisch und seine Frau Polnisch). Levinas antwortete: »Ich bin Europäer.« Skarga erklärte, dass sie diese Bezeichnung auch für sich selbst passend finde.6
Unter anderem in einem der Hauptthemen ihres Werkes zeigte sich Skarga Levinas verpflichtet: in der Frage nach dem Bösen. Obwohl sie einmal bekundete, nicht viel davon zu halten, wenn Menschen versuchten, ihr philosophisches Werk anhand ihrer Autobiographie zu erklären, lässt es sich doch kaum leugnen, dass ihre Erfahrungen im Gulag und in der Kolchose ihr Denken geprägt haben. Besonders ihre Verteidigung des Individualismus und ihre Aversion gegen politische Extreme sind davon kaum zu trennen. Und das gilt auch für die Frage des Bösen, die in ihren Betrachtungen immer wiederkehrt.
Obwohl sie sich selbst als Ungläubige verstand, konnte Skarga mit größter Ernsthaftigkeit über den Teufel sprechen. Sie hielt den Teufel für ein wichtiges philosophisches Thema, für das man keineswegs religiös sein musste. Was dies anging, bezog sie sich gelegentlich auch auf den Manichäismus. Das hatte sie mit Denkern wie Kołakowski und Miłosz gemeinsam: Alle ungläubig oder mit ihrer eigenen, sehr atypischen Metaphysik ringend, rückten sie den Manichäismus in ihrer Philosophie oder in ihren Gedichten ins Zentrum.
Wenngleich Skarga die Reflexionen über den Teufel sehr ernst nahm, war sie der Ansicht – darin Levinas folgend –, dass das Böse in der Welt nicht so sehr in metaphysischen Begriffen verstanden werden sollte: Das Böse ist per Definition Menschenwerk. Dabei ist das Böse nicht bloß im Menschen oder in den Menschen selbst zu finden, sondern auch und vor allem zwischen den Menschen: Es ist etwas, was in einer seltsamen Form der Zwischenmenschlichkeit von »ich« und »du« entsteht.7
Als Skarga später den Kommunismus als eine mögliche Manifestation des Teufels charakterisierte, stellte sie klar, dass sich das Teuflische des Kommunismus nicht in einer Art metaphysischer Intervention einer übermenschlichen Entität verberge und dass es ebenso wenig in der absichtlichen Negation des Guten liege. Was so teuflisch am Kommunismus war, war die wuchernde Ausbreitung der Gleichgültigkeit. Skarga hat viel darüber geschrieben, dass sich das Gute nicht als Gegensatz zum Bösen darstellt – das Gegenteil des Guten sei vielmehr die Gleichgültigkeit. Viel von dem Elend, das der Kommunismus verursachte, ging nicht auf zielgerichtete Boshaftigkeit oder zielgerichtetes Verursachen von Leid, von Vernichtung zurück (das waren eher die Folgen als die Quellen des Bösen). Diabolisch war die Gleichgültigkeit der Autoritäten, der Machthaber, und die Tatsache, dass man letztlich gezwungen wurde, als Mensch selbst immer gleichgültiger zu werden, um noch leben zu können. Im Grunde, so Skarga, ist das Böse ein Rätsel, das unser Verständnis immer übersteigen wird, weshalb es womöglich besser ist, sich zu fragen, wie man das Böse bekämpfen kann, als sich zu fragen, was es bedeutet.8