TEIL 5

Lorrie

Nachdem Lorrie Philomenas Büro verlassen hatte, saß sie eine Stunde lang an ihrem Schreibtisch und tat, als würde sie arbeiten. Als Erstes öffnete sie die Tabelle mit der Gästeliste für die Veranstaltung am Abend, fügte Alex’ Namen hinzu und mailte sie an Glups Eventmanager. Was solls, warum auch nicht? Sie schickte Alex eine SMS, um sie wissen zu lassen, dass sie dabei war.

Dann öffnete sie ein Jobportal und scrollte durch eine Reihe von Stellenangeboten, für die sie nicht im Entferntesten qualifiziert war. Dann öffnete sie eine Reise-Website und sah sich Flugpreise nach Südamerika an. Sie hatte schon immer in Patagonien wandern gehen wollen. Dann loggte sie sich bei eBay ein und bestellte ein handgefertigtes Katzenspielzeug aus Japan und einen Secondhand-Kaftan, der ihr vermutlich nicht passen würde, bei einem osteuropäischen Vintage-Händler. Dann öffnete sie Facebook und ließ wahllos eine Reihe kurzer Videos in ihre Augäpfel eindringen (ein niesender Panda, ein Stand-up-Comedian, der sich über seine Frau beklagte, eine Gruppe Teenagerjungs, die perfekt synchron einen komplizierten Tanz aufführten). Dann schloss sie das Browserfenster und sah zu, wie auf der Digitaluhr in der Ecke ihres Bildschirms die Minuten verstrichen.

Als sie es nicht mehr aushielt, stand sie auf, murmelte ihren Teamkollegen etwas von wegen früher Mittagspause zu und machte sich auf den Weg zu den Aufzügen. Gefühlt brauchte der Lift noch länger als sonst und hielt in so gut wie jedem Stockwerk. Überall stiegen Leute ein und aus, plauderten miteinander und führten den belanglosesten Small Talk, den Lorrie je gehört hatte, als gäbe es nichts außer Wetter und Sport. Lorrie hielt den Kopf gesenkt und starrte ausdruckslos aufs Handy. Endlich erreichten sie das Erdgeschoss, und Lorrie verließ eilig den Aufzug, durchquerte mit großen Schritten das Foyer und trat auf die Straße hinaus in die Freiheit.

Draußen auf dem Gehweg blieb sie stehen. Heutzutage wirkte das Stadtzentrum düster, fremd, nicht mehr wie die Stadt, die Lorrie aus ihrer Kindheit kannte. Charmante alte Gebäude waren abgerissen und durch neue, gigantische Bürotürme ersetzt worden. Die meisten Geschäfte und Cafés, in die sie früher gegangen war, hatten geschlossen, und an ihre Stelle waren neue, unbekannte Unternehmen getreten, die quasi im Sturzflug die Nester ihrer toten Vorgänger in Beschlag genommen hatten. In letzter Zeit hatten selbst die neuen Geschäfte zu kämpfen, und in den Schaufenstern wimmelte es nur so von Zu-vermieten-Schildern.

Heute passte die bedrückende Atmosphäre zu ihrer Stimmung. Sie fühlte sich verstört, womöglich sogar gefährlich, wie ein Bär, der aus seinem Zoogehege ausgebrochen war. In Dauerschleife ließ sie das Meeting mit Philomena Revue passieren, was Philomena zu ihr gesagt hatte, was sie geantwortet hatte.

Sie musste, das war ihr klar, jeglichen Gedanken daran verdrängen, sonst bestand das erhebliche Risiko, dass sie wieder anfing zu weinen. Sie setzte ihre Kopfhörer auf und suchte auf Spotify nach Songs mit dem Wort »fuck« im Titel. Wie sich herausstellte, traf das auf eine Menge Songs zu.

Zu einem fröhlichen Lied, in dem es um einen Typen ging, der seiner untreuen Freundin sagte: Go fuck yourself, marschierte sie die Straße hinunter, wobei sie ihre Schritte genau im Takt setzte, verstohlen mit der Hüfte wippte und die Arme beim Gehen ein bisschen mehr als nötig schwingen ließ. In den letzten Jahren hatte sie diese Form des heimlichen Straßentanzens perfektioniert, weil sie sich zu alt und zu dick fühlte, um an einem eigentlich für diesen Zweck vorgesehenen Ort tanzen zu gehen. Es war subtil genug, dass es niemandem auffiel; niemand konnte sie als tragisch oder verrückt bezeichnen oder sich über ihren großen Körper lustig machen, der sich immer noch für geschmeidig hielt.

Diesen Aspekt des modernen Lebens liebte Lorrie – wie ihr dank technologischem Fortschritt rund um die Uhr ein persönlicher Nachtclub geboten wurde, der nur in ihren eigenen Ohren existierte. Natürlich waren Streaming-Dienste nicht perfekt – eine ganze Liste an Problemen drängte sich ja geradezu auf (Unterbezahlung der Künstler, Entwertung kreativer Arbeit, Datenschutzverletzungen, manipulative Algorithmen usw. usf.) –, aber, Scheiße, diese ganze Musik zur Verfügung zu haben, die zu jedem beliebigen Zeitpunkt in ihr Gehirn gepumpt werden konnte, war unglaublich, eine gesellschaftliche Errungenschaft, vergleichbar mit dem Bau der Pyramiden oder der Erfindung von Toilettenspülungen.

Manchmal vermisste sie schon auch echte Clubs. Was sie nicht vermisste, waren die klebrigen Böden, grapschenden Hände und überteuerten Getränke, aber sie vermisste die selbstzerstörerische Freiheit, die damit einherging, sich mit einer Masse von Fremden endlos auf einer Tanzfläche zu bewegen. Als sie jünger und dünner gewesen war, vor den Kindern, war sie manchmal bis zum Morgengrauen in ihrem Lieblingsclub geblieben, bis die Bar dichtmachte und die Musik stoppte. Jedes Mal hatte sie vorgehabt, früher zu gehen, aber immer wieder zog sie der nächste unwiderstehliche Beat zurück auf die Tanzfläche, bis es plötzlich sechs Uhr morgens war, der Club schloss und sie benommen und desorientiert wie jemand, der aus einer tiefen Hypnose erwachte, in den hellen, schmutzigen Morgen hinausbefördert wurde.

Während sie klammheimlich die Straße entlangtanzte, wurde ihr bewusst, dass sie durch den Teil der Stadt spazierte, der vor ein paar Jahren Schauplatz einer Massentragödie gewesen war: Ein Auto war mit hoher Geschwindigkeit durch die Straße gerast, sechs Tote, mehrere Verletzte. Seitdem konnte Lorrie nicht mehr durch diese breite, mit Schuhgeschäften, 7-Elevens und Kaufhäusern gesäumte Fußgängerzone gehen, ohne ans Sterben zu denken.

Jeden Tag kümmerten sich Menschen wie sie um ihre eigenen Angelegenheiten, dachten, das sei bloß ein stinknormaler Tag in ihrem frustrierenden oder schrecklichen oder wunderbaren Leben, und dann, puff, waren sie tot. Herzinfarkt, plötzlicher Schlaganfall, Autounfall, Erdbeben, Ast, Schlangenbiss, Mord unter Eheleuten, Serienmörder, zufällige Messerstecherei, Terroranschlag, Motorschaden, Busunfall, Hausbrand, Salmonellen, Brückeneinsturz, Erdloch, Hurrikan, Monsterwelle, Stromschlag, Aufzugsdefekt, Bienenstich, Ausrutschen in der Dusche, Leck in der Heizung, Brandungsrückstrom, verpfuschte Entführung, Kunstfehler, wackeliger Snackautomat, Sturz von der Leiter, Blitzschlag, Ersticken, Aneurysma, versehentliche Überdosis, schlecht gewarteter Freizeitpark: So ziemlich alles konnte einen zur Strecke bringen.

Als junge Frau hatte sich Lorrie nie groß Gedanken über ihren Tod gemacht. Warum auch? Der erwartete uns sowieso alle. Doch seit den Kindern hatte sich ihre Sichtweise geändert. Jetzt machte sie sich Sorgen, wie die Kinder zurechtkommen würden, wie Paul es verkraften würde, falls sie starb. Jedes Mal, wenn sie an einer stark befahrenen Straße entlangging, malte sie sich aus, wie sie über die eigenen Füße stolperte und mit lächerlich wedelnden Armen in den Verkehr stürzte. Beim Autofahren stellte sie sich vor, wie ein Sattelschlepper bei Rot über die Ampel fuhr und sie unter seinen riesigen Rädern zerquetschte. Wenn sie ein Buch las, dachte sie manchmal plötzlich an ein geplatztes Blutgefäß, Hirntod, Paul und die Kinder, die ihren Körper, der keine Reaktionen mehr zeigte, verzweifelt mit Küssen übersäten, bevor sie die lebenserhaltende Maschine abschalteten.

Als sie hoch zu den eleganten Neunzehntes-Jahrhundert-Fassaden der Gebäude blickte, die sich über die grobe Hässlichkeit der Straße erhoben, fiel ihr ein, dass sie Paul sagen musste, er dürfe sich ohne Schuldgefühle jemand anderen suchen, sollte sie jemals ins Gras beißen. Das machte ihr nichts aus: Sie würde sich das für ihn wünschen, solange seine neue Frau die Kinder liebte.

Lorries Pläne für Pauls neue Partnerin wurden jäh von einer Hand unterbrochen, die aus dem Nichts hervorschoss und aggressiv vor ihrem Gesicht herumfuchtelte. Sie stieß einen kurzen Schrei aus, sprang zur Seite, stolperte in den Rinnstein, wobei sie das Gleichgewicht verlor und den Arm, der an der fuchtelnden Hand hing, gerade noch rechtzeitig zu fassen bekam, um sich vor einem vorbeifahrenden Taxi in Sicherheit zu bringen.

Ach du Scheiße, hatte sie soeben ihre eigene Nahtoderfahrung manifestiert? Meine Fresse.

Die Hand, die sie erschreckt hatte, und der Arm, der ihr das Leben gerettet hatte, hingen an Ivan. Sie ließ ihn los und trat einen Schritt zurück. Noch immer spürte sie das Adrenalin durch sich pulsieren.

»Himmel, Ivan, du hast mich zu Tode erschreckt.«

»Hast du mich nicht rufen hören?«

»Ich hab Musik gehört, du Trottel. Hast du meine Kopfhörer nicht gesehen? Echt ey. Wie auch immer, hi! Schön, dich wiederzusehen!«

Er musterte sie stirnrunzelnd.

»Ist bei dir, äh, alles okay? Du siehst … irgendwie … verrückt aus.«

»Wow. Danke. Also, wenn du es unbedingt wissen willst – die Geschichte ist kurz und langweilig. Ich hatte mein Meeting mit Philomena. Wie sich herausgestellt hat, geben die Harry Mercado die Teamleiterstelle.«

»Harry Mercado? Willst du mich verarschen?«, sagte Ivan und verzog angeekelt das Gesicht. »Der Junge ist die reinste Stepford-Frau.«

Lorrie lachte, dann stieß sie ein Keuchen aus, das ein Schluchzen zu werden drohte – Gott, nicht schon wieder.

»Tja, was bin ich froh, wieder einmal bestätigt zu bekommen, dass der Laden von einem Haufen Vollpfosten geleitet wird«, sagte Ivan und tätschelte ihr tröstend den Oberarm. »Na komm. Ich geb dir einen aus.«

Lorrie zögerte. Sie sollte wirklich zurück zur Arbeit. Den ganzen Vormittag über hatte sie nichts erledigt, und sie musste immer noch ein paar Vorbereitungen für das Glup-Gardens-Event treffen. Inzwischen war es beinahe ein Uhr, und die gesamte Mittagspause war dafür draufgegangen, durch die Stadt zu laufen und über Sterblichkeit nachzudenken. Um zwei hatten Harry und sie einen Termin mit den Leuten vom Rathaus, um den Ablaufplan für die Veranstaltung heute Abend zu besprechen.

