TEIL 4
Alex
Um kurz vor 10 Uhr checkte Alex zum fünfzigsten Mal an diesem Morgen ihre Nachrichten. Nichts von Zoe, aber warum auch? Auch kein Ton von Lorrie. Sie runzelte die Stirn. Allmählich wuchs ihre Sorge über das Glup-Gardens-Event. Die Veranstaltung war nicht öffentlich, reinzukommen würde sich also als schwierig erweisen, wenn Lorrie es nicht schaffte, ihren Namen auf die Gästeliste zu setzen. Vielleicht könnte sie Ruben fragen. Immerhin arbeitete er für Glup.
Verdammt. Ruben. Ruben würde wahrscheinlich dort sein, bei der Glup-Sache, was bedeutete, dass – würde womöglich auch Zoe anwesend sein? Lorrie hatte nicht erwähnt, ob das die Art von Veranstaltung war, zu der auch Ehepartner eingeladen wurden. Auf jeden Fall hatte sie nichts davon gesagt, dass Paul hingehen würde. Trotzdem, Himmel, falls die Möglichkeit bestand, dass Zoe heute Abend auftauchte, dann musste Alex das wissen.
Sie nahm wieder das Handy zur Hand und öffnete erneut ihren Messenger. Es tat weh, durch den Gesprächsverlauf mit Zoe zu scrollen und das offensichtliche Geflirte in dem vertrauten Austausch zu lesen, der sie durch die letzten Monate getragen hatte. Bis zu dem Vorfall vor zwei Wochen hatten sie sich jeden Tag geschrieben. Zum Beispiel hatte Zoe Alex morgens eine SMS geschickt, nur um sich zu erkundigen, wie sie geschlafen hatte, oder um ihr mitzuteilen, dass sie von ihr geträumt hatte. Dann schickte Alex ein Foto zurück mit ihrer Hand auf der weichen Rinde ihres Lieblingsbaums im Park in der Nähe ihrer Wohnung oder eins von einer besonders wehmütig wirkenden Wolke.
In den letzten fünf oder sechs Nachrichten, die alle in eine Richtung gegangen waren, nämlich von Alex an Zoe, hatte sich der Ton geändert. Am Samstagmorgen vor zwei Wochen, einen Tag, nachdem sie Zoes Kuss verschmäht hatte, schickte Alex ihr eine zögerliche, versöhnliche SMS:
Morgen Z, wie geht’s dir? Ich hoffe, nicht allzu dreckig nach letzter Nacht – ich bereue die zweite Flasche Wein!
Da sie keine Antwort bekam, versuchte sie es am Nachmittag noch einmal:
Ich hoffe, dir ist nicht peinlich, was passiert ist. Ich hab’s bereits vergessen.
Immer noch nichts. Ein paar Tage später schickte Alex zwei weitere SMS:
Z, bitte ruf mich an, ich glaube, wir müssen reden.
Hallo?
Die Woche war schwierig gewesen. Sie war überrascht, wie einsam sie sich ohne die täglichen Nachrichten von Zoe fühlte. Das Bedürfnis, mit ihr in Kontakt zu treten, irgendeine Art von Bestätigung zu bekommen, dass sie ihr immer noch wichtig war, war unerträglich. Am Mittwoch, fünf Tage nach ihrer ersten SMS, fotografierte sie einen lohfarbenen Eulenschwalm, den sie im Park um die Ecke auf einem ihrer immer kürzer werdenden Spaziergänge mit Ramone entdeckt hatte, und schickte Zoe das Bild mit einem Herzaugen-Emoji, bekam aber nichts zurück. Am nächsten Montag versuchte sie es noch einmal:
Hi, du bist wahrscheinlich sauer auf mich, und es tut mir so leid, dass ich dich verletzt habe. Ruf mich bitte an. Ich vermiss dich. xx
Das alles war so demütigend. Sie verhielt sich wie Ramone: bettelte um Aufmerksamkeit, winselte um ein Leckerli. Alex bemitleidete Frauen, die sich anderen so vor die Füße warfen. Wenn Leute, mit denen Alex zusammen gewesen war, früher erste Anzeichen zeigten, sich emotional zurückzuziehen (oder aber im Gegenteil zu anhänglich wurden), hatte Alex einfach einen Schlussstrich gezogen und die Beziehung geköpft wie eine Blume, die ihre beste Zeit hinter sich hatte.
Aus irgendeinem Grund war das diesmal anders. Die Monate, in denen sie Zoes geballte Aufmerksamkeit genossen hatte, hatten sie mit einem unfassbar wohligen Gefühl erfüllt. Nun kam ihr das höchst verdächtig vor – womöglich war dieses Gefühl ein Ersatz für etwas völlig anderes –, und doch war das Ausbleiben dieses ungewöhnlichen Glückszustands höchst schmerzhaft, als hätte ihr die ganze Freude beim Verlassen ihres Körpers ein Loch in die Haut gerissen. Sie konnte sich auf nichts anderes konzentrieren.
Sie tippte eine neue Nachricht:
Zoe, du Arsch, warum schreibst du mir nicht zurück? Sieht ganz so aus, als könnte ich ohne dich nicht leben, verdammt noch mal.
Sofort löschte sie die Nachricht, ohne sie abzuschicken, und startete einen neuen Anlauf:
Zoe. Wir müssen reden.
Das musste reichen. Sie drückte auf Senden.
Hätte sie sich in jener Nacht doch bloß anders verhalten. Es war nicht unbedingt so, dass sie bereute, was sie getan hatte, als sie sich von Zoes Kuss zurückgezogen hatte, das nicht – aber sie wünschte sich auf jeden Fall, dass sie das besser erklärt hätte. Sie fürchtete, dass Zoe den Grund für ihr Zögern missverstanden hatte.
Sie hätte zum Beispiel erklären sollen, dass die Tatsache, dass Zoe eine Frau war, nicht das Problem war. Alex war schon mit Frauen zusammen gewesen – mit vielen Frauen. Ziemlich früh hatte sie festgestellt, dass das Geschlecht eines Menschen nicht ausschlaggebend dafür war, ob sie ihn begehrte oder nicht.
