In den achtziger Jahren war Skarga noch immer nur indirekt an den großen Veränderungen beteiligt, die sich abzeichneten. Sie hatte zwar Verbindungen zur Bürgerrechtsbewegung Komitee zur Verteidigung der Arbeiter (KOR) und zur Bewegung Solidarność, aber sie erwartete eigentlich nicht viel von ihnen. Das Polen, das sie bei ihrer Rückkehr im Dezember 1955 vorgefunden hatte, hatte sie zutiefst enttäuscht. Es schien, als wäre die Nation gebrochen, als hätte sie es tatenlos hingenommen, fortan unter dem Joch der Kommunisten und Russlands zu leben. Diese Enttäuschung ließ in Skarga den Glauben an die Möglichkeit eines kurzfristigen großen Wandels erlöschen. Den vollständigen Zusammenbruch des Kommunismus hielten zugegebenermaßen aber viele für unwahrscheinlich, und er kam unerwartet – selbst im November 1989 noch.
Skarga konzentrierte sich auf ihre Arbeit, sie wurde 1988 Professorin, Chefredakteurin von Etyka, Polens führender Philosophiezeitschrift, und veröffentlichte in den achtziger Jahren einige ihrer wichtigsten Bücher. Im Jahr 1982 publizierte sie ihre umfangreiche Studie über Henri Bergson, in der sie sich besonders intensiv mit einem Aspekt von Bergsons Denken befasste, der zunehmend zu einem zentralen Thema in ihrem eigenen Denken wurde: mit der Frage der Zeit. Sie schrieb zahlreiche Aufsätze über die Bedeutung, die Erfahrung und den Ursprung der Zeit. Eine der Fragen, die sie beschäftigte, lautete: Welche Bedeutung hat das »Jetzt«? Skarga war der Ansicht, dass das »Jetzt« im ontologischen Sinne nicht wirklich ein sinnvoller Begriff sei, das »Jetzt« existiere nicht, es sei ein »Nichts« zwischen dem, was war, und dem, was sein werde.9
Mit einer ähnlichen Skepsis gegenüber der ontologischen Dimension unseres Zeitbegriffs rückte sie auch den Begriffen der Endlichkeit und der Ewigkeit zu Leibe. In einem späteren Aufsatz kommt sie zu dem Schluss, dass der Begriff der Ewigkeit hohl sei.
Zu dieser Schlussfolgerung befugte mich die Erkenntnis, dass alles stirbt, alles zerbröckelt, alles vergeht, sogar Felsen, Steine, Kontinente, Epochen und Zivilisationen, dass alles, was entsteht, verloren geht. Die Ewigkeit ist nicht Teil der Existenz, auch wenn wir uns von dem Gedanken daran nicht befreien können.10
Diese Faszination für Fragen über die Zeit geht also auf ihr Interesse an Bergson und ihre Arbeit in den achtziger Jahren zurück. In jenen Jahren schrieb sie auch einige ideengeschichtliche Werke wie Granice historyczności (1989) über die Grenzen der Historizität. In den letzten zwanzig Jahren ihres Lebens lag der Schwerpunkt zunehmend auf metaphysischen Fragen wie in ihren Büchern Tożsamość i różnica, Eseje metafizyczne (1997) und Kwintet metafizyczny (2005). Man könnte also von drei Hauptphasen ihres Denkens sprechen: dem Anfang mit Betonung auf dem Positivismus, dem mittleren Teil mit Betonung auf ihrer ideengeschichtlichen Arbeit und der letzten Phase mit Betonung auf Metaphysik. Skarga selbst sah in ihrem Werk vor allem Kontinuität, und das nicht zu Unrecht: Wenn es verschiedene Phasen in ihrem Denken gibt, so gehen sie doch ganz logisch und kohärent ineinander über.