Na ja, dachte Lorrie, Harry war ein Wunderknabe. Sollte sie es aus irgendeinem Grund nicht rechtzeitig zur Arbeit schaffen, würde er sicher auch ohne sie zurechtkommen.

»Vielleicht ganz schnell auf ein Gläschen«, sagte sie.

Sie steuerten die am nächsten gelegene Bar an, die ihr einfiel, eine ihrer wenigen Lieblingsbars, die noch übrig waren aus der Zeit, als sie noch regelmäßig in Bars gegangen war. Der Innenraum war klein und düster, aber hinten gab es einen großen Außenbereich mit Lichterketten, Kunstpalmen und Stehtischen, um die herum man auf Hockern sitzen konnte, erfrischend geschmacklosen Wein trinken und, wenn man wollte, sogar rauchen durfte. In ihrer Jugend hatte Lorrie gelegentlich gequalmt, nie ernsthaft, und vor über zehn Jahren hatte sie komplett aufgehört. Heute beschloss sie, eine Ausnahme zu machen. Sie hielt an einem Eckladen und kaufte sich Zigaretten und ein Feuerzeug.

Dann, hinten in der Bar, kam ihr der Zigarettenkauf wie die beste Entscheidung vor, die sie hätte treffen können, obwohl das Vergnügen eher im Tanz des Anzündens lag als im Rauchen an sich. Das letzte Mal war so lange her, dass sie überrascht war, wie natürlich es sich immer noch anfühlte, mit einem Daumenschnipsen eine Flamme zu erzeugen, eine dünne Zigarette zwischen die Lippen zu klemmen und sie zu entzünden.

»Heute stellen wir unsere Disziplin unter Beweis, indem wir demonstrieren, dass wir sogar mit dem Aufhören aufhören können«, sagte sie zu Ivan, der ebenfalls Ex-Raucher war. »Und sobald diese Packung Kippen leer ist, hören wir auf, mit dem Aufhören aufzuhören, und kehren zu unserem rauchfreien Lebensstil zurück. Ich nenne das das dreifache Aufhörmanöver, und es hat einen Schwierigkeitsgrad von neun Komma zwei.«

»Dafür habe ich mein Leben lang trainiert«, sagte Ivan, als sie sich vorbeugte, um seine Zigarette anzuzünden.

Sie erzählte ihm von ihrem Treffen mit Philomena am Morgen: von den schlechten Neuigkeiten, dem Mopswitz, der Schimpftirade, der Heulerei. Das alles war noch zu frisch, um es zu einer besonders lustigen Anekdote zu verarbeiten.

»Ich habe noch nie bei der Arbeit geweint. Das war eine durch und durch demütigende Erfahrung. Ich weiß nicht, ob ich mich da jemals wieder blicken lassen kann.«

»Ausgezeichneter Plan. Du solltest einfach nie wieder dort auftauchen. Dann bereuen sie sicher ihre suboptimale Entscheidung.«

»Wäre rätselhaftes Verschwinden eine Option? Glaubst du, es ist heutzutage schwierig, den eigenen Tod vorzutäuschen?«

»Um ehrlich zu sein, Lorrie, ich denke, als Start für deine Karriere als Hochstaplerin ist der eigene Tod vielleicht etwas zu hochgestapelt. Du musst klein anfangen. Wie wäre es mit einer chronischen Krankheit?«

»Falls lähmende Scham noch kein anerkanntes psychiatrisches Leiden ist, sollte es das auf jeden Fall werden.«

»Wahrscheinlich ist es halb so schlimm. Viele Leute weinen bei der Arbeit.«

»Hast du das schon mal?«

»Also, nein. Aber ich habe andere weinen sehen, was ich immer als sehr erquicklich empfunden habe.«

Lorrie lachte matt, lehnte sich zurück und zündete sich noch eine Zigarette an. Sie würde widerlich stinken, wenn sie zurück ins Büro ging. Ach, egal. Sie nahm einen tiefen Zug.

»Hast du darüber nachgedacht, dir was anderes zu suchen?«, fragte Ivan. »Ich meine, du bist jetzt schon lange bei der Stadtverwaltung, und selbst als ich dich kennengelernt habe, hatte ich den Eindruck, dass du nicht aus vollem Herzen dabei bist – wahrscheinlich warst du mir deshalb sympathisch. Hast du schon mal daran gedacht, Jura zu studieren? Du wärst eine fantastische Anwältin.«

Lorrie schätzte Ivans Zuversicht, wusste aber mit absoluter Sicherheit, dass sie keine fantastische Anwältin wäre.

»Sorry, Ivan, aber können wir über was anderes sprechen? Sonst fange ich wieder an zu weinen, und ich will mich vor einem Freund echt nicht so zu Tode blamieren, wie ich das gerade auf der Arbeit getan habe. Erzähl doch mal, wie es mit deinem Liebesleben läuft.«

Ivan schüttelte bedrückt den Kopf.

»Nichts läuft da. Eine Zeit lang habe ich mich mit einer getroffen, aber es hat nicht so recht gepasst. Sie wollte Sachen machen wie ironische Bowlingabende und Doja Cat hören, und du hättest das Chaos sehen sollen, das sie jedes Mal in meinem Bad angerichtet hat, wenn sie bei mir übernachtet hat. Und sie hat von mir erwartet, dass ich mit ihr auf eine Antarktis-Kreuzfahrt gehe! Ich meine, kannst du dir mich in der Antarktis vorstellen? Ich kriege eine Winterdepression, sobald die Temperatur unter fünfundzwanzig Grad rutscht – und dieses Mädchen dachte, ich würde den Südpol aushalten, nur um ihr Herz zu gewinnen? Also, mit der ist Schluss.«

Soweit Lorrie das beurteilen konnte, rührten Ivans Probleme in Liebesangelegenheiten daher, dass er sich anscheinend ausschließlich zu gestörten Frauen mit künstlerischer Ader hingezogen fühlte, zu der Art Frau, die betrunken und schreiend zum Weihnachtsessen im Haus deiner Eltern auftaucht, und zwar drei Jahre, nachdem du dich von ihr getrennt hast. Ein paar seiner Freundinnen hatte Lorrie kennengelernt, und obwohl sie die meisten mochte, war keine von ihnen der Typ Mensch, dem man zutrauen würde, auf Kinder aufzupassen, geschweige denn sie zu gebären.

»Ach, Ivan, tut mir leid, das zu hören. Aber ich bin mir sicher, dass es da draußen eine für dich gibt, die nur melancholisch rumhängt und immer bei den falschen Typen nach links swipt.«

»Nach rechts swipt, Lorrie. Wow, du wärst echt schlecht im Online-Dating. Und außerdem gibt’s da draußen niemanden für mich. Glaub mir, ich habe mich umgesehen, ich habe diesen ganzen Planeten abgeklappert und auch ein paar andere. Es ist niemand mehr übrig. Alle sind verheiratet, alle haben Kinder. Ich habe meine Chance verpasst.«

»Du musst dich nur gedulden, bis alle die Nase voll voneinander haben. Bestimmt ist bald Scheidungssaison.«

»Willst du mir was über Paul erzählen?«

»Ja. Mit jedem Tag lieben wir uns mehr.«

»Bah, igitt.«

»Weißt du, vielleicht hast du mehr Glück, wenn du mal deinen Grundsatz überdenkst, ausschließlich mit Kindern und komplett Durchgeknallten auszugehen. Vielleicht schaltest du einfach mal einen Gang zurück. Du könntest beispielweise mal versuchen, mit einer Halb-Durchgeknallten auf ein Date zu gehen oder mit einer Dreißigjährigen, und sehen, wie ihr zusammenpasst?«

»Das ist nicht lustig, Lorrie. Sogar die totalen Psychos sind schon vom Markt. Ehrlich, ich glaube nicht, dass ich jemals jemanden finde. Ich werde für immer allein bleiben.«

Für Lorrie waren diese Gespräche mit alleinstehenden Freunden ein heikles Terrain. Sie war schon so lange mit Paul zusammen, dass sie sich kaum noch erinnerte, wie es war, Single zu sein. Sie wusste nicht, ob es ihren Freunden lieber war, wenn sie sich optimistisch über ihre Aussichten, mitfühlend über ihre Einsamkeit oder neidisch auf ihre Freiheit zeigte. In Wahrheit empfand sie eine Mischung aus allem davon. Die meisten Singles, die sie kannte, schienen durch die Welt zu streifen und Abenteuer zu erleben, taten, wozu sie Lust hatten, und mussten nie auf die Bedürfnisse anderer Rücksicht nehmen (hatten andererseits aber auch niemanden, der sich um ihre Bedürfnisse kümmerte). Lorrie vermutete, dass es schon seine Gründe hatte, warum sie diesen Weg nicht eingeschlagen hatte, aber für ein allzu schlechtes Leben hielt sie das nicht.

Generell hatte Lorrie sich in Sachen Partnerwahl immer am Prinzip »Gleiche Chancen für alle« orientiert. Wenn jemand Interesse an ihr zeigte, war sie für gewöhnlich bereit, einen Versuch zu wagen, ganz gleich, wie sensationell schlecht sie zusammenpassten. Vielleicht erklärte diese lockere Herangehensweise, warum ihre Beziehungen in jungen Jahren durch die Bank weg so unerfreulich gewesen waren. Nach dem Desaster mit Ruben Armand hatte sie eine Reihe unschöner Erfahrungen mit ungeeigneten Männern gemacht: sechs Monate mit Felix, einem japanisch-australischen Grafiker, der ihr ständig sagte, wie hübsch sie wäre, würde sie nur ein paar Kilo abnehmen; ein paar Monate mit Lenny, einem Medizinstudenten, dessen extreme Klugheit anfangs seine noch extremere Langweiligkeit verdeckt hatte; ein Jahr oder so mit Jamie, einem unglaublich weißen Wirtschaftsstudenten, der mit vierundzwanzig bereits einen kompletten Plan für sein Leben ausgearbeitet hatte (wie sich herausstellte, schloss dieser Plan Lorrie nicht mit ein); und eine lange, zwanglose Romanze mit Christos, der sowohl heiß als auch amüsant war, aber sich nicht damit abfinden konnte, dass Lorrie sich partout nicht auf einen Dreier einlassen wollte, ein Streitpunkt, den Lorrie als schrecklich ungerecht empfand: Schon in Anwesenheit einer Person, die gnadenlos über ihre körperlichen Unzulänglichkeiten urteilen konnte, war es schwer genug, sich in ihrem nackten Körper zu entspannen, ganz zu schweigen von der Anwesenheit zweier Menschen.

Für Lorrie war es immer noch absurd, dass sie letztendlich in einer Beziehung gelandet war, die sie weder ins Koma langweilte noch ihr Leben auf aggressive Weise zerstörte. Das Glück, das sie mit Paul gefunden hatte, war auf fast wundersame Weise unkompliziert. Manchmal lagen sie sich in den Haaren, manchmal gingen sie sich auf die Nerven, aber im Großen und Ganzen fühlte sich ihre Beziehung so natürlich und essenziell an wie ihr Herzschlag.

»Du wüsstest niemanden, oder?«, fragte Ivan. »Du hast doch sicher ein paar Single-Freundinnen, mit denen du mich verkuppeln kannst.«

Lorrie zögerte. Sie hatte schon oft darüber nachgedacht, Alex und Ivan zu verkuppeln – in vielerlei Hinsicht schienen sie relativ gut zusammenzupassen –, aber bislang hatte sie sich zurückgehalten, weil sie sich nicht sicher war, ob sie die Verantwortung dafür tragen wollte, die tektonischen Platten ihrer jeweiligen Persönlichkeiten zusammenzuschieben. Aber im Moment wirkte Ivan so verzweifelt, dass es ihr gemein vorkam, ihm die Aussicht auf Glück zu verweigern, nur weil das minimale Risiko bestand, dass die Sache in einer Naturkatastrophe enden würde.

