21

Nachdem Barnaby Baker drei Jahre auf Highbridge gelebt hatte, wurde er offiziell von den Colstones adoptiert. Der hauptsächliche Grund für diesen Schritt war der Umstand, dass er Will auf das Internat folgen würde, und um dort von Anfang an als dessen Bruder zu gelten, sollte er auch denselben Familiennamen tragen. Den drei Jahre älteren Will bewunderte er sehr, die Mädchen waren zu seinen Schwestern geworden, und das jüngste und letzte Kind der Familie, Robert, war ohnedies erst geboren, nachdem Barnaby schon auf Highbridge lebte, und damit von Geburt an für ihn wie ein kleiner Bruder.

So wurde ihm der Anfang der Internatszeit leicht – wie es oft der Vorteil jüngerer Geschwister ist. Wie alle Lehrer vorausgesagt hatten, hatte er auch mit dem Lernstoff kaum Schwierigkeiten, er war klug und gewissenhaft und darauf bedacht, alles recht zu machen. Früh manifestierte sich in ihm der Wunsch, später Medizin zu studieren und Arzt zu werden, und diesen Plan verfolgte er zielstrebig.

Mit der Mehrung des Wissens kommen auch jene Erkenntnisse, die nicht immer leicht zu tragen sind. Eine dieser Erkenntnisse zu der Art der Bekanntschaft seiner leiblichen Mutter mit seinem Adoptivvater traf Barnaby, als er dreizehn Jahre alt war. Sehr widerstrebend fuhr er in diesem Jahr zu Weihnachten mit Will nach Hause. Das Haus war festlich geschmückt und die Kinder feierten ein fröhliches Wiedersehen, aber Charlie spürte die heftige Ablehnung seines Adoptivsohnes in dem Moment, in dem er zur Tür hineinkam. Dieser begrüßte ihn nur sehr knapp, wich seinem Blick aus, wollte seine Fragen nicht beantworten und verweigerte ihm sogar die Hilfe, als Charlie eine Stufe in den hinteren Flügel des Hauses überwinden musste.

Nachdem das Weihnachtsfest vorüber war und sich nichts an Barnabys Verhalten geändert hatte, nahm Charlie es auf sich, mit dem Jungen zu reden.

»Barnaby, du zürnst mir, und ich bin mir nicht sicher, ob ich weiß, warum«, begann er behutsam, aber fest.

»Es ist nichts«, knurrte der Junge.

»Ist das so?«, fragte Charlie, »nun denn, wenn doch etwas wäre, so wäre ich bereit, mit dir darüber zu sprechen.«

Barnaby presste die Lippen zusammen. »Wären Sie auch bereit, mir eine Frage wahrheitsgemäß zu beantworten?«, brach er schließlich hervor, und Charlie spürte die Wut, die in ihm steckte.

»Wenn du das möchtest, werde ich die Wahrheit sagen. Aber überleg dir vorher, ob du diese Wahrheit hören willst. Denn die Vergangenheit ändern kann ich nicht.«

»Damit haben Sie meine Frage schon beantwortet!«, schnaubte Barnaby und rannte türenknallend aus dem Zimmer.

Charlie ließ ihm nachsichtig ein paar Tage Zeit. Er hätte ihm vielleicht auch noch länger Zeit gelassen, wenn sich Barnaby nicht am Tag vor Silvester derart unhöflich benommen hätte, dass Sybil sich den Jungen schließlich vorknöpfte. »Barnaby, ganz gleich was du denkst, meinem Mann vorwerfen zu müssen, hier im Haus wirst du dich benehmen!«, sagte sie mit einiger Schärfe.