Nein, das Problem war, dass Zoe eine Frau war, die mit Ruben Armand verheiratet war, und Alex Black vögelte nicht mit verheirateten Leuten. Nicht mehr.
In Alex’ Leben hatte es eine Zeit gegeben, in der sie es grundsätzlich für in Ordnung gehalten hatte, die dritte Partei bei einem Seitensprung zu sein. Natürlich war ihr immer bewusst gewesen, dass das kein besonders edles Verhalten war – aber ihrer damaligen Ansicht nach auch kein allzu schreckliches, wenn man es aus einer rein rationalen Perspektive betrachtete. Es gab deutlich Schlimmeres, als mit jemand Verheiratetem ins Bett zu steigen; es war ja nicht so, dass sie als Trickbetrügerin durch die Gegend zog, Minderjährige verführte oder in der Öffentlichkeit Crocs trug. Tatsache war: Wenn jemand herumvögeln wollte, würde er das vermutlich sowieso irgendwann tun, ganz unabhängig davon, ob Alex involviert war oder nicht. Wenn sie vorsichtig war und der Ehepartner oder die Ehepartnerin nichts von der Affäre erfuhr, konnten Alex und ihr Lover ein bisschen Spaß haben, ohne dass jemand ernsthaft zu Schaden kam. Unterm Strich führte das also zu mehr Glück in der Welt.
Allmählich änderte sich jedoch ihr Standpunkt. Zu oft war sie nicht vorsichtig genug gewesen, oder die Person, mit der sie schlief, hatte sich entschlossen, ihrem Partner alles zu gestehen, und Alex hatte sich mit den Konsequenzen herumschlagen müssen.
Beim letzten Mal, als das passiert war, hatte sie noch in London gelebt. Alex war nur am Rande beteiligt gewesen – jedenfalls hatte sie das gedacht. Ihre Affäre mit Omar war nur die letzte in einer Reihe seiner außerehelichen Liebeleien. Omar war ein hoch aufgeschossener Fernsehproduzent mit schönem kohlrabenschwarzem Haar, einer sanften Art und einem breiten, attraktiven Gesicht. Alex mochte ihn und schlief gern mit ihm, hatte aber kein Interesse an einer dauerhaften Beziehung. Leider hatte Omar das nicht so richtig begriffen – oder, falls doch, jedenfalls so getan, als ob er das nicht hätte. In den Monaten, nachdem seine Frau dahintergekommen war und ihn verlassen hatte, rief er Alex Tag und Nacht an.
»Alex, bitte, du musst herkommen«, sagte er eines Abends mit heiserer Stimme. Es war spät, und Alex wollte gerade ins Bett.
Bevor sie antwortete, biss sie sich zögernd auf dem Daumennagel herum.
»Ich muss morgen arbeiten und früh raus, Omar.«
»Alex. Ich kann nicht allein sein. Mein Leben zerbricht gerade.«
»Tut mir leid, Omar, aber ich glaube nicht, dass ich diejenige sein kann, die es für dich wieder zusammenklebt.«
»Ich weiß nicht, was ich tun soll. Es tut so weh. Bitte. Ich brauche dich, Alex.«
Sie rieb sich die Schläfen, um die ersten Vorboten einer Migräne abzuwehren.
»Hast du denn niemanden sonst, den du anrufen kannst?«
»Niemanden außer dich, wirklich niemanden.«
Wenn er diese spätnächtlichen Bitten äußerte, klang seine Stimme so bedürftig, dass Alex manchmal nachgab und sich ein Taxi zu seiner Wohnung nahm. Am Ende bereute sie das immer, denn den Großteil der Nacht verbrachte sie wach im gedämpften Licht seines Schlafzimmers im siebenundzwanzigsten Stock eines Wohnblocks und hörte sich sein endloses Leid an. Dabei legte Omar den Kopf in ihren Schoß und erwartete, dass sie ihm übers Haar strich, während er weinte und sich lang und breit darüber ausließ, was für ein Ungeheuer seine Ex-Frau war und wie sehr er sie immer noch liebte, und dann, irgendwann vor dem Morgengrauen, griff er nach oben und zog Alex’ Gesicht zu sich, und sie fühlte sich verpflichtet, ihn zu küssen und sich auf müden Mitleidssex mit diesem gebrochenen Mann einzulassen, der, manchmal sogar während er sie vögelte, zu schluchzen anfing. Das Ganze hatte etwas Romantisches an sich.
Er hatte etwas Hypnotisches, dieser Abgrund, in den er sie zerren wollte. Aber vor allem war es anstrengend.
In einer dieser Nächte, nachdem er endlich aufgehört hatte zu reden und zu weinen, nachdem die beiden gevögelt hatten und Omar eingeschlafen war, hatte Alex wach gelegen und aus dem Fenster auf die schimmernden Lichter unten in der Stadt geblickt. Sie hatte, wie ihr klar wurde, keinen Spaß. Es tat ihr leid, dass Omar litt, aber sie sah keine Notwendigkeit, mit ihm mitzuleiden. Er verlangte zu viel von ihr. Sie hatte mit ihm wie oft geschlafen, während er noch mit seiner Frau zusammen gewesen war? Vielleicht vier, fünf Mal? Und jetzt, Monate später, erwartete er von ihr, dass sie als eine Art Doula für seine Gefühle fungierte, um ihn durch seine schreckliche Scheidung zu begleiten? Das war sie ihm nicht schuldig. Eigentlich war sie ihm überhaupt nichts schuldig.
Als er neben ihr lag, sein Gesicht selbst im Schlaf feucht und jämmerlich, nahm sie vorsichtig ihr Handy vom Nachttisch und machte sich daran, ihn aus ihrem Leben zu löschen. Sie blockierte seine Nummer, leitete seine Mails in den Spam-Ordner um und entfernte ihn auf Social Media. Sie fühlte sich schlecht, sie wünschte, sie könnte netter sein, aber so bedürftig, wie er war, ließ er ihr keine andere Wahl. Wenn sie sich nicht schnell und vollständig von ihm löste, würde er sie nicht in Ruhe lassen. Er würde immer mehr und mehr von ihr wollen, bis nichts mehr für sie selbst übrig blieb.