»Weißt du was, ich wüsste tatsächlich jemanden, der dir gefallen könnte.«

»Ach?«

»Meine Freundin Alex ist Single.«

Ivan runzelte die Stirn.

»Ist das die Alex, von der du mir schon mal erzählt hast? Ich dachte, du meintest, ich soll mit normalen Frauen ausgehen.«

»Okay, sie ist ein bisschen neurotisch, aber sie ist nicht, du weißt schon, ich-zerschlitz-dir-die-Autoreifen-verrückt.«

»Hmm.«

»Außerdem sieht sie umwerfend aus, falls das hilft.«

»Das hilft immer.«

»Übrigens filmt sie heute Abend die Glup-Gardens-Sache für eine Doku, die sie über eine Gruppe von Umweltschützern dreht. Hab ich dir erzählt, dass sie Filmemacherin ist? Sie ist echt talentiert – für ihr letztes Projekt hat sie alle möglichen Preise gewonnen. Falls du vorhast, heute Abend zu kommen, könnte ich sie dir vielleicht vorstellen.«

Ivan verzog das Gesicht.

»Du weißt doch, dass berufliche Veranstaltungen in mir das Verlangen wecken, nicht nur mich selbst, sondern auch gleich alle Anwesenden umzubringen. Also, nein, ich hatte nicht vorgehabt, hinzugehen.«

Er wiegte nachdenklich den Kopf. »Aber für deine heiße Freundin mache ich vielleicht eine Ausnahme.«

Sie tranken aus. Es war fast zwei. In fünfzehn Minuten würde Harry im Büro des Bürgermeisters sein. Lorrie überlegte, ihre Mails abzurufen, entschied sich aber dagegen. Sie steckte sich eine weitere Zigarette an, lehnte sich zurück und schlug Ivan vor, noch ein Glas Wein zu trinken, aber er musste zurück zur Arbeit zu einer Mediation.

Allein in der Bar fragte sich Lorrie, wie sie den Nachmittag bloß überstehen sollte. Wahrscheinlich wäre es besser, sie würde Philomena eine Mail schicken und sie wissen lassen, warum sie so spät ins Büro zurückkam. Aber wie sollte sie das erklären? Dass ein Übermaß an unbeherrschbarer Wut sie aufgehalten hatte? Ihre eigene irrwitzige Verzweiflung sie niedergestreckt hatte? In ihr ein Missmut aufgelodert war, der einem Vulkanausbruch gleichkam?

Lorrie spürte ihr Handy vibrieren, und mit einer heftigen Druckwelle schoss ihr Panik durch die Brust – aber es war nicht die Arbeit. Sondern ihre Mutter. Reflexartig drückte sie ihre frisch angezündete Zigarette aus und nahm den Anruf mit einem Swipen entgegen.

»Hi, Mum.«

»Hallo, Liebling. Danke, dass du rangegangen bist. Ich weiß, wahrscheinlich hast du viel zu tun, aber ich wollte nur wissen, ob du Neuigkeiten über die Beförderung hast.«

Es war geradezu unheimlich, wie Anne scheinbar immer wusste, was in Lorries Leben vor sich ging, selbst wenn Lorrie ihr gegenüber kaum etwas erwähnt hatte. Manchmal hatte Lorrie den Verdacht, dass der Google-Ads-Algorithmus Anne mit Informationen fütterte oder sie Lorries Gespräche über ein verstecktes Mikrofon ausspionierte, das irgendwo in der töchterlichen DNA implantiert war.

»Witzig, dass du fragst, Mum. Erst heute Morgen habe ich das in einem Meeting mit meiner Chefin besprochen«, sagte sie und bemühte sich um einen heiteren Ton.

»Und? Du hast sie!«

»Nope. Ich hab sie nicht.«

Es entstand eine Pause, während Anne ihre Erwartungen neu justierte.

»Ach, Schätzchen. Das tut mir so leid. Haben sie dir einen Grund genannt?«

»Anscheinend zeige ich bei der Arbeit nicht ausreichend Einsatz.«

»Nicht ausreichend Einsatz?« Sofort wurde Annes Ton ein paar Nuancen schriller. »Was in aller Welt soll das heißen? Sagen die etwa, du bist faul?«

Himmel. Daran hatte Lorrie gar nicht gedacht.

»Ähm, ich bin mir nicht sicher, Mum. Ich glaube nicht? Na ja, vielleicht. Ich weiß nicht.«

»Ist das deine Chefin, Philomena? Die Dünne? Die mit den Hunden? Vielleicht liegt es an deinem Gewicht.«

Auch daran hatte Lorrie nicht gedacht. Sie sah hinunter auf ihre Schenkel, die sich unter ihrem Rock auf dem Barhocker ausbreiteten wie zwei riesige Laibe Brotteig, die unter einem Geschirrtuch aufgingen. Himmel.

»Ähm, das könnte vielleicht schon was damit zu tun haben, schätze ich.«

»Ich habe gelesen, dass Fettleibigkeit mit Inkompetenz assoziiert wird. Sehr unfair natürlich. Ich schick dir den Artikel.«

»Schon gut, du musst nicht …«

»Stellen sie jemand Neuen ein?«

»Nein, sie befördern jemand anderen im Team.«

»Aber so viel Erfahrung wie du hat dort niemand!«

»Es geht nicht um Erfahrung, Mum, es geht um … na ja, ich glaube, so genau weiß ich gar nicht, worum es geht. Ich kann nicht nachvollziehen, wie diese Entscheidungen getroffen werden. Wahrscheinlich ist meine Karriere deshalb auch so ein funkelnder Haufen von Nichts.«

»Na, jedenfalls sind die verdammt blöd, wenn die deine Begabung nicht erkennen.«

»Ich weiß nicht, ich glaube, die haben eben einfach nach ganz bestimmten Begabungen gesucht, die mir anscheinend nicht gegeben sind.«

Welche Begabungen hatte Harry, fragte sich Lorrie, die ihr selbst fehlten? Die Gabe der Langweiligkeit. Die Gabe der Arschkriecherei vielleicht. Die Gabe des Ehrgeizes.

»Mir kommt das alles sehr merkwürdig vor«, sagte Anne. »Aber vielleicht ist es ein Zeichen, der Schubser, den du brauchst, um dir was Interessanteres zu suchen.«

Lorrie seufzte. Seit Jahren versuchte Anne, sie aus diesem Job wegzukriegen. Für sie war es nichts Geringeres als eine bürgerliche Tragödie, dass ihre kluge Tochter ihr gesamtes Talent damit vergeudet hatte, eine Stelle bei der Stadtverwaltung anzunehmen, Kinder zu bekommen und sonst nichts zu tun. Annes Ansicht nach wimmelte es im Leben einer jungen Frau zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts geradezu vor Möglichkeiten, es war ein wunderbarer, üppiger Dschungel von Chancen – und doch hatte Lorrie ihr ganzes Potenzial in eine Schachtel gepackt und in einen Banksafe gelegt.

»Ich bin natürlich froh, dass du keine komplette Null bist«, hatte sie Lorrie mehr als einmal gesagt. »Du lebst nicht auf der Straße, nimmst kein Heroin und wählst auch nicht die Rechten. Aber was du aus deinem Leben machst, könnte jeder. Schätzchen, manchmal denke ich, dass du nur so tust, als würdest du leben. Und du hast so viel zu bieten, da verdienst du doch mehr als das.«

Anne selbst war in London aufgewachsen. Sie hatte am Anfang einer vielversprechenden Karriere als Bühnenbildnerin gestanden, als sie alles hinwarf, weil sie von Lorries Vater Ian schwanger wurde. Ian war ein auf düstere Weise gut aussehender australischer Barkeeper, und als er Anne bat, mit ihm zurück nach Australien zu ziehen, hatte sie gedacht, sie würde sich auf ein Abenteuer einlassen. Sie hatte sich das Outback ausgemalt: Akubras, Kängurus, Schlangen und Schrotflinten. Was sie bekam, war ein Haus mit drei Schlafzimmern in einem Vorort nordöstlich von Melbourne – eher Nachbarn als Crocodile Dundee. Wie sich herausstellte, steckte hinter Ian viel weniger, als es zunächst den Anschein gehabt hatte. Hinter der geheimnisvollen Fassade, von der Anne angenommen hatte, dass sie eine harte Cowboy-Seele verbarg, steckte in Wahrheit ein Vorstadt-Kiffer, ein Mann, dessen Traumwochenende darin bestand, Rasen zu mähen, Gras zu rauchen und vier Stunden am Stück Led Zeppelin zu hören.

In Anbetracht dieser Vergangenheit verstand Lorrie schon irgendwie, warum Anne sich so gar nicht damit abfinden mochte, dass ihre Tochter eine Stelle als unbedeutende Aktenschubserin hatte. Für ihre eigenen Kinder würde sie sich dieses Leben auch nicht unbedingt wünschen. Und trotzdem, sollten Ruthie oder Clara eine feste, vernünftige Anstellung in einem halbwegs ehrbaren Beruf bekommen, würde Lorrie ziemlich sicher nicht bei jeder sich bietenden Gelegenheit dafür sorgen, dass sie sich dafür schämten.

Nun fragte Anne, ob sie Paul von der gescheiterten Beförderung erzählt hatte.

»Noch nicht. Er ist auf der Arbeit.«

»Er wird schrecklich enttäuscht sein.«

»Ach ja?«

»Na, meinst du nicht?«

Da war sich Lorrie nicht sicher. Wahrscheinlich würde Paul ihre Enttäuschung aus Mitgefühl teilen, aber ihm selbst wäre es wohl ziemlich egal. Er war zwar ebenfalls Annes Ansicht, dass Lorrie bei der Stadtverwaltung ihr Leben verplemperte, aber im Gegensatz zu Anne fand er, dass es schon okay war, sein Leben zu verplempern, solange man dabei glücklich war. Pauls Meinung nach war verschwendete Zeit sogar oft die beste.

»Wo bist du gerade, Liebling?«, fragte Anne. »Es klingt sehr laut.«

»Ich war gerade mit einem Freund was tr… essen. Mittagessen, meine ich. Ich wollte gerade wieder zurück ins Büro.«

»Na, du scheinst es ja bestens zu verkraften.«

Lorrie sah auf den Stehtisch vor sich, den Aschenbecher voller Zigarettenstummel, die leeren Weingläser.

»Ich versuche, das ganz gelassen zu sehen.«

»Sehr vernünftig. Lass dich dadurch nur nicht von deiner Diät abbringen, Schätzchen.«

Lorries Übergewicht verursachte immer wieder Spannungen zwischen ihr und ihrer Mutter. Anne versuchte, das tat sie wirklich, Lorries sich verändernde Figur zu akzeptieren, aber ganz gleich, wie viele Bücher sie über Body Positivity und Fat Acceptance las, sie konnte Lorries ausladenden Körper nicht ansehen, ohne sich fremdzuschämen.

»Tut mir leid, Liebling. Ich bin einfach ein sehr visueller Mensch«, hatte Anne ihr einmal zu erklären versucht. »Ich habe es gern, wenn etwas schön ist.«

»Was soll das heißen? Kann ich etwa nicht schön sein, weil ich zugenommen habe?«

»Natürlich kannst du das. Du hast immer noch ein hübsches Gesicht«, hatte Anne tapfer gesagt, bevor sie hinzufügte: »Aber das wird nicht so bleiben, wenn du dich weiter durchs Leben frisst wie die Maus im Käseladen.«

Der diesem Gespräch folgende Streit wurde erst beigelegt, als Anne Lorrie hoch und heilig versicherte, Lorries Gewichtsprobleme nicht mehr anzusprechen, vor allem nicht in Gegenwart ihrer Enkelinnen. Im Großen und Ganzen hielt sie sich daran, aber vor Kurzem war sie aufs Heftigste rückfällig geworden, nachdem Lorrie den Fehler begangen hatte, ihr von dem Abnehmprogramm zu erzählen, an dem sie teilnahm. Annes beinahe schon hysterisches Maß an Begeisterung darüber deutete darauf hin, dass sie noch weit davon entfernt war, sich mit den großzügigen Proportionen des Körpers ihrer Tochter abzufinden.