Dass sich Skarga als apolitische Denkerin verstand, bedeutet jedoch nicht, dass sie sich in einen Elfenbeinturm des abstrakten Denkens eingeschlossen hätte. Ganz im Gegenteil. Sie verfügte über eine fast beispiellose Fähigkeit, genau jene grundlegenden Aspekte der menschlichen Existenz zu erläutern, durch die die philosophische Reflexion weit über die Grenzen der Philosophie hinaus relevant wird. Die Abstraktion des Alltäglichen und seine Verknüpfung mit einer Theorie eines wesentlichen Aspekts der conditio humana kennzeichnen viele von Skargas Aufsätzen. Ein schönes Beispiel dafür ist ein posthum veröffentlichter Aufsatz über Einsamkeit.
Einsamkeit hat einen negativen Beigeschmack, der weithin akzeptiert wird. Skarga will das keineswegs leugnen und erörtert auch ausführlich die vielen Erscheinungsformen der Einsamkeit, in denen sie ein schmerzhafter und sogar tragischer Teil der Existenz ist. Aber Einsamkeit kann auch eine äußerst wertvolle Erfahrung sein. Vielleicht kann man so etwas erst erkennen, wenn man jahrelang mit anderen eingesperrt war. Bereits in Nach der Befreiung beschreibt Skarga, wie sie einen seltenen Moment der Einsamkeit zu schätzen wusste. In ihrem Aufsatz über Einsamkeit spürt sie dieser Erfahrung eingehender nach. Sie erörtert mehrere Phänomene, die oft mit Einsamkeit in Verbindung gebracht werden und mit ihr einhergehen können, sich aber doch wesentlich von ihr unterscheiden, etwa Isolation, Alleinsein, Entfremdung. Aber Einsamkeit ist doch noch etwas anderes. Skarga verbindet die Philosophie von Levinas mit der Erfahrung der Einsamkeit und hebt hervor, dass die Einsamkeit notwendig ist, um nicht nur sich selbst, sondern auch den anderen besser kennenzulernen. Manchmal sieht man das Antlitz des anderen in dem Moment besser vor sich, in dem der andere nicht da ist, im Moment der Abwesenheit.11
Dass Skarga keine Elfenbeinturmphilosophin war, belegt auch die Tatsache, dass ihr Bekanntheitsgrad mit den Jahren wuchs. Sie fand Anerkennung als »moralische Instanz«, als »Gewissen des Landes«, und als sie am 18. September 2009 starb, trauerte das Land um die »Grande Dame der Philosophie«12. Diesen öffentlichen Ruhm und diese Anerkennung verdankte sie nicht nur ihrer akademischen Arbeit, sondern auch der Tatsache, dass sie viele Beiträge für ein breites Publikum schrieb, in philosophischen Talkshows auftrat und als Pädagogin ihren Beitrag zu einer besseren Welt von morgen leistete. Skarga bezeichnete sich selbst oft bewusst als Philosophin und Pädagogin: Sie betrachtete das Lehren als einen sehr wichtigen Bestandteil ihrer Arbeit. Und als Dozentin war sie auch sehr bedeutsam. Was Kołakowski für eine Generation polnischer Intellektueller in den siebziger und achtziger Jahren bedeutete, war Skarga in kleinerem Maßstab für eine spätere Generation. Sie zog eine neue Generation polnischer Philosophen und Intellektueller heran. Dabei fällt auf, dass es unter ihren einst besten Schülern sowohl Linke als auch Rechte gab, was Skargas Credo bestätigte: Man soll Studenten nicht beibringen, was sie denken, sondern wie sie denken sollen.