Nie wieder, hatte sie sich geschworen, als sie aus seiner Wohnung schlich und leise die Tür hinter sich schloss, damit er sie nicht gehen hörte. Nie wieder lasse ich mich in so einen Mist reinziehen.
Seit Omar hatte sie ihr Versprechen gehalten. Sie hatte darauf geachtet, sich auf nichts Kompliziertes einzulassen, nichts, bei dem sie am Ende womöglich für das emotionale Leid eines anderen verantwortlich wäre. Und doch steckte sie nun hier. Sieben Jahre später. In dieser Situation. In einem riesigen beschissenen Schlamassel.
Nachdem Alex die Nachricht an Zoe abgeschickt hatte, schaltete sie ihr Handy aus und machte mit Ramone die längste Gassirunde seit Wochen. Sie ertrug es nicht, tatenlos herumzusitzen und auf eine Antwort zu warten, während sie spürte, wie sich mit jeder Sekunde, in der sie nichts von Zoe hörte, ihre Angst enger zog wie eine unsichtbare Schlinge. Mit großen Schritten ging sie durch die Straßen, während ihr die Lederschlaufe von Ramones Leine in die Haut schnitt. Aber es brachte nichts: Selbst mit ausgeschaltetem Handy, selbst mit Ramone, der sie vorwärtszerrte, konnte sie nicht aufhören, an Zoe zu denken.
Fünf Blocks von ihrer Wohnung entfernt blieb sie an einer Straßenecke stehen und schaltete das Handy wieder ein. Sie starrte auf den Bildschirm, und mit pochendem Herzen wartete sie darauf, dass sie wieder Empfang hatte. Aber als die Balken erschienen, war da nichts. Keine Nachrichten, keine Anrufe in Abwesenheit.
Die Fußgängerampel wechselte von Rot auf Grün. Sie steckte das Handy wieder ein und ging weiter.
Es war später Vormittag, als ihr Handy piepte. Alex war im Schlafzimmer, saß auf der Bettkante, starrte die Wand an und versuchte, genug Energie zum Arbeiten zusammenzukratzen. Sie spürte ein Ziehen im Bauch – aber die Nachricht war nicht von Zoe.
Hey Al, sorry, dass ich mich jetzt erst melde, was für ein Tag! Aber ich habe dir eine Drehgenehmigung für heute Abend besorgen können. xx L
Alex legte das Handy weg. Sie lehnte sich auf dem Bett zurück und drehte den Kopf nach links, um aus dem Fenster auf die Wolken zu sehen, die über den Häusern der Stadt durch den weiten Himmel zogen. Auf der anderen Seite des Betts lag Ramone erschöpft vom Spaziergang zu einer knochigen grauen Kugel zusammengerollt. Er winselte im Schlaf auf.
In den letzten drei Monaten war es mit Alex’ Doku nicht gut vorangegangen. Sie hatte versucht, das Material zusammenzuschneiden, war aber immer wieder auf das gleiche, unlösbare Problem gestoßen: Die Aktionen, die sie gefilmt hatte, waren für sich genommen nicht relevant genug, um die zweistündige Dokumentation zu rechtfertigen, die sie geplant hatte. Das Problem war zum Teil, dass die Future Earthlings nichts anderes machten als andere vergleichbare Gruppen überall auf der Welt – schlimmer noch, allmählich beschlich Alex das Gefühl, dass die Gruppe mit ihren Aktionen eigentlich nichts bewirkte. Die Politiker taten sie als lästig ab, und die Öffentlichkeit schien sie wie Sebastian Glup wahrzunehmen: als Horde alternativer Spinner.
Alex hatte gehofft, diese Wahrnehmung ändern zu können. Sie wollte die visionäre Energie einfangen, die Dana ausstrahlte, wenn sie über die Arbeit der Gruppe sprach, und den Mut dieser Menschen, die versuchten, den Massensuizid der Menschheit abzuwenden. Doch Alex’ Begeisterung für das Projekt schrumpfte fast ebenso rasch wie ihre Fördergelder. Ganz gleich, wie sie das Material an- und umordnete, Tatsache war: Es fehlte ein Höhepunkt, ein entscheidender Moment, um den herum sie den Film strukturieren konnte. Ihr fehlte ein Aufhänger.
Dann, vor ein paar Wochen, als Alex gerade ein paar Hintergrundeinstellungen drehte von den Gemeinschaftsbüros in der Lagerhalle in Collingwood, die die Earthlings gelegentlich nutzten, wandte sich das Gespräch einer neuen Aktion zu, die die Gruppe plante. Sie tauschten sich in diskreten, verschlüsselten Worten aus, aber es klang, als würden sie ein neues taktisches Vorgehen in Erwägung ziehen, das sie bislang noch nicht getestet hatten. Alex war mit ihrer Ausrüstung beschäftigt – und, ja, sie war gedanklich bei Zoe – und passte nicht richtig auf. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, dass sie davon sprachen, diese neue Strategie bei der Eröffnung von Glup Gardens auszuprobieren.
Alex spürte, wie sich ihr die Kehle zuschnürte. Sie hatte nicht gut reagiert, als Lorrie ihr zum ersten Mal von ihrem großen Projekt erzählt hatte: Sie konnte nicht fassen, dass ihre Freundin es tatsächlich moralisch für akzeptabel hielt, mit einem der schlimmsten Umweltsünder des Landes zusammenzuarbeiten. Jetzt aber wurde ihr bei dem Gedanken übel, dass irgend so eine Future-Earthlings-Aktion das größte Event in Lorries Karriere ruinieren könnte. Glup hatte es verdient, dass man ihm ans Bein pinkelte, keine Frage. Und Ruben vermutlich auch. Aber Lorrie nicht.