Heute fehlte Lorrie die nötige Energie, um sich zu ärgern. Sie stützte den linken Ellbogen auf den Tisch und legte die Wange auf die Faust. »Die Diät läuft prima, Mum. Hör zu, ich muss los. Meine Mittagspause ist vorbei. Wir unterhalten uns später, okay?«

Nachdem sie aufgelegt hatte, wurde ihr bewusst, dass sie seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte. In der Bar wurden Pommes und Nachos serviert, aber bei dem Gedanken an beides wurde ihr übel.

Sie musste sich zusammenreißen. Sie hatte den halben Tag damit verbracht, sich in Selbstmitleid zu suhlen, aber nun war es an der Zeit, diesen kleinen Rückschlag wie eine Erwachsene abzuschütteln, wieder zur Arbeit zu gehen, den Staub abzuklopfen und weiterzumachen. Es spielte keine Rolle, dass sie in ein paar Monaten neununddreißig wurde und noch immer nur Sachbearbeiterin war, die die gleiche Arbeit erledigte wie mit sechsundzwanzig. Es spielte keine Rolle, dass ihre Chefin ihr keine Führungsposition zutraute und sie jetzt einem einunddreißigjährigen BWL-Absolventen mit Fingern so groß wie Snackgurken unterstellt sein würde. Sie war doch ein wertvoller Mensch, oder nicht? Eine fähige und pflichtbewusste Mitarbeiterin? Sie würde denen einfach zeigen müssen, dass sie besser war, als alle dachten.

Sie bestellte noch ein Glas Wein, trank es eilig aus und machte sich auf den Weg zurück zur Arbeit. Im Gehen zückte sie ihr Handy und rechnete die Kalorien ihrer drei Gläser wässrigen Rosés aus.

Ach du Scheiße. Das war dann wohl das Mittagessen.

Auf dem Rückweg ins Büro drängte sich Lorrie der Gedanke auf, dass sie nach Ruthies Geburt vielleicht gar nicht mehr hätte arbeiten gehen sollen. Vielleicht hätte sie ihre Karriere einfach an den Nagel hängen und ihr Leben den Kindern widmen sollen.

Mit den Mädchen hätte sie wenigstens einen Job, von dem sie wusste, dass sie darin besser war als jeder sonst. Sie war keine bessere Mutter als andere, nicht objektiv betrachtet – sie kannte eine Menge Frauen, die die Kindererziehung wesentlich sorgfältiger und selbstloser angingen als sie, heldenhafte Frauen, die ihre Kinder da draußen ohne Fernsehen aufzogen, mit ihren Dreijährigen handgemachte Keramiken herstellten und aufwendige Mahlzeiten kochten, die ihre Kinder tatsächlich auch aßen. Mit diesen Frauen konnte Lorrie nicht mithalten, streng genommen. Aber die Basics hatte sie drauf (Essen, Schlafen, Wäsche, Baden), und, was noch wichtiger war, sie war sich relativ sicher, dass kein anderer Mensch auf der Welt, Paul ausgenommen, Clara und Ruthie so ausdrücklich und unendlich lieben konnte wie sie.

Obwohl es aus finanzieller Sicht eigentlich nie machbar gewesen war, hatte Lorrie kurze Zeit mit dem Gedanken gespielt, ihren Job zu kündigen, um Vollzeitmutter zu werden. Eines Nachmittags, als Ruthie fast ein Jahr alt war und sich Lorries Elternzeit dem Ende zuneigte, versuchte sie, mit Alex darüber zu sprechen. Alex war zu Besuch – ein seltenes Ereignis, das Lorrie damals als stressig empfand. Sie hatte es immer noch nicht ganz raus, wie sie gleichzeitig Freundin und Elternteil sein, wie sie ein Gespräch elegant unterbrechen konnte, um Ruthies diversen Forderungen nach Essen oder Milch nachzukommen oder sie davon abzuhalten, etwas Gefährliches in den Mund zu stecken. Sie hatte sich große Sorgen gemacht, dass Alex von ihr immer noch die geballte Aufmerksamkeit verlangte, die ihre Freundschaft vor Ruthies Geburt stets geprägt hatte.

»Freust du dich darauf, wieder arbeiten zu gehen?«, fragte Alex, während Lorrie das Baby betüdelte.

»Scheiße, nein«, antwortete Lorrie, ohne groß darüber nachzudenken. Sie versuchte, einen matschigen grauen Klumpen aus Ruthies Faust zu lösen. Damit das Baby nichts anstellte, während Alex und sie Kaffee tranken, hatte sie es im Hochstuhl festgeschnallt, aber Ruthie hatte sofort ein Stück einer mehrere Tage alten Banane aufgespürt, das an der Unterseite der Ablage klebte, und drohte nun, es zu essen.

Alex wirkte verblüfft. »Aber wäre es nicht gut, wieder … unter Erwachsenen zu sein? Eine Pause von der ganzen – äh – Plackerei als Mutter?«

Lorrie drückte Ruthie einen Kuss auf den Handrücken.

»Ruthie, würdest du bitte die Banane loslassen? Sie ist schmutzig, Süße, davon kannst du krank werden.«

Ruthies Faust blieb fest um die Banane geschlossen.

»Nane!«

Alles, was Ruthie in diesem Alter sagte, äußerte sie in Form eines Ausrufs – als wäre sie immer noch schockiert von der Tatsache, dass sie sprechen konnte.

»Na komm, Süße«, sagte Lorrie, streckte Ruthie die offene Hand hin und wartete, aber Ruthie stand der Sinn nicht nach Kooperation.

»Nane!«

»Weißt du«, sagte Lorrie zu Alex, während sie die Strategie änderte und Ruthie leicht am Kinn kitzelte, um sie von ihrer dreckigen Beute abzulenken, »irgendwie hatte ich damit gerechnet, dass mich das Mamadasein langweilen würde. Ich dachte, es wäre so hart und anstrengend. Und, ja, ich meine, das ist es auch wirklich. Ich fühle mich nicht mehr wie derselbe Mensch, der ich vor Ruthie war.«

»Es wirkt wirklich … ermüdend«, sagte Alex und wandte den Blick taktvoll von der Bananensituation ab.

»Aber ich hatte keine Ahnung, dass es so schön sein kann«, fuhr Lorrie fort. »Ich habe das Gefühl, dass mich niemand darauf vorbereitet hat, wie schön es sein würde. Manchmal sehe ich Ruthie an, und es ist, als wäre ich auf irgendeiner tollen neuen Droge. Ich muss bloß den Geruch ihrer Haare einatmen, und schon werde ich high.«

Nun kicherte Ruthie, und die Banane war völlig vergessen. Mit einer einzigen Bewegung schaffte es Lorrie, ihr die faulende Frucht aus der Hand zu kratzen. Sie stand auf, schmiss sie in die Spüle und kehrte mit einem feuchten Papiertuch zurück, um das restliche Geschmier wegzuwischen. Alex beobachtete sie stirnrunzelnd.

»Wahrscheinlich ist es wirklich wie eine Droge«, sagte sie. Wahrscheinlich findet in deinem Hirn gerade voll das krasse chemische Feuerwerk statt.«

»O ja, Hormone sind da ganz klar im Spiel. Aber es ist nicht nur das. In diesem Jahr, in dem ich mich um Ruthie gekümmert habe, war ich einfach wahnsinnig glücklich. Ich meine, abgesehen von der Zeit, in der sie jede Nacht so ungefähr zwölfmal aufgewacht ist und ich vier Monate lang kein Auge zugemacht habe … Das war weniger toll. Aber ansonsten kann ich mich echt an keine Zeit erinnern, in der ich zufriedener war.«

»Hmm«, sagte Alex und sah Ruthie zu, die sich alles schnappte, was sie von der Ablage vor sich zu fassen kriegte (Wasserflasche, Toastscheibe, Teelöffel), auf den Boden warf und dann fröhlich gluckste, wenn Lorrie sich bückte, um es für sie aufzuheben. »Ich spiele hier nur des Teufels Advokatin, aber könnte es vielleicht sein, dass dir das Patriarchat eine Gehirnwäsche verpasst hat?«

Lorrie lachte.

»Scheiße, na mit Sicherheit hat mir das Patriarchat eine Gehirnwäsche verpasst. Ich meine, gilt das nicht für alle? Manchmal denke ich sogar, das Patriarchat hat mein Gehirn komplett dampfgereinigt, als hätte ich keinen klaren Bezug zur Realität mehr. Aber das Muttersein – das ist mehr als das. Es fühlt sich beinahe schon subversiv an, wie sehr ich es genossen habe, einfach nur ein Baby großzuziehen und in diesem Jahr sonst absolut nichts anderes zu erreichen.«

»Subversiv?«, sagte Alex und schaffte es nicht, sich den skeptischen Unterton zu verkneifen. »Inwiefern?«

»Ich glaube, ich bin irgendwie … ich habe den Eindruck, dass ich … aus dem Kapitalismus ausgestiegen bin«, sagte Lorrie und fing Ruthies Hand ab, um sie daran zu hindern, ihren Teller auf den Boden zu pfeffern. »Ich meine, ich bin zwar immer noch Konsumentin, aber ich persönlich verdiene weder Geld für jemanden noch trage ich zum Bruttoinlandsprodukt bei. Ich lebe einfach mein Leben und mache Sachen, die von sich aus Bedeutung haben. Meine Tage verbringe ich damit, zu kochen, zu gärtnern und mich um Ruthie zu kümmern, und das ist einfach so völlig anders, als wie ich früher meine Zeit verbracht habe. Vor Ruthie bin ich zur Arbeit gegangen, und alles, was ich getan habe, war so weit entfernt von den Grundbedürfnissen, die damit einhergehen, dass man, na ja, einfach nur am Leben ist. Jetzt habe ich den Eindruck, was ich tue, ist wirklich wichtig, weil es für Ruthie wichtig ist, für diesen kleinen Menschen, der darauf angewiesen ist, dass ich das alles jeden Tag mache, damit sie überleben kann.«

Lorrie kniff die Lippen zusammen und guckte betreten auf ihre Hände. Sie wusste, dass sie das nicht richtig rüberbrachte. Der Gedanke begleitete sie schon seit einer Weile – ob es nicht besser wäre, sich um ihr Kind zu kümmern, statt möglichst schnell wieder ins Büro zu rennen –, aber ihr fehlten die Zeit und die Energie, um sich vernünftig damit auseinanderzusetzen und aus diesem Bauchgefühl etwas zu formen, das für einen anderen Menschen einleuchtend klang. Einen Moment lang schloss sie die Augen und versuchte, ihre Gedanken zu sortieren.

»Findest du es nicht … ich weiß nicht … ein bisschen langweilig? Den ganzen Tag mit einem Kind daheim zu sein?«

»Na ja, manchmal schon. Aber eigentlich hat es auch etwas seltsam Friedliches, weil ich immer in diesem ewigen Zustand des Hier und Jetzt existieren muss: Das Baby muss gefüttert werden, das Baby braucht ein Schläfchen, das Abendessen muss gekocht werden, der Garten muss gegossen werden. Man hat keine Zeit, sich über Vergangenes Gedanken zu machen, und es bringt nie was, für die Zukunft zu planen, weil Ruthie sich ständig verändert. Sie ist nicht einfach ein Problem, für das ich eine Lösung finden kann und dann damit fertig bin. Ich muss ständig neue Wege finden, um sie zufriedenzustellen, ihr etwas beizubringen, sie davon abzuhalten, sich umzubringen. Das hält mich wirklich auf Trab, verstehst du? Und natürlich ist es manchmal schwierig, es hört ja nie auf … aber es gibt mir so viel, bei ihr zu sein. Sie sieht alles mit diesem frischen Blick, als wäre für sie alles das reinste Wunder. Es ist eine Freude, in ihrer Nähe zu sein.«

Inzwischen löffelte Lorrie Ruthie Kürbispüree in den Mund. Etwa ein Viertel davon aß sie – der Rest landete auf ihrem Kinn, in ihren Haaren oder auf dem Boden. Lorrie sah zu Alex, die sich auf ihrem Stuhl zurücklehnte und die beiden kritisch beobachtete, als versuchte sie zu verstehen.

