Es war Frühling, bis sich Charlie dazu durchringen konnte, zum ersten Mal seit langer Zeit wieder die Stallungen aufzusuchen. Sein liebstes Reittier war ein nervöser, behänder Fuchs namens Mercutio, der sofort zu seinem Herrn gelaufen kam, sich die Stirne streicheln ließ und ihn dann sanft mit der Nase anstieß, als wollte er sagen, sein Reiter solle sich doch erheben, um endlich wieder mit ihm über die Wiesen zu galoppieren.
Charlie seufzte tief. Dann rief er Will zu sich, der ihn auf diesem Weg begleitet hatte.
»Will, du sollst Mercutio haben – unter der Auflage, dass du erst einmal auf dem Reitplatz bleibst, bis ihr euch aneinander gewöhnt habt. Das ist eigentlich kein Pferd für ein Kind«, murmelte er abschließend.
Will lag ein Widerspruch auf der Zunge. Doch er war ein feinfühliger Knabe und spürte, wie schwer seinem Vater dieses Geschenk fiel. Also unterdrückte er die aufbegehrenden ebenso wie die allzu freudigen Gefühle und sagte nur: »Danke, Papa!«
Charlie fuhr dem Pferd noch einmal über die Nüstern, dann wandte er sich ab, nahm die restlichen Tiere kurz in Augenschein und begab sich bald zurück ins Haus.
Will war ein gefälliger, gehorsamer Bursche. Oder vielleicht hatte er auch nur in seinem kurzen Leben wenig Anlass gehabt, sich dem Willen seiner Eltern zu widersetzen. Aber es kommt nun einmal im Leben jedes jungen Menschen der Moment, in dem er der festen Überzeugung ist, etwas besser zu wissen als seine Eltern. Er wusste einfach, dass er mit seinem neuen Reittier auch außerhalb der umzäunten Reitfläche zurechtkommen würde. Unter normalen Umständen hätte er vermutlich versucht, mit seinem Vater zu diskutieren, ihn gebeten, die Auflage zu lockern oder zurückzunehmen. Aber da dieser nie nach dem Pferd fragte und jedes Gespräch über das Reiten generell mied, tat er es nicht.
Man sollte hinzufügen, dass die Versuchung übermenschlich groß war: Der Frühling hatte mit aller Macht das Land in Besitz genommen, und jeden gesunden Jungen zog es hinaus in die Wälder und Felder. Einen derart formidablen Gefährten wie Mercutio dabei im Stall zu lassen, war gleichsam ein Verbrechen gegen die Natur. Schon bald setzte sich Will über das Gebot seines Vaters hinweg, und die beiden preschten in wilder Jagd gemeinsam hinaus in die Freiheit.
Will hätte wissen müssen, dass diese Übertretung seinem Vater zu Ohren kommen würde, auch wenn dieser Stallungen und Reitbahn seit dem einen kurzen Besuch nicht mehr nahe gekommen war.
Charlie war sehr ärgerlich. Er ließ ein wahres Donnerwetter an Tadel und Vorwurf über seinen Erstgeborenen niedergehen, hielt ihm Undankbarkeit, Ungehorsam, Unvernunft und noch einige weitere Un-s vor und verhängte schließlich einen zweiwöchigen Stubenarrest, verbunden mit der Drohung, er werde sein Geschenk zurücknehmen, wenn Will sich der Vorgabe noch einmal widersetzen würde.
Will ließ die Tirade zerknirscht über sich ergehen und schluckte schwer ob der Strafe. Erst ganz zum Schluss, als Charlie seinen Sohn schon aus dem Zimmer scheuchen wollte, fasste er sich ein Herz und stieß hervor: »Aber Papa, ich kann es!«
Charlie sah ihn finster an, doch da er nichts sagte, wagte Will fortzufahren: »Ich kann es wirklich, Papa, ich kann mit ihm ausreiten. Es geht sehr gut! Wenn du doch nur einmal an die Bahn kommen und zusehen wolltest ...« Er brach ab, als er merkte, wie viel er von seinem Vater verlangte.