Alex ließ sich eine Ausrede einfallen, um früher zu gehen. Sie war sich nicht sicher, ob sie mehr darüber wissen wollte, was sich da anscheinend abspielen sollte, aber Dana hielt sie auf dem Weg zur Tür auf.
»Alex. Ich erzähl dir später Genaueres, aber ich wollte bloß sichergehen, dass du an der Glup-Gardens-Veranstaltung teilnehmen kannst? Das wird ein Riesending. Glaub mir, das Material willst du für deine Doku.«
»Ich weiß nicht, Dana. Ich habe da eine Art Interessenkonflikt.«
»Ein Konflikt? Wie meinst du das?«
»Ähm – meine Freundin Lorrie arbeitet für die Stadtverwaltung. Sie ist an diesem Dachgartenprojekt beteiligt. Ich denke, sie glaubt, die Grünflächen sind gut für die Stadt.«
»Ja, klar«, antwortete Dana, »Grünflächen auf Privatgebäuden, und Sebastian Glup hat die Fäden in der Hand. Das wird sicher super.«
»Ich meine, ich widerspreche dir ja nicht, Dana, aber Lorrie meinte …«
»Schon gut, Alex, ich muss nicht wissen, wie sie das vor dir rechtfertigt. Oder vor sich selbst.« Sie sah Alex skeptisch an. »Kann ich darauf vertrauen, dass du deine Freundin nicht warnst? Vor dem, was wir planen?«
»Natürlich kannst du mir vertrauen.«
»Okay, alles klar. Gut zu wissen, dass wir noch im Geschäft sind.«
»Aber was genau habt ihr denn vor?«
Dana schüttelte vehement den Kopf.
»Alex, Mäuschen, ich kann dir unmöglich noch mehr verraten! Du hast einen Interessenkonflikt, Schätzchen, das hast du gerade selbst gesagt. Dir davon zu erzählen, würde dich in eine heikle Lage bringen. Ehrlich, es ist für alle Beteiligten leichter, wenn du nicht weißt, was für einen ›Braten‹ ich da gerade in meiner ›Röhre‹ habe.«
Dana machte gerade eine Phase durch, in der sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit Anführungszeichen in die Luft malte, eine Angewohnheit, von der sie nicht abließ, obwohl Alex deutlich gemacht hatte, dass sie das als äußerst nervig empfand. (»Es tut mir ›leid‹, dass ich so ›nervig‹ bin, ›Alex‹«, antwortete sie jedes Mal, wenn Alex sie darauf hinwies.)
»Dana, ich glaube wirklich, dass es hilfreich wäre …«
»Wenn du keine Karten hast, kannst du sie auch nicht auf den Tisch legen.«
»Ich werde nicht …«
»Wenn du nicht weißt, dass eine Katze im Sack ist, kommst du auch nicht in Versuchung, sie rauszulassen.«
»Dana, würdest du bitte die Klappe halten? Ich weiß bereits, dass eine Katze im Sack ist, ich will nur wissen, was für eine.«
»Eine große Katze, Schätzchen. Eine tolle, große, wunderschöne Miezekatze. Und mehr musst du nicht wissen.«
Alex versuchte, sich keine Illusionen zu machen. Die Future Earthlings planten eine große Protestaktion, mit der sie, außer als Beobachterin, als Dokumentaristin, nichts zu tun hatte. Stattfinden würde die Aktion so oder so, ob sie nun dabei war oder nicht. Dana wollte zwar, dass Alex filmte, aber wie sich die Sache entwickelte, war nicht von Alex’ Anwesenheit abhängig.
Als Alex Lorrie gebeten hatte, ihr Zutritt zu verschaffen, um die Veranstaltung aufzunehmen, war ihr das sinnvoll erschienen. Seitdem hatte sie die Sache verdrängt und sich lieber nicht zu viele Gedanken darüber gemacht, was das bedeuten könnte. Aber jetzt, da Lorrie zugesagt hatte, war ihr schlecht.
Diese Glup-Gardens-Geschichte, die könnte sich für Alex natürlich als positiv erweisen. Sollte die Aktion tatsächlich so bahnbrechend sein, wie Dana behauptete, könnte sie die ganzen losen Fäden ihrer Doku zu einem schlüssigen Höhepunkt zusammenführen – sie könnte Alex helfen zu zeigen, warum die Arbeit der Future Earthlings so wichtig war. Immerhin war Sebastian Glup die perfekte Verkörperung all dessen, was in dem System, in dem sie lebten, falsch lief. Der Protest könnte ihr helfen, aufzuzeigen, warum Typen wie er nicht in der Lage sein sollten, sich moralische Absolution zu erkaufen, indem sie ein paar Kröten in ein Projekt wie Green Cities steckten – wahrscheinlich investierte Glup jährlich mehr in den Unterhalt seiner Privatjachtflotte. Wenn Alex ihre Doku so gut aufbaute, wie sie es sich erhoffte, wenn es ihr gelang, ihrer anfänglichen Vision gerecht zu werden, konnte sie vielleicht ein kleines Loch in die kollektive Ignoranz schlagen und mit ihrer Kraft als Einzelperson zu den gemeinschaftlichen Bemühungen beitragen, ihre Spezies auf einen weniger zerstörerischen Weg umzuleiten. Sie, Alex, würde Gutes tun. Das war nicht von der Hand zu weisen.
Aber warum fühlte sie sich dann im Moment nicht wie ein guter Mensch? Warum wurde sie das Gefühl nicht los, dass sie, wenn sie bei dieser Glup-Gardens-Sache mit den Future Earthlings unter einer Decke steckte, etwas Fragwürdiges, etwas ein bisschen Unehrenhaftes tat?
Natürlich war die Antwort auf diese Fragen nicht allzu schwer zu finden. Green Cities war Lorries Herzensprojekt. Es war ihr anscheinend wirklich wichtig; sie hatte Alex damals mit so großer Begeisterung davon erzählt. Wenn die Future Earthlings etwas planten, um die an Green Cities Beteiligten zu demütigen, dann würde das auch Lorrie treffen – so viel stand fest.