»Für mich ist das wohl einfach schwer nachzuvollziehen«, sagte Alex schließlich. »Diese Lebensweise ist mir einfach so fremd.«

»Hmm … ich würde sagen, es ist ein bisschen so, wie wenn man einen Hund hat? Und der Hund ist süß, du liebst deinen Hund sowieso schon, und dann eines Tages fängt dein Hund an, mit dir zu sprechen und mit einem Löffel zu essen, und das ist so unglaublich krass. Du willst einfach den ganzen Tag mit deinem Hund abhängen.«

Alex lachte.

»Okay, das verstehe ich schon irgendwie. Ich will ja jetzt schon den ganzen Tag mit meinem Hund abhängen, auch wenn seine Sprachkompetenz echt mies ist.«

Auch jetzt, nach über sechs Jahren Mutterschaft, hatte das Hochgefühl nicht nachgelassen. Natürlich hatte sie nicht immer Lust, sich in jeder wachen Minute ihres Lebens mit den unberechenbaren Launen von zwei kleinen Verrückten zu befassen – manchmal wollte sie einfach nur den Fernseher einschalten, Wein trinken und mit Paul dumme Erwachsenenwitze reißen. Aber es führte kein Weg daran vorbei: Wenn die Kinder etwas brauchten, musste sie sich darum kümmern. Sie konnte nicht kündigen, sie konnte nicht einfach die Tür schließen und sie in einem anderen Zimmer schreien lassen (jedenfalls nicht länger als ein paar Minuten und nicht ohne dass diese Schreie sie nicht mehr losließen). Nichts anderes hatte ihr je zuvor das Gefühl verschafft, gebraucht zu werden. Es gab ihr einen unwiderlegbaren Grund, am Leben zu sein.

Manchmal fand sie es traurig, dass Alex so gar keine Ambitionen hatte, selbst Kinder zu bekommen. Alex handelte nach Prinzipien: Sie wollte der Erde keine weitere menschliche Last aufbürden, und sie wollte keine Kinder, die die katastrophalen Zeiten durchleben mussten, die ihnen allen drohten.

»Warum?«, hatte sie gefragt, als Lorrie ihr zum ersten Mal davon erzählt hatte, dass sie versuchte, schwanger zu werden. »Ehrlich, ich hab dich lieb, Lorrie, und ich bin mir sicher, dass deine Kinder zuckersüß wären – aber warum um Himmels willen möchtest du ein Kind in die Welt setzen, wenn du weißt, dass es auf einem Planeten aufwachsen wird, der mit jedem Jahr unbewohnbarer wird? In einer Welt, in der sich alle fünf Minuten eine Naturkatastrophe ereignet und quasi jeden Tag Dutzende von Arten aussterben?«

Lorrie konnte das nicht so richtig erklären. Ihr Kinderwunsch war irgendwie jenseits jeglicher Logik, jenseits jeglicher Worte; er war einfach etwas, das sie schon immer von sich gewusst hatte.

»Mir kommt das einfach wie eine potenziell interessante Erfahrung vor, und ich fände es schade, da etwas zu verpassen«, startete sie einen halbherzigen Erklärungsversuch.

Ungläubig schüttelte Alex den Kopf.

»Meine Güte, Lorrie. Wegen einer potenziell interessanten Erfahrung willst du Kinder bekommen? Das mag ja ein guter Grund sein, um, keine Ahnung, bewusstseinsverändernde Drogen auszuprobieren oder von mir aus Analsex, aber findest du, das ist Grund genug, um einen neuen Menschen in die Welt zu setzen?«

Alex’ Zweifel am Sinn der Fortpflanzung waren durchaus berechtigt. Heutzutage machte sich Lorrie oft Sorgen, wie die Welt aussehen würde, wenn Ruthie und Clara erwachsen waren, wie viel schwieriger es für sie sein würde, als es für sie gewesen war. Scheinbar überall brauten sich Probleme zusammen. Das Klima veränderte sich, Demokratien gerieten ins Wanken, Diktaturen waren auf dem Vormarsch, alles war dem Untergang geweiht. Niemand schien bereit zu sein, diese Probleme mit der notwendigen revolutionären Klarheit anzugehen. Lorrie war sich sicher, ihre Generation würde in der Zukunft – vorausgesetzt, es gab überhaupt eine Zukunft – als grotesk, hedonistisch und genusssüchtig gelten, wie die Römer mit ihren Orgien und Festen, die sich schön die Zeit vertrieben, während sich knapp hinter ihrem Tellerrand Katastrophen, Krankheiten, Hungersnöte und der Faschismus erhoben, um sie alle zu verschlingen.

Andererseits war das Leben in vielerlei Hinsicht immer noch … unpassend angenehm. Natürlich nicht für alle. Nein. Aber für Lorrie und die meisten, die sie kannte, waren die aktuellen Lebensbedingungen geradezu lächerlich luxuriös. Lorries Bekanntenkreis war nicht wahnsinnig reich – sie lebten nicht in goldenen Palästen, flogen nicht in Privatjets durch die Gegend oder bauten Raketen in Form der eigenen Genitalien –, aber sie hatten genug zum Überleben, und mehr als das: Sie konnten mehrere Streaming-Dienste abonnieren! Sie konnten französischen Käse im Supermarkt kaufen! Sie konnten sich, ohne lange zu fackeln, eine Kiste Sekt an die Haustür liefern lassen! Sie konnten heiß duschen, wann immer ihnen der Sinn danach stand, sie konnten mittels eines Geräts, das in ihre Hosentasche passte, jederzeit auf den riesigen Fundus des kollektiven menschlichen Wissens zugreifen, sie mussten sich keine Sorgen machen, dass ihre Kinder an den Pocken starben. Soweit Lorrie das beurteilen konnte, hatten sie es echt verdammt gut.

Aber hätte sie das damals Alex gesagt, als sie sich darüber stritten, ob Kinderkriegen eine gute Idee war, dann hätte Alex sie natürlich daran erinnert, dass diese Annehmlichkeiten, auf die Lorrie hinwies, ihr nur aufgrund der durch Vergewaltigung, Mord, Sklaverei und Genozid von kolonisierten Völkern geprägten Geschichte zur Verfügung standen und aufgrund des Fortbestehens dieser Praktiken im modernen Leben, der enormen wirtschaftlichen Ungleichheit, die kein Nebenprodukt des Kapitalismus war, sondern seine eigentliche Grundlage, und der völligen Missachtung der Natur und künftiger Generationen, die gezwungen sein würden, in den stinkenden Ruinen zu leben, die von heutigen Generationen hinterlassen werden würden. Das waren die Bedingungen, die es Lorrie ermöglichten, in einem Haus mit Heizung und Klimaanlage zu leben, ihre bequemen Acht-Dollar-Leggings von einer großen Handelskette zu tragen, das ganze Jahr über Erdbeeren zu essen und auf ihrem Großbildfernseher ihr geliebtes Netflix zu sehen. All das hätte Alex ihr in Erinnerung gerufen, und natürlich hätte Alex recht gehabt. Das war Lorrie klar. Sie verstand, dass die Welt total kaputt war. Aber trotzdem konnte sie sich nicht einreden, dass irgendwas weniger kaputt wäre, wenn ihre Kinder nicht geboren worden wären.

Lorrie fand sich vor dem Gebäude wieder, in dem sie arbeitete, und sah nach oben. Jetzt kam ihr das Bauwerk, das ihr heute Morgen noch so gut gefallen hatte, absurd vor. Was war es anderes als ein riesiger Ameisenhaufen voller emsiger menschlicher Körper, die sich in ihren verwirrenden, bedeutungslosen Jobs abrackerten? Am Ende des Arbeitstags würden sie alle aus dem Gebäude strömen, in sich schlängelnden Linien auf die Straße schwärmen, sich tief hinab in den Untergrund drängen, sich freiwillig in Metallkisten pressen, die sie ratternd nach Hause in ihren persönlichen Bau brachten, wo sie ihre importierten Tiefkühlgerichte verschlangen und sich auf fabrikmäßig hergestellten Sofas ausruhten, während sie auf leuchtende Kästen mit zunehmend verrücktem Fernsehprogramm starrten und selbst dann Werbung aufsaugten, wenn keine Werbung lief, weil alles Werbung war, und überhaupt waren die Menschen heute sowieso eher Konsumenten als Bürger. Es war Überleben durch Selbstzerstörung, dieses bescheuerte Leben, das sie alle führten – dieses ewige Streben nach Zeug und dann nach neuem Zeug und dann nach noch neuerem Zeug. In gewisser Hinsicht wussten alle, dass der ganze Kram sie niemals zufriedenstellen würde, dass dessen Produktion alles Schöne und Wahre in der Welt zerstörte, und doch sehnten sie sich danach – und wenn sie sich nicht mehr danach sehnten, wenn sie aufhörten, Zeug anzuhäufen, dann würde das Fundament ihrer Gesellschaft zusammenbrechen.

Es war an der Zeit, hineinzugehen, aber ihre Füße wollten sich partout nicht bewegen. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Wie sollte sie halb betrunken, eine halbe Stunde zu spät für das Meeting im Büro des Bürgermeisters und mit dem Kopf voller Bitterkeit und Ameisen zur Arbeit gehen? Dachte sie, Philomena würde sich freuen, sie zu sehen?

Dem konnte sie sich nicht stellen. Das konnte sie einfach nicht. Mit zittrigen Händen zündete sie eine neue Zigarette an und machte blitzschnell auf dem Absatz kehrt, um so rasch wie möglich Abstand zwischen sich und das Büro zu bringen.

Sie drehte sich geradewegs in ein Objekt. Das Objekt war lang und gummiartig. Es stand direkt hinter ihr und trug einen Coffee to go. Der Becher kollidierte mit Lorries Ellbogen, flog hoch in die Luft und spuckte einen karamellfarbenen Bogen aus fettarmem, koffeinfreiem Caffè Latte aus. Einen Augenblick lang schien die flüssige Linie nahezu unbeweglich über Lorrie zu schweben, wie bei Matrix, ein wunderschöner, schwereloser Farbklecks – und dann lief die Zeit wieder in Normalgeschwindigkeit ab, und er platschte herunter, durchtränkte das gummiartige Objekt und spritzte Lorrie heiße Flüssigkeit über Gesicht und Arme.

Oh, fuck.

Das Objekt war nicht einfach ein Objekt. Das Objekt hatte einen Namen. Der Name des Objekts lautete Philomena Petrakis.

»Lorrie! Wo warst du denn bloß? Ach du meine Güte, sieh dir mein Top an. Das ist Seide! Seide! Und auch meine Hose! Ach du meine Güte.«

So aufgeregt hatte Lorrie ihre Chefin noch nie gesehen. Sie kramte in ihrer Handtasche und bot ihr das einzig potenziell Brauchbare an, was sie finden konnte: ein zerknülltes Taschentuch, von dem sie – zu spät – bemerkte, dass es das Stück Erdbeere enthielt, das sie sich am Morgen aus den Haaren gefischt hatte. Philomena betrachtete es mit unverhohlenem Entsetzen, bevor sie ihre eigenen strahlend weißen Gesichtsreinigungstücher zückte, die ordentlich in einem Taschentuchetui in Reisegröße gefaltet waren, und sich systematisch an die Reihe der braunen Flecken machte, die ihr blassgelbes Top und die Vorderseite ihrer Hose verunstalteten. Als sie so viel wie möglich aufgetupft hatte, sah sie Lorrie stirnrunzelnd an.