Eine Weile war es still. Dann holte Charlie Atem. »Du hast recht«, meinte er ruhig, »ich sollte es mir ansehen.«
Zwei Tage lang wurde nicht mehr darüber gesprochen. Am dritten Tag hob Charlie den Arrest für eine Stunde auf. »In einer Viertelstunde bin ich unten am Reitplatz«, sagte er knapp zu Will, »dies ist deine Chance, mir zu zeigen, was du schon kannst.«
»Ja, Sir!«, sagte Will eifrig und lief gleich los, um sich umzuziehen.
Stumm saß Charlie am Rand des Platzes und sah zu, wie sein Sohn das Pferd in die Bahn führte. Die Streu roch nach Holz und Erde. Der warme, lebendige Geruch der Tiere mischte sich in den Duft und überlagerte ihn. Die würzige Note des Leders, das vertraute Geräusch, als der Sattelgurt angezogen wurde. Entfernt klang der beißende Schwefelton frisch beschlagener Hufe mit. Daneben der Duft der Bäume im Frühling ... Als Kind war er, wenn alle Lektionen gelernt waren, an den hellen, langen Nachmittagen ausgeritten, immer Sam hinterher, hinein in die Natur, mitten ins Leben ...
Charlie schüttelte den Kopf, wie Pferde es tun, um eine Fliege loszuwerden. Er kannte inzwischen die Gedanken, die ihn in die Schwermut führten, und er trat ihnen energisch entgegen, bevor sie sich festsetzen konnten. Hier ging es um Will, nicht um ihn.
Der Junge machte seine Sache gut, saß sicher, lenkte das Pferd mit Zuversicht. Das Tier selbst schien durchaus seine Freude an dem leichten, wagemutigen Reiter zu haben. Zu lernen gab es freilich noch genug, und Charlie hatte sich immer darauf gefreut, seinen Sohn zu lehren ... Er seufzte. Als er sich kurze Zeit später von der Bahn zurückzog, beendete Will aufmerksam den Ritt, übergab das Pferd dem Knecht und lief seinem Vater nach, um ihm über die unebenen Wege zu helfen.
»Das hast du gut gemacht«, sagte Charlie sachlich und war froh, dass der Junge den Schmerz in seinem Gesicht nicht sah. »Du wirst deinen Arrest absitzen, weil du ungehorsam warst. Danach darfst du meinethalben ausreiten, aber nicht weiter als bis zur Brücke.«
»Ja, Sir!«, sagte Will eifrig, und Charlie fuhr fort:
»Im Sommer wirst du für ein paar Wochen nach Arden Hall fahren, und ich werde Rob bitten, dir Reitunterricht zu geben. Er wird es ohnehin besser machen, als ich es je gekonnt hätte.« Er atmete noch einmal tief durch. »Du wirst mir versprechen, dich an meine Auflagen zu halten. Und im Gegenzug werde ich versuchen, künftig nicht mehr so empfindlich zu sein.«
»Ja, Sir!«, sagte Will noch einmal, aber dann platzte er heraus: »Du bist überhaupt nicht empfindlich, Papa! Ich glaube, du musst der tapferste Mann der Welt sein! Wenn ich von dir lernen kann, so tapfer zu sein ...« Er brach ab.
Charlie spürte, wie sein Herz wieder leicht wurde. Ich Dummkopf, dachte er. Ich fürchtete, ich würde meine Kinder enttäuschen, nicht als Held, sondern als Krüppel zurückzukehren. Und dabei ist es nicht der Sieg, der die Helden formt ... Laut sagte er: »Ach, weißt du – wir alle sind viel stärker, als wir von uns selbst denken. Wenn irgendwann für dich eine Stunde kommt, tapfer zu sein, wirst du es merken.«
Nicht wenige zerrissen sich darüber das Maul, dass Lady Sybil Colstone ein Jahr nach der Verwundung ihres Mannes eine weitere Tochter zur Welt brachte. Zu den Zweiflern, die hinter vorgehaltener Hand die Vermutung äußerten, das Kind müsse einen anderen Vater haben, gesellten sich jene, die zwar an die legitime Vaterschaft glaubten, aber der Meinung waren, Sir Charles hätte dies seiner Frau nicht zumuten dürfen. Das Glück der Familie wurde davon nicht getrübt. Mit Liebe und Verwunderung bestaunte Charlie seine dritte Tochter, die helles Haar und große blaugraue Augen hatte und auf den Namen Dorothea getauft wurde. Einige Monate später kam auch Anne ein weiteres Mal mit einem Mädchen nieder, das sie Josephine nannten.