Alex nahm ihr Handy und wählte.
»Buongiorno! Konnichiwa!«
»Dana? Hi, ich bin’s, Alex.«
»Alex, Schätzchen! Wie geht’s dir? Ich hoffe, du rufst an, um mir zu sagen, dass du Karten für die große Show heute Abend besorgt hast.«
»Also, wenn du Glup Gardens meinst, dann ja, hab ich wohl. Meine Freundin hat mir eine Dreherlaubnis besorgt.«
Dana kreischte auf.
»Wunderbare, fantastische Neuigkeiten. Ich verspreche dir, die Vorstellung wird so gut, du wirst es nicht bereuen. Natürlich hatte ich schon für Ersatzkameraleute gesorgt – aber wir reden hier von heimlichen Aufnahmen auf mickrigen kleinen Handykameras, nicht von dem großen, schönen Ding, das du so gern mit dir herumschleppst.«
Dana sprach zwar auf ihre übliche großspurige Art, aber in ihrer Stimme lag eine Anspannung, die Alex neu war.
»Also, eigentlich, Dana«, sagte Alex zögernd, weil sie sich nicht ganz sicher war, wie Dana auf das, was sie ihr zu sagen hatte, reagieren würde. »Ich … ich wollte nur mal hören, ob die Möglichkeit besteht, diese Protestaktion vielleicht … zu verschieben.«
»Verschieben? Wie bitte?«
»Auf eine andere Veranstaltung.«
»Was redest du da, Alex? Das Event heute Abend wird die große Sensation! Es ist schon alles geplant!«
»Ja, ich weiß, aber … muss es denn unbedingt heute Abend sein? Bei Glup Gardens, meine ich? Könntest du nicht … was auch immer du vorhast … bei einem anderen Auftritt von Glup machen?«
Längeres Schweigen.
»Alex, Alex, Alex. Sag mir bloß nicht, dass du deiner Freundin von den Plänen erzählt hast.«
»Was? Nein, Dana, ich habe nichts gesagt. Ich habe nur das Gefühl, dass … meine Freundin Lorrie, sie hat diese Glup-Gardens-Sache geplant. Ich mache mir bloß Sorgen, dass der Protest auf sie zurückfällt. Vor allem, weil sie dafür gesorgt hat, dass ich dabei sein kann. Wenn ihre Vorgesetzten herausfinden, dass ich mit dir in Verbindung stehe, denken die vielleicht, dass sie daran … beteiligt ist.«
»Oh! Ich verstehe! Du meine Güte. Das ist so lieb von dir, Alex, dass du an deine Freundin denkst.«
»Sie ist ein guter Mensch, weißt du. Sie war wirklich nett zu mir, in ein paar ziemlich düsteren Zeiten in meinem Leben. Ich will nicht – ich will einfach nicht, dass sie in etwas reingezogen wird, das nichts mit ihr zu tun hat.«
Dana summte nachdenklich.
»Weißt du, ich würde dir wirklich gern helfen, Alex. Aber hier geht es um etwas Größeres als um deine Freundin. Ich meine, größer geht kaum. Es geht im wahrsten Sinne des Wortes um die Zukunft der Menschheit auf diesem Planeten.«
Ramone bellte im Schlaf auf. Noch immer mit dem Handy in der Hand verlagerte Alex das Gewicht und beugte sich über die Bettkante, um ihm ein beruhigendes Ohrenkraulen zukommen zu lassen.
»Hör zu, ich weiß, Dana. Mir ist klar, dass das wichtig ist. Aber der Planet wird auch morgen noch am Arsch sein, ob du diese Aktion heute Abend nun durchziehst oder nicht. Ist ja nicht so, als würde alles von dieser einen Veranstaltung abhängen. Das ist nur eine Kleinigkeit.«
Dana schnalzte streng mit der Zunge, als wäre Alex ein Kind, das sie enttäuscht hatte.
»Ach, Alex. Das musst du doch verstehen. Man findet immer einen Grund, etwas nicht zu tun.«
»Ich sage ja nicht, dass du es gar nicht machen sollst, Dana. Nur vielleicht – nicht heute Abend.«
Ein paar Sekunden lang schwieg Dana. Als sie dann etwas sagte, war ihre Stimme monoton.
»Es tut mir wirklich leid, Alex. Aber wenn ich jedes Mal eine Aktion abblasen würde, sobald es ein paar Komplikationen gibt, dann würden wir doch nie etwas erreichen. Nichts auf der Welt ist leichter, als einen Grund zu finden, um etwas nicht zu tun. Der einzige Grund, warum wir überhaupt in diesem Schlamassel stecken, ist doch, dass alle nur herumsitzen, der Apokalypse zusehen und sich Ausreden einfallen lassen, warum wir nichts dagegen unternehmen können. Ich meine, uns allen fällt ein Grund ein, warum nicht wir diejenigen sein können, die die Ärmel hochkrempeln oder ein Opfer bringen, sondern warum jemand anderes das für uns tun muss.«
»Dana –«
»Alex, Mäuschen, denk doch mal nach.« Danas Stimme klang wieder normaler. »Dir ist schon klar, wenn ich das Ganze auf einen anderen Abend, auf eine andere Veranstaltung verschiebe, dann würde das wahrscheinlich nur bedeuten, dass statt deiner Freundin eben jemand anderes angeschmiert ist. Willst du damit wirklich dein hübsches Gewissen belasten?«
»Äh, ja, mir wäre es wohl lieber, damit mein Gewissen zu belasten, als meine beste Freundin in die Pfanne zu hauen.«
»Meine Güte, Alex, sei doch nicht so dramatisch! Du weißt doch, in dieser Beziehung bin ich die Dramaqueen. Du haust deine beste Freundin nicht in die Pfanne. Du filmst doch nur die Veranstaltung. Und du weißt ja gar nicht genau, was wir geplant haben, also gibt es auch nichts, was du ihr erzählen könntest.«
Alex rollte sich auf den Rücken. Dana ließ sich nicht umstimmen – so viel war klar. Nichts würde sie davon überzeugen, dass es das Richtige war, die Protestaktion auf eine andere Veranstaltung zu verschieben. Die bittere Wahrheit war, dass Alex sich nicht einmal selbst voll und ganz davon überzeugen konnte.