»Ich wusste nicht, dass du Raucherin bist«, sagte sie.

»Um Himmels willen, bin ich auch nicht!«, widersprach Lorrie eine Spur zu vehement. »Ich meine, wer raucht denn heutzutage noch?«

Philomena blickte demonstrativ auf die glimmende Zigarette zwischen ihnen auf dem Boden. Sie musste Lorrie beim Zusammenstoß aus dem Mund geflogen sein.

»Oh. Ich verstehe. Das. Also, ja, eigentlich … das ist nicht meine.«

Stille.

»Ich meine, ja, streng genommen ist das wohl schon ›meine‹, aber sie repräsentiert eigentlich nicht … Es ist nur so, dass ich mit einem Freund mittagessen war, und er hat, äh – er hat mich überredet, es auszuprobieren.«

»Zu rauchen?«

»Ja.«

»Klar.«

Sie sahen beide hinunter auf die Zigarette.

»Du wirst die doch nicht etwa da liegen lassen, oder?«

Umständlich ging Lorrie in die Hocke, um das Corpus Delicti aufzuheben, drückte es aus und warf es in den nächsten Mülleimer. Mit unergründlicher Miene sah Philomena ihr zu.

»Das mit deinem Top tut mir echt leid, Phil.«

»Schon okay. Der Fleck geht wieder raus.« Philomena unterbrach sich. »Na ja, vielleicht. Wie dem auch sei, im Büro habe ich Kleidung zum Wechseln. Aber, Lorrie, verrat mir doch bitte, wo du warst. Was hast du gemacht? Du weißt schon, dass Harry ohne dich ins Büro des Bürgermeisters musste. Einige deiner Anwandlungen heute waren wirklich recht …«

Philomena verstummte, sichtlich irritiert von Lorrie, die nun mit vorgezogenen Schultern und fest zugekniffenen Augen die Hände vors Gesicht hielt.

»Ich weiß, ich weiß, Phil. Und es tut mir leid wegen vorhin, wirklich. Es ist nur – es ist nur so, dass …« Lorrie unterbrach sich. Aus den Untiefen ihres Gehirns waberte etwas an die Oberfläche. Mama. Sie erinnerte sich an den Traum heute Morgen. »Es ist nur so, dass – weißt du – meine Mutter ist … tot.«

Sie öffnete die Augen einen Spalt breit und sah durch die Finger hindurch Philomena an.

»Oh, Lorrie!«, rief Philomena aus, schlug sich die Hand vor den Mund, und ihre Stimme war voll Sorge und natürlichen menschlichen Mitgefühls. Oh, verdammt. Sofort spürte Lorrie, wie sie vor schlechtem Gewissen ganz fürchterlich errötete. Warum hatte sie das gesagt? Das war keine gute Idee. Das war eine schreckliche Idee. Das war die schlimmste Idee, die sie je gehabt hatte.

»Sorry, sorry«, sagte sie hastig und nahm die Hände vom Gesicht, »ich meine, sie ist nicht tot im eigentlichen Sinne.«

Philomena ließ die Hand sinken.

»Verstehe«, sagte sie langsam. »Nicht tot im eigentlichen Sinne.«

»Genau. Sie ist nicht tot, aber sie ist … sie ist krank. Furchtbar krank.«

»Nun. Tut mir leid, das zu hören, Lorrie.«

»Danke, Phil. Das bedeutet mir viel.«

»Darf ich fragen, um was für eine Krankheit es sich handelt?«

»Oh. Also. Wir haben gerade erfahren, dass sie – dass sie Krebs hat. Eine der … schlimmen Arten … von Krebs.«

»Das sind schrecklich traurige Neuigkeiten«, sagte Philomena, streckte die Hand aus und tätschelte Lorrie unbeholfen die Schulter. »Welche Art Krebs genau?«

Was sollten die ganzen Fragen? Was war das hier, die Spanische Inquisition? Verdammt. Was war ein guter Fake-Krebs? Sie brauchte etwas, womit sie das Gespräch abwürgen konnte. Etwas, wozu Philomena nicht genauer nachhaken würde. Etwas wie –

»Scham. Sie hat Schamkrebs.«

Philomenas Augen weiteten sich. Innerlich verzog Lorrie das Gesicht. Warum hatte sie sich ausgerechnet für Schamkrebs entschieden? Gab’s das überhaupt? Tja, jetzt war es raus. Sie konnte ebenso gut dabei bleiben.

»Sie hat eine … Wucherung entdeckt, in ihrem, ähm, Schambereich? Und es wurde, äh, ein … Stück rausgenommen. Zum Testen.«

»Sie haben eine Biopsie gemacht?«

»Ja, genau, eine Biopsie. Erst gestern Abend haben wir die Laborergebnisse bekommen.«

»Oh, ich verstehe. Nun, das erklärt so einiges.«

»Es ist eine schwere Zeit.«

Die Worte, die aus Lorries Mund kamen, klangen in ihren Ohren widerlich und unecht, ganz offensichtlich ausgedacht. Was tat sie da bloß? Wie war sie dazu gekommen, mit achtunddreißig Jahren auf der Straße zu stehen und ihre Chefin über den Gesundheitszustand des Venushügels ihrer Mutter anzulügen?

Inzwischen sah Philomena sie mit sanfter Miene an, wodurch sie sich noch schlechter fühlte.

»Wie wäre es, wenn du dir heute Nachmittag freinimmst?«, sagte sie. »Eigentlich hättest du heute überhaupt nicht ins Büro kommen müssen.«

Wie kann sie nicht merken, dass das alles Blödsinn ist?, fragte sich Lorrie und musste den flüchtigen Impuls unterdrücken, wie eine Pantomime einem Passanten zuzuzwinkern. Warum hatte sie ständig das Bedürfnis, lustig zu sein? Was brachte ihr das? Aller Wahrscheinlichkeit nach ihre Entlassung.

»Vermutlich hast du recht. Wahrscheinlich hätte ich heute nicht kommen sollen. Aber für die Glup-Gardens-Sache heute Abend wollte ich da sein.«

»Was für ein schlechtes Timing. Du hättest mir das früher sagen sollen, weißt du? Dann hätte ich unser Gespräch über die Teamleiterstelle verschieben können.« Philomena runzelte die Stirn. »Tut mir leid, wenn dich die Nachricht über Harrys Beförderung zusätzlich aufgewühlt hat.«

Sie würden doch nicht etwa über die Tränen und ihren Ausfall sprechen? Bloß nicht.

»Nein, das war nichts. Mir geht’s gut. Es tut mir so leid wegen – allem. Mir ist jetzt klar, dass es bei einigen dieser, ähm, Sachen, die ich gesagt habe, eigentlich um Mum ging, nicht um die Arbeit. Ich freue mich für Harry, das tue ich wirklich. Schwein muss man sein!«

»Wie bitte?«

»Äh, haben! Schwein haben. Ein echter Glückspilz, der Harry.«

Sie sahen sich an. Lorrie dämmerte es, dass zwischen ihnen ein penetranter Geruch in der Luft hing. Was war das? Die Zigaretten? Ja – aber auch etwas anderes. Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag: Es war der Geruch von wässrigem Rosé.

Philomena stieß einen Seufzer aus. »Um ehrlich zu sein, Lorrie, du siehst echt nicht gut aus. Ich frage mich, ob …«

Auf einmal hatte Lorrie das Gefühl, dass sie dieses Gespräch keine Sekunde länger ertragen konnte. Sie musste hier weg.

»Mir geht’s gut, ehrlich, ich bin nur durcheinander wegen Mum, aber sonst geht’s mir bestens. Wirklich blendend. Aber ich gehe jetzt lieber, um … um mir Zeit zum Verarbeiten zu nehmen. Wir sehen uns heute Abend, ja?«

Bevor Philomena noch etwas sagen konnte, senkte Lorrie den Kopf, drehte sich um und eilte davon.

Sobald sie um die Ecke war und genug Distanz zwischen Philomena und sich gebracht hatte, blieb Lorrie stehen und lehnte sich gegen eine Hauswand. Was war da gerade geschehen? Was hatte sie getan? In ihrem Kopf drehte sich alles, aber der Rest ihres Körpers fühlte sich schwerfällig und taub an, als steckte er unter einer dicken Lehmschicht. Sie atmete heftig. Ihr war speiübel.

Wie konnte es sein, dass sie sich an diesem Morgen mit dem Gefühl auf den Weg zur Arbeit gemacht hatte, ein geschätztes Mitglied einer großen Organisation zu sein, das einen soliden Beitrag leistete, und eine mögliche Anwärterin auf eine Beförderung in eine Führungsposition? Und jetzt, nur wenige Stunden später, fühlte sie sich wie eine Ausgestoßene, eine Abtrünnige, ein fauler Apfel: jemand, der Führung nötig hatte. Wie konnte ihre Fassade der Professionalität bloß so bröckelig sein, dass sie beim kleinsten Stoß zu Staub zerfiel und diesen ungebärdigen Menschen darunter zum Vorschein brachte? Ging das allen so?

Unerwartet traf sie eine Welle der Erleichterung, dass nicht sie Teamleiterin werden würde, dass Harry und nicht sie sich alle vierzehn Tage in Philomenas Büro setzen musste, um zu besprechen, wie sie mit ihren beklagenswerten Mitarbeitern umgehen sollten. Was würde Lorrie mit sich machen, wenn sie selbst ihre Vorgesetzte wäre und herausfände, dass ihre Angestellte über die Krebserkrankung ihrer Mutter gelogen hatte, um sich vor der Verantwortung dafür zu drücken, sich wie eine theatralische Idiotin aufgeführt zu haben.

Die deprimierende Wahrheit war, dass sie das Problem wahrscheinlich einfach ausblenden würde, weil sie faul und weil sie ein Feigling war. Kein Wunder, dass man sie nicht hatte befördern wollen. Was für eine hoffnungslose Versagerin sie doch war.

Trotz allem, was man an Philomena aussetzen mochte, faul war sie nicht. Und auch kein Feigling. Wenn sie herausfand, dass Lorrie gelogen hatte, war sie am Arsch.

Lorrie wurde bewusst, dass sie wieder losgelaufen war, aber nicht in Richtung des Zugs, der sie nach Hause bringen würde. Sie ging in überhaupt keine Richtung. Sie bewegte sich einfach, setzte einen Fuß vor den anderen, bloß um etwas zu tun. Wenn sie stehen blieb, bestand die Gefahr, dass sie sich auf den Bürgersteig legte, bereit, sich von einer vorbeilaufenden Horde Büroangestellter zu Tode trampeln zu lassen.

Wieder klingelte ihr Handy. Gott, warum konnten sie nicht einfach alle in Ruhe lassen? Sie sah nach, wer es war, aber die Nummer war unbekannt. Sie ließ es zu Ende klingeln, dann hörte sie im Gehen die Nachricht auf der Mailbox ab.

»Lorrie. Hier ist Ruben. Ruben Armand. Ich ruf nur an, weil wir ein paar Stichpunkte zu Sebastians Lebenslauf vorbereitet haben, die du dir vielleicht ansehen möchtest, bevor du ihn heute Abend vorstellst. Ich schicke sie dir gleich rüber. Freu mich drauf, mich heute Abend mit dir zu unterhalten. Hab schon eine Weile nichts mehr von dir gehört.«

Das geisterhafte Echo eines alten, vertrauten Leids hallte durch Lorrie.

Sie steckte das Handy ein, überquerte die Straße an einer Ampel und erhaschte im Schaufenster des Geschäfts an der Ecke gegenüber einen Blick auf ihr Spiegelbild. Sie sah aus wie eine Verrückte: Ihre Haare waren feucht von der Kaffeedusche, die Wimperntusche war unter den Augen verschmiert, die Hände waren zu Fäusten geballt. Ihr Gesicht war zu einer angewiderten Schnute verzogen, als hätte sie soeben ein ekliges Viech über ihre Zahnbürste krabbeln sehen.