Er sah sie an, wütend und verletzt und unglücklich zugleich. Er war inzwischen nur noch wenige Zoll kleiner als sie. »Wie können Sie ihn in Schutz nehmen«, fragte er, mit Tränen kämpfend, »da er Sie doch auch gedemütigt hat?«

»Ich fühle mich nicht gedemütigt«, meinte sie trocken. »Er war jung, und er hat Fehler gemacht, wie die meisten Menschen. Aber er hat auch viel für dich getan!«

»Aber ...«

»Kein Aber!«, sagte sie streng, »ich möchte, dass du zu ihm gehst und dich bei ihm entschuldigst.«

»Muss ich?«, fragte er und klang in diesem Moment wieder ein bisschen wie ein maulendes kleines Kind.

Sie lächelte. »Du musst«, sagte sie fest.

Sehr leise und zögerlich klopfte Barnaby an die Tür des Arbeitszimmers. Nachdem das »Herein!« erklungen war, schob er sich in den Raum. Er trat vor den Schreibtisch hin, da dies in solchen Situationen gefordert war, und murmelte: »Es tut mir leid, Sir. Es tut mir leid, dass ich so unhöflich war.«

Charlie betrachtete den Jungen, das dichte dunkle Haar und die tief liegenden dunklen Augen, die das leidenschaftliche Wesen verrieten.

»Barnaby, ich verstehe ja deine Vorbehalte.« Charlie seufzte. »Ich werde mich nicht bei dir entschuldigen, denn der einzige Mensch, bei dem ich mich für dieses Vergehen entschuldigen muss, ist meine Frau, und das habe ich schon vor langer Zeit getan.«

Barnaby senkte den Blick. »Ich weiß, dass ich Ihnen dankbar sein muss«, sagte er tonlos.

Charlie schob seinen Stuhl zurück. »Darum geht es doch jetzt nicht«, meinte er.

»Worum geht es dann?«, fragte der Junge leise.

Ebenso leise antwortete Charlie: »Es geht darum, dass ich dich liebe und hoffe, du wirst auch ohne diese Entschuldigung einen Weg finden, mir zu verzeihen.«

Barnaby biss sich auf die Lippe, es sah aus, als müsste er gleich weinen.

Charlie fuhr stockend fort: »Du brauchst es nicht jetzt und nicht heute zu tun. Aber ich hoffe, es wird dir irgendwann gelingen. Denn damit leben wirst du so oder so. Und ich auch. Vielleicht gehört das zu unseren schwersten Lektionen: dass wir mit der Ambivalenz leben müssen. Dass es nicht nur die Guten und die Schlechten gibt. Und auch damit, dass wir manchmal im Nachhinein feststellen, selbst nicht immer auf der rechten Seite gestanden zu haben. Das gilt ebenso für die, die wir lieben. Vielleicht wirst gerade du dies früher als andere lernen.«

Barnaby schwieg noch immer, aber Charlie fühlte, wie die Wut langsam schmolz.

»Ich kann dir verraten, dass es nicht angenehm ist, mit lange zurückliegenden Sünden konfrontiert zu werden«, sagte er in einem leichteren Tonfall, »aber ich nehme an, dazu sind unsere Kinder da – damit im Guten wie im Schlechten nichts vergessen wird. Vermutlich sollte in Wahrheit ich dir dankbar sein.«

Diesmal verzog der Knabe den Mund zu einem halben Lächeln. Das reichte Charlie.

»Wenn du irgendwann einen Weg gefunden hast zu verzeihen, würde es mich freuen, wenn du es mich wissen lässt. Und jetzt ab mit dir!«

Barnaby zögerte noch kurz, dann machte er einen Diener und ging rasch aus dem Zimmer.

Am Abend des nächsten Tags feierten sie das Ende des alten Jahres. Als die Turmuhren der Kirche Mitternacht schlugen, begab sich die ganze Familie hinaus in die Kälte auf der verschneiten Terrasse, um das neue Jahr zu begrüßen. Die Mädchen sangen im Chor For Auld Lang Syne, und Will zeigte dem siebenjährigen Robert, wie man Knallfrösche warf.

Als es wieder hineingehen sollte, trat Barnaby an den Rollstuhl und fragte respektvoll: »Darf ich helfen, Sir?« Charlie nickte.

»Vielen Dank, mein Sohn!«, sagte er.