Sie drehte den Kopf, sah erneut zu den grauen Wolkenfetzen, die langsam durch den Himmel zogen, und seufzte kapitulierend.
»Na gut, Dana. Dann sehen wir uns wohl heute Abend.«
Eine Stunde später schwebte Alex’ Daumen gerade über Lorries Nummer, als eine Nachricht ankam. Oben in der blassgrauen Textblase erschien Zoes Name.
Reflexartig schleuderte Alex das Handy weg, als hätte sie sich die Finger verbrannt. Eine Welle von Emotionen schwappte über sie, eine so unangenehme, wilde Mischung von Gefühlen, dass es schwer war, ein einzelnes herauszufiltern und zu benennen.
Langsam atmete sie ein und aus. Nach sechs tiefen Atemzügen setzte sie sich auf und beugte sich vor, um ihr Handy vom Ende des Betts aufzuheben. Sie zwang sich, Zoes Nachricht zu lesen.
Alex. Tut mir leid, dass ich mich nicht gemeldet habe. Ich habe Zeit zum Nachdenken gebraucht. Kann ich zu dir kommen?
Alex las die Nachricht zweimal und dann noch einmal langsam, um sicherzugehen, nichts übersehen zu haben. Dann legte sie das Handy weg und veränderte ihre Position so, dass sie sich mit den Handflächen auf dem Betttuch abstützte. Sie rieb über das Leinen und konzentrierte sich auf das dabei entstehende Gefühl auf der Haut.
Sie versuchte, eine Bestandsaufnahme zu machen. Was sie da empfand, war das Freude? Reue im Voraus? Sie ertappte sich dabei, sich Ruben vorzustellen, wie er an dem Abend, als Alex bei ihnen zum Essen eingeladen war, die Lippen auf Zoes Handrücken gedrückt hatte.
Nein. Scheiß drauf. An Ruben wollte sie jetzt nicht denken. Sondern an Zoe, an die Linie ihres Kiefers, an ihre muskulösen Schultern.
Alex nahm das Handy.
Ich bin zu Hause. Wann kannst du hier sein?
Die Stunde, bevor Zoe kam, verbrachte Alex damit, ihre Leggings gegen ein Kleid zu tauschen, dann das Kleid gegen Jeans und Tanktop, dann das Tanktop gegen ein lockeres weißes Hemd aus einem glatten Material, das sich kühl auf der Haut anfühlte. Sie knöpfte das Hemd bis zum Hals zu und öffnete dann die beiden oberen Knöpfe.
Sie räumte die Wohnung auf. Sie rückte die Kissen auf der Couch zurecht. Sie ging ins Bad und betrachtete sich lange im Spiegel. Sie band sich die Haare zu einem hohen Pferdeschwanz zusammen. Sie legte Musik auf, dann schaltete sie die Musik aus. Sie rückte noch einmal die Kissen auf der Couch zurecht. »Wie sehe ich aus, Ramone?«, sagte sie zu dem Hund, der sie mit fragendem Blick beobachtete. Er bellte auf, schroff und unverbindlich.
Es klingelte an der Tür.
Sie zögerte, bevor sie Zoe hereinließ. Sie war sich nicht sicher, ob sie sie wie sonst mit Wangenkuss begrüßen sollte oder ob das diesmal ein anderes Signal senden würde – eines, von dem sie immer noch nicht wusste, ob sie es überhaupt senden wollte.
Am Ende spielte es keine Rolle: Sie öffnete die Tür, und sie standen da und sahen sich an, bis Zoe einen Schritt nach vorn machte und Alex fest in die Arme schloss. Sie roch nach Torf, wie der Boden eines Waldes in den Subtropen.
Sie lösten sich voneinander.
»Dieses Gesicht zu sehen, das habe ich vermisst«, sagte Zoe und legte Alex eine Hand an die Wange.
Vor dem letzten Treffen hatten sie einander kaum je berührt, abgesehen von den flüchtigen Küsschen zur Begrüßung. Bei der Vertrautheit, mit der Zoe sie jetzt behandelte, eine Hand an ihrem Gesicht, als wären sie bereits ein Liebespaar, fühlte sich Alex auf eine Art unwohl, die nicht gänzlich unangenehm war.
Alex trat einen Schritt zurück, sodass sie sich nicht mehr berührten. Zoe folgte ihr hinein.
Noch nie hatte Alex Zoe zu sich nach Hause eingeladen. Meistens hatten sie telefoniert oder sich in Cafés oder Bars getroffen. Jetzt führte sie Zoe in ihre kleine Küche und bot ihr einen Kaffee an. An der Kochinsel setzte Zoe sich auf einen Drahthocker. Alex, die mit dem Rücken zu ihr stand, ließ sich Zeit, den Kaffeesatz auszuleeren, die Kanne auszuspülen und frischen Kaffee einzufüllen. Sie spürte Zoes Anwesenheit hinter sich und konnte keinen klaren Gedanken fassen.
Als die Getränke fertig waren, setzte sie sich neben sie an die Kochinsel, sodass ihre Körper parallel zueinander waren. Sie hatte ein Kribbeln im Bauch, als tummelte sich darin ein Moskitoschwarm. Ihre Glieder fühlten sich kalt an. In einem Versuch, sich zu beruhigen, rieb sie sich über den Unterarm.
Ramone, der von der Couch geklettert war, als es an der Tür geklingelt hatte, legte Zoe seine lange graue Schnauze aufs Knie.
»Ramone, Ramone, qui c’est le bon chien?«, murmelte Zoe und kraulte ihn am Kinn.