»Ich bin das eklige Viech«, murmelte sie vor sich hin.

Was würde ihr neunzehnjähriges Ich sagen, wenn es wüsste, dass sie Ruben ausgerechnet so wiedersehen würde? Er ein schicker Anwalt, der für einen Milliardär arbeitete und seinem Social-Media-Profil nach zu urteilen immer noch verdammt heiß war, Lorrie hingegen eine übergewichtige zweifache Mutter, die es nicht einmal schaffte, bei der Stadtverwaltung zur Teamleiterin befördert zu werden? Trostlos. So gottverdammt beschissen trostlos.

Sie blieb vor dem Schaufenster stehen, schüttelte Arme und Beine aus und versuchte, den schlaff herabhängenden Halbmond ihres Munds zu einem Lächeln zu verziehen. In gewisser Weise klappte das, denn ihr gespieltes Grinsen war so erbärmlich, dass es schon wieder lustig war, und sie musste darüber lachen, wie absurd ihr Gesicht aussah.

Wenn sie nur etwas finden könnte, das sie bei der Veranstaltung heute Abend tragen konnte, etwas, worin sie dreißig Kilo leichter und fünfzehn Jahre jünger aussah, dann würde vielleicht alles gut werden. Wenn sie etwas Schickes finden könnte, dann wäre sie vielleicht wieder gelassener, und diese verrückte Hexe, die ihr im Fenster entgegenblickte, würde sich wieder in das dunkle Loch zurückziehen, aus dem sie gekrochen war.

In einer perfekten Welt hätte Lorrie eine exklusive Boutique suchen, sich mit materiellen Gütern komplett neuerfinden und als aalglatte, sexy Business-Queen wieder auferstehen können. Aber die meisten luxuriösen Klamottenläden führten keine Kleidung über Größe 44, daher musste Lorrie in der realen Welt mit Kmart vorliebnehmen.

Eine tolle Alternative war das nicht. Die Abteilung für normale Größen bei Kmart war durchaus passabel: süße Kleider, schicke Blazer, Shirts mit hübschen Mustern und schmeichelhaften Ausschnitten. Die Plus-Size-Abteilung hingegen – das war eine ganz andere Geschichte. Sie war klein, und die Kleiderständer wurden von pastellfarbenen Caprihosen, Polyesteroberteilen mit Schmetterlingsärmeln und Cut-outs an den Schultern, langen Strickjacken aus Kunstfasern und wadenlangen Kleidern mit hässlichen Blumenprints dominiert.

Ist es nicht schon schlimm genug, dass wir dick durch die Welt gehen müssen?, überlegte Lorrie, während sie durch das Sortiment stöberte. Muss man uns auch noch mit diesen hässlichen Klamotten bestrafen? Dick zu sein war doch sicher schon demütigend genug. Mit anderen Fehlern konnte man davonkommen – wenn man gemein oder selbstsüchtig oder untreu oder gewalttätig war, wenn man eine schmutzige sexuelle Vorliebe oder ein widerlich dreckiges Haus hatte, konnte man ganz unbehelligt vor sich hin leben, ohne seine Schande jedem Menschen, dem man über den Weg lief, sofort zu offenbaren. Aber wenn man seinen Körper nicht im Zaum halten konnte – tja, Pech gehabt, Schätzchen. Deine Schenkel und Speckröllchen verkünden es lautstark jedem Menschen, dem du je über den Weg läufst.

Am Ende einer Kleiderstange blieb Lorries Blick an etwas Orange- und Rosafarbenem haften. Sie nahm es herunter. Es war ein Jumpsuit, offensichtlich der letzte seiner Art und stark reduziert.

Lächerlich, dachte sie, aber hängte ihn nicht zurück. Sie schnappte sich noch ein paar andere der etwas weniger scheußlichen Kleidungsstücke, die sie finden konnte – ein Wickelkleid mit Leoprint, ein schwarzes Maxikleid mit Synthetikspitze, ein schwarzes, mit kleinen bunten Punkten übersätes Button-down-Hemd und eine Kunstlederhose mit Stretch –, und machte sich auf den Weg zu den Umkleidekabinen. Besonders gut gefiel ihr nichts davon, aber sie war ihrer selbst so überdrüssig, dass es keine Rolle spielte. Sie wollte einfach nur wie jemand anderes aussehen.

Das Licht in der Umkleidekabine war angenehm weich, die Spiegel großzügig. Lorrie musterte sich. Sie sah überraschend akzeptabel aus, nicht annähernd so hexenmäßig wie vermutet. Ihr Gesicht war blass, und die verschmierte Wimperntusche erzeugte eine Art Smokey-Eyes-seit-gestern-Abend-Effekt. Sie kam zu dem Schluss, dass ihr das einen Hauch von verfallenem Glamour verlieh. Ich sehe aus wie eine Frau, die an der Liebe zerbrochen ist, dachte sie. Niemand würde ihr ansehen, dass sie in Wahrheit eine Frau war, die am mittleren Management zerbrochen war.

Sie probierte die Kunstlederhose an. Unter dem plastikartigen Material fingen ihre Beine direkt an zu schwitzen wie ein Paar dampfende Blutwürste. Sie versuchte es mit dem gepunkteten Oberteil, aber das sah extrem nach nette, aber deprimierte Grundschullehrerin mit großer Teetassensammlung aus, und das war definitiv nicht die erhoffte Wirkung.

Aber das Kleid mit dem Leoprint? Das vielleicht? Sie schlüpfte mit den Armen durch die Ärmel. Es war enger geschnitten als gedacht, und sie tat sich schwer, es über der Brust zu schließen. Sie guckte in den Spiegel und hoffte, dass es besser aussah, als es sich anfühlte, aber wie sich herausstellte, war es noch schlimmer – dem Spiegel zufolge sah sie jetzt wie eine flotte Puffmutter in einem besonders billigen Bordell aus. Sie probierte das spitzenbesetzte schwarze Maxikleid an – mit ähnlichem Ergebnis (Goth-Braut auf einer Walhochzeit).

Zuletzt zog sie den Jumpsuit an. Er war aus leichtem seidigem Stoff mit dezent aufgedruckten abstrakten Papageien und Palmen. Er hatte lange Ärmel, weite Beine und einen relativ tiefen V-Ausschnitt. Sie hatte ihn vor allem aus Jux mitgenommen, weil sie hoffte, dass ihr Anblick in diesem lächerlichen Kleidungsstück so ulkig war, dass er sie aus ihrem emotionalen Tief holte. Sie zog die untere Hälfte hoch, schob die Arme in die Ärmel und griff nach hinten, um eine Reihe frickeliger Knöpfe am Rücken zu schließen. Bereit für einen Lacher betrachtete sie sich im Spiegel.

Der Effekt war nicht wie erwartet. Der Jumpsuit passte wie angegossen. Der Stoff umspielte die Taille, fiel ihr über die Hüfte und schmiegte sich um ihre Brust.

Oh, wow, dachte sie. Ich sehe … irgendwie heiß aus.

Sofort nahm sie das wieder zurück. Sie konnte nicht heiß aussehen. Sie war eine übergewichtige zweifache Mutter, die auf die vierzig zuging: Sie konnte gar nicht heiß aussehen. Aber in dem Jumpsuit sah sie aus wie – wie jemand, der sich selbst für heiß hielt? Und das machte sie irgendwie … heißer, als sie eigentlich war? Es handelte sich um eine unbestreitbar fesselnde optische Täuschung.

Sie betrachtete sich aus verschiedenen Blickwinkeln. Sie war rund, das stimmte, aber nicht völlig unförmig. Sie hatte immer noch eine definierte Taille und kurvige Hüften. Unter dem hautengen Jumpsuit sahen ihre Brüste, offen gesagt, kolossal aus.

Die Frau im Spiegel sah nicht wie Lorrie aus. Aber gut sah sie aus, diese Frau im Spiegel. Könnte sie diese Frau sein?

Manchmal sah Lorrie kräftigere Frauen in ähnlich gewagter Kleidung, die sich der Welt mit einer dreisten Leck-mich-Haltung präsentierten. Sie bewunderte sie dafür, dass sie ihre Körper akzeptierten und sich einen Dreck darum scherten, was andere dachten; sie wusste, wie viel Arbeit es brauchte, um als kompromisslos dicker Mensch in der Welt zu existieren. Und doch schämte sich ein dummer Teil ihres Gehirns immer für diese Frauen fremd. Begreifen die denn nicht, dass sie fett sind?, flüsterte er ihr dann zu. Wissen die denn nicht, dass sie sich deswegen schlecht fühlen sollten?

Sie zog den Jumpsuit aus, wobei sie es sorgfältig vermied, ihr entblößtes weißes Fleisch allzu genau im Spiegel zu betrachten, und schlüpfte wieder in ihre eigenen Kleider. Sie erkannte jetzt, dass ihr Outfit als Entschuldigung für ihren Körper diente – seine Aufgabe war es, die Augen ihrer Mitmenschen vor der Realität ihrer Rollmopsfigur zu schützen. Wie fast alles, was sie besaß, war es schwarz und wallend – die Art von Montur, die ein Nilpferd bei seinem Uniabschluss tragen würde. Das Kostüm eines Feiglings.

Sie ging ihre Optionen durch.

Scheiß drauf.

Sie nahm den Jumpsuit mit zur Selbstscannerkasse und war dankbar, dass sie nicht mit einer Kassiererin interagieren musste. Sie bezahlte und nagte die kleinen Plastikverschlüsse mit den Zähnen durch, um die Etiketten zu entfernen, dann kehrte sie in die Umkleidekabine zurück, wo sie sich auszog, ihre alten Kleider in einen Mehrwegbeutel stopfte, den sie immer in der Handtasche hatte, und den Jumpsuit wieder anzog. Sie trug etwas Lippenstift auf, korrigierte ihre Wimperntusche und betrachtete sich. Ja, dachte sie. Sie konnte das. Sie konnte diese Frau sein. Sie konnte so tun, als würde sie sich weniger für sich schämen, als sie es in Wahrheit tat.

Draußen auf der Straße guckte Lorrie auf ihr Arbeitshandy. An ihrer E-Mail-App prangte ein roter Kreis, der zwölf ungelesene Nachrichten anzeigte. Wie auch immer, dachte sie. Ohne auch nur eine davon zu öffnen, sperrte sie den Bildschirm.

Bis zum Glup-Gardens-Event hatte sie immer noch drei Stunden totzuschlagen. Unsicher, was sie mit sich anfangen sollte, ließ sie sich auf eine Bank sinken. Seit den Kindern hatte Lorrie selten auch nur drei Minuten für sich, geschweige denn ganze drei Stunden. Eigentlich sollte eine Auszeit doch etwas Gutes sein, das vermutete sie zumindest – sie sollte sie nutzen, um sich zu sammeln, ihr ganzes Dasein neu zu ordnen, einen Weg zu finden, mit Philomena umzugehen, einen Weg, die unerwartete Traurigkeit abzustellen, die sie beim Klang von Rubens Stimme befallen hatte. Aber sie konnte sich nicht beruhigen. Immer wieder musste sie an Philomena denken, daran, wie sie sie nach dem Zigarettenzwischenfall angesehen hatte.

Bis heute war Lorrie davon überzeugt gewesen, dass Philomena sie relativ gernhatte – jedenfalls soweit sie dazu in der Lage war, etwas gernzuhaben, das weder bellte noch apportierte noch die eigene Scheiße fraß. Ihr Umgang miteinander war zwar unpersönlich, aber stets freundlich gewesen. Doch heute hatte Lorries Verhalten den Glanz der Höflichkeit entfernt, der ihre Beziehung normalerweise schmierte, und darunter hatte Lorrie eine unübersehbare Schicht Verachtung entdeckt.