Philosophieren war für sie eine Weise zu sein, eine Art, fragend in der Welt zu stehen, um so auch sich selbst kennenzulernen. Der wahre sokratische Daimon also. »Erkenne dich selbst« ist und bleibt eine entscheidende Aufgabe: Nur wenn man ein bewusstes Leben lebt, ist man nicht bloß ein Spielball des Schicksals und äußerer Kräfte. Nur dann lebt man sein Leben in vollem Umfang und ist ein ganzer Mensch. Skarga war sich des doppelten Bodens dieser Aussage jedoch sehr wohl bewusst: »Es ist schwer, ein Mensch zu sein.«13
Dessen ungeachtet: Gelingt es, ist es schön und hoffnungsvoll. Und Hoffnung war nicht zufällig ein Thema, auf das Skarga als Denkerin oft zurückkam. In Sein und Zeit vertrat Martin Heidegger (1889–1976) die Ansicht, dass der Tod der Horizont unserer Existenz sei. Der Tod ist immer der letzte Orientierungspunkt unseres Seins, das somit ein Sein zum Tode ist. Skarga bezeichnete Heidegger als den letzten der großen Philosophen, aber in diesem Punkt ist sie mit ihm grundsätzlich uneins. Sie beschrieb das Leben viel eher als ein Sein zur Hoffnung.14
Es gibt eine Sache, die stärker ist und jenseits des Todes als fundamentaler Aspekt unserer Geworfenheit in die Existenz steht: Hoffnung. Hoffnung ist der Horizont unseres Lebens, der Richtpunkt unseres Handelns. Dies ist ein wundervoller Gedanke, aber man muss auch einräumen, dass Skarga zuweilen ein viel düstereres Menschenbild vertrat. Obwohl sie die Frage nach dem Sinn des Lebens für sehr wichtig, ja sogar für unumgänglich hielt und sich fortwährend mit dieser Sinngebung befasste, konnte sie auf Sinnfragen manchmal auch schroff oder düster antworten, was gelegentlich den Eindruck vermittelte, als hätte sie von ihren Jahren in der Hölle doch eine gewisse Verbitterung und Narben auf der Seele zurückbehalten. Was ist der Sinn des Lebens? Das Leben hat keinen Sinn, denn welchen Sinn hat es, dass Millionen in Lagern sterben?
Warum sollte ich dem Leben etwas übel nehmen? Wem sollte ich etwas übel nehmen? Wer herrscht über das Leben? Das Leben entfaltet sich selbst, ob ich es will oder nicht. Wir können uns nur die Frage stellen, ob es einen Sinn hat … Ich weiß nicht, ob das Leben einen Sinn hat. Leszek Kołakowski sagt, es sei notwendig, an einen bestimmten Sinn des Lebens zu glauben. Ich stimme ihm nicht zu. Ich bin pessimistischer gestimmt als er. Während des Krieges sind so viele Millionen Menschen gestorben. Und das auf so grausame Art und Weise. Zu welchem Zweck? Warum? Wie kann man hier nach dem Sinn fragen?15
Skarga ließ ihre Verärgerung durchaus erkennen, wenn zu viel über diesen »Sinn« geschwatzt wurde. Kam daher das Bedürfnis, stets das Wort »sens« zu verwenden? Und doch war sie gerade dann der Auffassung, dass man dem Menschen eines niemals nehmen dürfe, mag es auch vergebens sein: Quellen des Trostes, wie Literatur, Musik und Freundschaft, und Hoffnung.16
Vielleicht müssen wir dem Leben gerade deshalb, weil es von sich aus keinen Sinn hat, diesen Sinn geben und dürfen aus diesem Grund das so bedeutsame Feuer der Liebe, der Freundschaft, der Musik, der Künste, der Philosophie niemals erlöschen lassen. Skarga war eine Renaissancefrau: enorm vielseitig, enorm belesen, enorm getrieben vom intrinsischen Wert der Weisheit. Auch in ihren Aufzeichnungen aus dem Gulag wird dies darin deutlich, dass sie scheinbar ohne große Anstrengung so viel konnte und so viel war: eine Krankenschwester, eine Ingenieurin einer Ziegelei, eine Humanistin pur sang, die Literatur und Kunst hochhielt und tief im Herzen trug. Dass ein Mensch zu Großem fähig ist und das sogar dann, wenn das Schicksal auf brutalste Weise versucht hat, ihn ganz kleinzumachen, ist schön und stimmt hoffnungsvoll. Und damit kann Skarga jedem als Inspiration bei der schwierigen Aufgabe dienen, vor der wir alle stehen: der Aufgabe, Mensch zu sein.
Alicja Gescinska