»Normalerweise ist er Fremden gegenüber schüchtern«, sagte Alex, die den beiden zusah. »Er mag dich wohl.«
»Mich mögen alle Hunde«, sagte Zoe und kraulte Ramone an den seidigen Ohren. »Ich bin unwiderstehlich.«
Alex widmete sich wieder ihrem Kaffee. Sie rührte einen Löffel Zucker hinein.
»Also, du wolltest reden«, sagte sie.
Zoe zog die Augenbrauen hoch. »Direkt zur Sache, was?«
Alex zuckte die Achseln. »Nicht, wenn du nicht willst.«
Beide nippten an ihrem Kaffee, und es entstand eine Pause. Diese Unbeholfenheit, die war schmerzhaft. Sie waren – bis vor zwei Wochen – so locker im Umgang miteinander gewesen.
»Ein bisschen komisch ist sie schon, diese Situation, nicht wahr?«, sagte Zoe.
»Kann man wohl sagen.«
Alex spürte Zoes Blick auf sich, konnte sich aber nicht dazu durchringen, ihn zu erwidern.
»Gut siehst du aus«, sagte Zoe.
»Hm. Besonders gut fühle ich mich nicht.«
Zoe nahm noch einen Schluck Kaffee, dann stellte sie die Tasse mit einem lauten Klong auf der Arbeitsplatte ab. Ramone, der sich gerade neben dem Barhocker zusammengerollt hatte, hob den Kopf und bellte leise auf.
»Tut mir leid, dass ich nicht auf deine Nachrichten reagiert habe«, sagte Zoe langsam. »Ich habe an dich gedacht. Ich hatte gehofft, wenn ich nur lange genug nachdenke, finde ich eine Lösung, wie ich damit umgehen soll. Ich wollte mir sicher sein, dass ich das Richtige tue.«
Alex legte sich die Hände an die Wangen. Von der Tasse waren ihre Handflächen warm, was sich auf der kühlen Haut angenehm anfühlte.
»Und bist du dir jetzt sicher?«, fragte sie und versuchte, möglichst beiläufig zu klingen.
Zoe drehte ihren Hocker so weit zu Alex, dass sich ihre Knie berührten. Alex betrachtete die dichten Wimpern, den breiten Mund, die langen Finger. Zoe wirkte aufgeregt, in ihren Augen funkelte eine neue Art von Energie, eine Erregtheit, die Alex noch nie an ihr gesehen hatte.
»Ich war ein bisschen angetrunken, weißt du, als ich versucht habe, dich zu küssen«, sagte Zoe.
»Ja.« Alex wartete einen Moment. »Aber jetzt bist du das nicht.«
»Fühlt sich aber fast so an«, sagte Zoe und legte auf der Kochinsel ihre Hand auf Alex’ Hand. Ihre Haut fühlte sich heiß an.
»Woher weißt du, dass das das Richtige ist?«, fragte Alex und sah auf die Hände.
»Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass man manchmal nicht alles so genau wissen muss. Man braucht sich nicht sicher zu sein. Manchmal muss man einfach handeln.«
Alex versuchte, sich auf den harten Stein der Arbeitsplatte unter ihrer Handfläche zu konzentrieren. »Okay, aber meinst du nicht, dass es manchmal besser wäre, nicht zu handeln? Manchmal kann eine Tat dein Leben ruinieren.«
»Nein. Es sind die Sachen, die du nicht tust, die dein Leben ruinieren.«
Alex drehte sich zu ihr hin und war sich unschlüssig, ob sie Zoe zustimmte. Es klang gut, es klang richtig – und doch wusste sie nicht, ob da was dran war. Oft genug hatte Alex ihr Leben ruiniert, und zwar immer durch Handeln, nie durch Zurückhaltung.
Sie musste etwas sagen.
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich das kann, Zoe. Ob ich das Ruben antun kann.« In der Hoffnung, entschlossener zu wirken, als sie sich fühlte, hob sie das Kinn und zog die Schultern zurück. »Es ist nicht so, dass ich nicht will. Aber ich … ich denke, ich versuche einfach, ein besserer Mensch zu sein.«
Zoe rückte näher.
»Schon okay, Alex«, sagte sie sanft. »Ich habe mit Ruben darüber gesprochen, was vor sich geht.«
Ruckartig wich Alex ein klein wenig zurück. Damit hatte sie nicht gerechnet.
»Was? Du meinst, du hast … über uns gesprochen?«
Zoe nickte.
»Schon okay, Alex«, sagte sie erneut.
Diesmal, als Zoe Alex die Hand in den Nacken legte – diesmal, als Zoe sich vorbeugte und ihren Mund an Alex’ Mund führte, als sie mit ihrer Zunge Alex’ Lippen berührte –, diesmal wich Alex nicht zurück.
Hinterher, nachdem sie Zoe zu ihrem Bett geführt hatte, nachdem sie ihre Körper einander hatten erkunden lassen, überkam Alex eine wundersame Ruhe. So lange, wurde ihr klar, hatte sie versucht, nicht zu tun, was sie gerade getan hatten. Nun, da es endlich geschehen war, konnte sie sich entspannen. Sie legte den Arm über Zoes Bauch und schmiegte den Kopf an ihre Schulter. Sie fühlte sich so warm, so glücklich; Zoe fühlte sich so nah an. Nichts wünschte sie sich sehnlicher, als einen Moment lang auszuruhen und dann alles noch einmal zu wiederholen. Bis ganz zum Orgasmus hatte sie es nicht geschafft – der Sex war gut gewesen, vielleicht sogar spitze, aber ihre Nervosität hatte sie ausgebremst, sie hatte es nicht ganz geschafft, abzuschalten –, und ihr Körper lechzte nach mehr.
Doch Zoe ließ sie nicht ausruhen. Sie zog Alex an sich, küsste sie auf den Kopf und zog dann den Arm unter ihr weg, damit sie sich zur Bettkante drehen konnte. Sie holte ihr Handy aus ihrer Umhängetasche, dann lehnte sie sich ans Kopfteil des Betts. Alex musterte ihr Profil, während Zoe ihre Nachrichten las.
»Hast du damit gerechnet, als du hergekommen bist?«, fragte sie.
Zoe grinste sie von der Seite an. »Ja, natürlich.«
Alex lachte. Zoe war so selbstsicher. »Aber beim letzten Mal habe ich es nicht zugelassen.«
»Nein. Aber ich wusste, dass du es wolltest«, sagte Zoe. »Du hast nicht gerade die Unbeteiligte gespielt, Darling.«
Eine heiße Welle der Scham schwappte über Alex. War ihr Verlangen so offensichtlich gewesen? Sie rollte sich auf den Rücken, damit sie Zoe nicht ansehen musste. Warum fühlte es sich so demütigend an, als jemand gesehen zu werden, der sein Gegenüber begehrte, selbst wenn dieses Begehren ganz klar auf Gegenseitigkeit beruhte?
Sie schloss die Augen. Ein Bild von Ruben versuchte, sich in ihre Gedanken einzuschleichen. Sie fragte sich, ob Zoe auch an ihn dachte – wie könnte sie das auch nicht? Und doch war sie hier, mit Alex. Sie hatte sich entschieden, herzukommen.
Sie spürte, dass Zoe sich zu ihr beugte und sie sanft auf die Stirn küsste.
»Es ist okay«, sagte sie, ihr Gesicht über Alex’. »Ich wollte es auch.«
Alex öffnete die Augen. Sie konnte nicht fassen, wie schön Zoe aussah mit ihren feuchten Haaren und dem vom Sex geröteten Mund. Sie wollte gerade nach oben greifen, um sie zu küssen, um noch einmal loszulegen – aber plötzlich drehte Zoe sich weg.
»Gott, ich bin am Verhungern«, sagte sie und griff wieder nach ihrem Handy. »Nach dem Vögeln bin ich immer so hungrig.«
»Kann ich dir was zu essen machen?«, fragte Alex und hoffte, sie würde ablehnen. Sie war noch nicht bereit, das Bett zu verlassen – und in der Wohnung gab es sowieso nichts Essbares.
»Tja, also, tut mir echt leid, aber eigentlich muss ich los.«
»Jetzt? Kannst du nicht noch ein bisschen bleiben?« Alex widerte es an, wie unverhohlen liebesbedürftig ihre Stimme klang.
»Tut mir leid, ich kann wirklich nicht.«
»Aber meinst du nicht, wir sollten reden? Um herauszufinden, was wir hier machen?«
Zoe nahm ihre Hand und drückte sie fest. »Ich weiß. Du hast recht. Und das werden wir auch. Aber ich muss mich für heute Abend fertig machen. Eine Veranstaltung, für Rubens Arbeit. Die darf ich nicht verpassen.«
Sie schwang die Beine über die Bettkante und fing an, sich anzuziehen. Immer noch umgab sie diese aufgewühlte Energie, die Alex vorhin schon wahrgenommen hatte. Alex hatte gedacht, sie sei der Grund dafür gewesen, aber nun fragte sie sich, ob Zoe noch etwas beschäftigte, etwas ganz anderes.
»Gehst du zur Eröffnung der Glup Gardens?«
Zoe sah sie stirnrunzelnd an.
»Ja, das tue ich tatsächlich. Woher weißt du das?«
»Ach, na ja, ich habe mir schon gedacht, dass Ruben hingeht, und vermutet, dass er dich mitnimmt. Ich werde auch da sein.«
Zoe, die gerade ihr Hemd halb zugeknöpft hatte, hielt inne.
»Das halte ich für keine gute Idee, Alex. Ich meine, wie du gesagt hast, Ruben wird da sein, und obwohl er, na ja, hiermit einverstanden ist – mit uns –, ist es ein bisschen kompliziert.«
»Ich weiß, ich weiß, eigentlich ist das der Grund, warum ich dir heute Morgen eine Nachricht geschickt habe, weil ich mir schon dachte, dass es peinlich werden könnte. Aber ich muss da hin, weil ich Glups Rede für meine Doku filme, und …« Alex unterbrach sich mitten im Satz, unsicher, wie sie das erklären sollte. Die Future Earthlings und ihre geplante Aktion konnte sie ja schlecht erwähnen. Immerhin arbeitete Zoes Mann für Glup – sie war in dieser Situation also nicht gerade unvoreingenommen. »Ich will Lorrie unterstützen«, beendete sie den Satz lahm.
»Deine Freundin, die mal mit Ruben zusammen war?«
»Sie arbeitet für die Stadtverwaltung, weißt du? Ruben hat sie mit Glup in Kontakt gebracht. Das ist der einzige Grund, warum ich mich bei Ruben gemeldet habe – weil ich Angst hatte, dass er ihr von etwas, das, ähm, vor zwanzig Jahren passiert ist, erzählen würde, etwas, wovon Lorrie nichts weiß. Ich wollte nicht, dass er grundlos alte Geschichten aufrührt.«
»O ja. Über das alles weiß ich Bescheid.« Zoe lachte kurz auf. »Ruben hat mir erzählt, dass sie was mit diesen Glup Gardens zu tun hat. Ich würde sie gern kennenlernen.«
Inzwischen war sie vollständig angezogen. Mit verschränkten Armen und heruntergezogenem Mundwinkel drehte sie sich zu Alex. »Also gut. Ich geh jetzt besser.«
Bevor Zoe die Wohnung verließ, legte Alex ihr in der Tür die Arme um die Taille und küsste sie ein letztes Mal. Der Form halber erwiderte Zoe den Kuss und zog sich dann zurück. Sie hielt Alex’ Gesicht zwischen den Händen.
»Alex, ich glaube wirklich, es wäre besser, wenn du heute Abend nicht kommst. Bitte denk darüber nach, ob es eine andere Möglichkeit gibt. Sonst wird es schwierig für alle Beteiligten.«
Alex zuckte entschuldigend die Achseln.
»Tut mir leid, Zoe. Aber ich muss da hin.«
Zoe ließ die Hände sinken.
»Okay, Alex.« Sie seufzte. »Das ist dann wohl deine Entscheidung.«