Hatte Philomena sie vielleicht noch nie leiden können? Lorrie hielt das für möglich, aber der Gedanke war unerträglich. Sie gab sich so viel Mühe, sympathisch zu sein. Sympathisch sein war ihr Ding, es war das Wichtigste, was sie zu bieten hatte. Als Kind war sie nie beliebt gewesen, das stimmte, aber seit sie aus dem frostigen Gefängnis der eigenen Schüchternheit ausgebrochen war – zunächst dank der befreienden Kraft von Sekt und Apfelwein und später durch die Erkenntnis, dass andere Menschen, genau wie Spinnen oder Schlangen, in der Regel mehr Angst vor ihr hatten als sie vor ihnen –, hatte sie Strategien gelernt, wie sie anderen sympathisch sein konnte. Sie war gutmütig und locker, sie war lustig, sie interessierte sich aufrichtig für das Leben anderer Leute. Vor allem aber war sie nett, immer und zu jedem. Sie war nett zu Menschen, die sie liebhatte, sie war nett zu Kollegen und Bekannten, sie war nett zu Verkäuferinnen, sie war nett zu Leuten, die auf der Straße nach dem Weg fragten, sie war nett zu hochnäsigen Kellnern, sie war nett zu Stromverkäufern, die an ihrer Tür klingelten. Sogar zu Schrumpfhand-Harry war sie nett (na ja, meistens jedenfalls). Sie war nett zu Leuten, die es brauchten, und sogar noch netter zu Leuten, die es nicht verdienten. Langweiler und Trottel, Idioten, Dreckskerle, Soziopathen und Narzissten – das waren die Menschen, bei denen Lorrie sich von ihrer charmantesten Seite zeigte. Je schlechter jemand war, umso besser wurde sie in dessen Nähe.

Nun wurde ihr bewusst, dass diese ganze Nettigkeit keine besonders altruistische Verhaltensweise war. Mit einem Übelkeit erregenden Schlag wurde ihr klar, dass sie davon ausgegangen war, sie müsse nur nett genug sein, dann hätten die Leute gar keine andere Wahl, als sie für ihr gutes Benehmen zu belohnen.

Was für eine Idiotin ich doch bin, dachte sie. Was für ein schwachsinniger Haufen aufgeblasener menschlicher Zuckerwatte.

Sie rieb sich die Schläfen. Vor lauter Selbstekel war ihr übel. Was konnte sie tun, um sich aufzuheitern, was nur konnte die giftige Flut von Selbsthass eindämmen, die in diesem Moment durch ihren Körper pulsierte?

Wieder zückte sie ihr Handy und öffnete das Internetfenster.

wie k

Während sie tippte, lieferte der Browser Vorschläge: wie kalt ist es im weltall? wie kann ich mich gegen die sigma variante schützen?

wie kann ich

(wie kann ich kleinere brüste bekommen? wie kann ich japanisch lernen?)

wie kann ich dafür sorgen

(wie kann ich dafür sorgen, dass ich schneller abnehme? wie kann ich dafür sorgen, dass andere mich mögen?)

wie kann ich dafür sorgen, dass es mir wieder besser geht?

Wohl wissend, was für ein verzweifelter Schritt das war, und in dem dumpfen Bewusstsein, dass die Suche nach innerer Ruhe im Internet in etwa so war, als würde man zum Abtrocknen in einen Pool springen, klickte sie den Eingabe-Button.

Sie klickte auf den ersten Artikel, der oben in der Suchmaschine erschien: Schluss mit Trübsalblasen – 27 Tipps gegen die Krise!

»Hier bei goodvibesonly dot com«, hieß es, »wird Kundenzufriedenheit großgeschrieben, aber noch größer schreiben wir LEBENSZufriedenheit.«

Hastig schloss Lorrie das Browserfenster und versuchte es mit einem Artikel weiter unten in den Suchergebnissen mit dem Titel »Selbstfürsorge für fürsorgliche Mütter«. Das bin ich, dachte sie. Ich bin eine fürsorgliche Mutter.

Wir wissen, dass Sie als viel beschäftigte berufstätige Mama auf Hochtouren gesunde Mahlzeiten für Ihre Familie kochen, ins Fitnessstudio gehen, Ihre KPIs rocken und die Kindererziehung koordinieren.

Nope, dachte Lorrie.

Das Leben kann hart sein, wenn man sich selbst immer hintanstellt. Aber vergessen Sie nicht, wie wichtig es ist, sich Zeit für sich selbst zu nehmen. Sie wissen ja: Nur wenn es Ihnen gut geht, können Sie auch Ihrer Familie Gutes tun. Warum gönnen Sie sich nicht eine Stunde für eine Pediküre, einen Friseurbesuch oder um einen neuen Sportkurs auszuprobieren?

»Warum fickst du dich nicht einfach ins Knie?«, murmelte Lorrie. Sie googelte die Autorin des Artikels und fand mehrere Bilder von einer Hochglanz-Frau mit aggressiven Wangenknochen. Lorrie seufzte. Genauso gut hätte sie bei einer Heißluftfritteuse nach Seelentrost suchen können.

Es war kein Zufall, dachte Lorrie, dass man im Internet nie Tipps zur Selbstfürsorge fand, die gratis oder entspannend waren oder wirklich Spaß machten, wie zum Beispiel unter der Woche bis um drei Uhr morgens aufzubleiben und sich ganze Staffeln von RuPaul’s Drag Race reinzuziehen oder es sich zu besorgen.

Sie zog eine Zigarette aus der halb vollen Schachtel in ihrer Handtasche. Das hier, Baby, dachte sie und nahm einen langen, genüsslichen Zug, wobei sie den typischen kurzen, berauschenden Schwindelanfall spürte, das hier ist Selbstfürsorge.

Vor ihr hielt eine Straßenbahn, auf deren Seite ein riesiges Bild eines Hais mit Partyhut prangte, zwischen dessen enormen, funkelnden Zähnen ein menschenförmiges Stück Kuchen steckte. Was für eine Welt, dachte Lorrie. Sie hatte keine Ahnung, was damit beworben wurde, aber eine unterschwellige Wirkung auf ihr Gehirn hatte es definitiv. Sie fragte sich, ob sie vielleicht ins Aquarium gehen und sich die Fische dort ansehen sollte. Die befremdliche Andersartigkeit von Meerestieren machte ihr Freude, ihr Aussehen, als wären sie am Ende eines einwöchigen Meth-Gelages den brodelnden Untiefen der Fantasie eines Verrückten entsprungen. Sie war froh, Atheistin zu sein – wenn es Gott gab, dann hatte sie Armflosser und Pelikanaale erfunden. Mit so einer wollte Lorrie nichts zu tun haben.

Ohne darauf zu achten, wohin die Straßenbahn fuhr, stieg Lorrie ein. Sie fand einen Platz im hinteren Teil des Waggons. Ihr gegenüber saß ein Mann mit dunkler Haut in einem glänzenden, knallpinken Trainingsanzug. Er hörte mit Kopfhörern Musik, hatte die Augen geschlossen und summte vor sich hin. Eigentlich sah er gut aus, aber ihn umgab eine deutlich wahnsinnige Aura, die den Reiz seines ansonsten attraktiven Gesichts zunichte machte.

Lorrie musterte ihn und versuchte herauszufinden, wie alt er war, warum er einen pinken Trainingsanzug trug und welches Lied er gerade hörte. Die Melodie, die er summte, kam ihr bekannt vor, aber sie konnte sie nicht zuordnen. Plötzlich, ohne Vorwarnung, schlug er die Augen auf. Er sah Lorrie direkt an und begann in einem vollen, melancholischen Tenor zu singen – Gott, was war das für ein Lied? Irgendwas über tiefsinnige Fragen, irgendwas mit dem Wort absurd darin. Er schien von ihr zu verlangen, ihm zu sagen, wer er war.

Dann endete der Refrain, er lächelte sie an, schloss die Augen und summte weiter.

Die anderen Fahrgäste hatten sich alle subtil von ihm abgewandt, Handys in der Hand, die Köpfe absichtlich gesenkt. Normalerweise wäre auch Lorrie von ihm weggerückt oder hätte sich zumindest über ihr Handy gebeugt, um nicht mit diesem offensichtlichen Spinner in Kontakt treten zu müssen. Aber heute war kein Tag wie jeder andere. Heute war Lorrie crazy drauf. Sie hatte vor ihrer Chefin geweint. Sie hatte während der Arbeitszeit getrunken. Sie trug einen seidigen orangefarbenen Jumpsuit, der ihre Kurven betonte. Wer war sie, über die Exzentrizität eines Mannes zu urteilen? Sie beschloss, aus Solidarität bei ihm zu bleiben. Du bist einer von uns, dachte sie. Ich bin eine von euch.

Sie wünschte, sie würde den Rest des Lieds kennen, damit sie mit ihm mitsingen konnte. Sie sammelte ihren Mut zusammen, um ihn anzusprechen, ihm zu danken, dass er für sie gesungen hatte, aber an der nächsten Haltestelle stand er auf und ging zum Ausstieg. Als er an ihr vorbeikam, legte er Lorrie die Hand auf die Schulter und drückte kurz zu. Lorrie drehte sich auf ihrem Sitz und beobachtete, wie er davonjoggte, wobei sein glänzender Trainingsanzug als Farbklecks über die triste Straße der Stadt hüpfte.

Was war das denn bitte?

Die Straßenbahn brachte sie aus der Stadtmitte über den trüben braunen Fluss, der sich am Stadtrand entlangschlängelte. Sie stieg ein paar Haltestellen südlich des Hauptgeschäftszentrums aus. Auf der einen Seite der Straße lag der Park, in dem sie als Jugendliche gekifft hatte, und auf der anderen Seite war die National Gallery. Sie empfand es als glücklichen Zufall, dass sie hier gelandet war, denn im Grunde genommen waren Natur und Kunst die beiden Dinge, die sie am liebsten mochte (zumindest, wenn man den Kunstbegriff weit genug fasste, um sowohl die Werke Caravaggios als auch das TV-Vermächtnis von Darren Star einzuschließen). Einen Moment lang blieb Lorrie an der Straßenbahnhaltestelle stehen, die Hände in die Hüften gestemmt, und versuchte herauszufinden, welche Art von Balsam für die Seele sich bei ihrem momentanen Leiden am wirksamsten zeigen würde. Die Gärten waren weitläufig und üppig – aber in der Kunstgalerie gab es Kaffee, und Lorrie befiel die Art von nachmittäglicher Schläfrigkeit, die sie jedes Mal wie ein verschreibungspflichtiges Opiat einhüllte, wenn sie den Fehler beging, in der Mittagspause zu trinken.

Im Museumscafé war es ungewöhnlich ruhig. Eine Gruppe von Frauen Mitte sechzig mit teuer aussehenden schwarzen Outfits und Statement-Halsketten war da, ein paar Touristen in Freizeitjeans und T-Shirts und eine Gruppe Jugendlicher, die offenbar alle eine Art Uniform aus den absichtlich unvorteilhaftesten Kleidungsstücken trugen, die sie hatten finden können (klobige Turnschuhe, Jeans mit weit geschnittenen Beinen, die zwei, drei Zentimeter zu kurz waren, übergroße Pullover in Neonfarben). Lorrie verstand die Ästhetik der Jugend von heute nicht so ganz, aber sie erinnerte sich noch daran, dass sie als Teenager in langen geblümten Röcken und Converse-Turnschuhen, mit Chokern und Babydollkleidern unterwegs gewesen war. In einer kurzen Phase Anfang zwanzig hatte Lorrie unironisch bauchfreie T-Shirts und knielange karierte Röcke über Jeans getragen. Sie war in keiner Position, über die Jugendlichen zu urteilen.

Die jungen Leute wirkten unbeholfen und schienen sich unwohl zu fühlen. Lorrie beobachtete ihre aufgesetzten Interaktionen und empfand eine überwältigende Liebe für sie. Zu solchen Kreaturen würden auch ihre Kinder heranwachsen, pickelig und knochig oder deutlich mollig – und sich der eigenen krassen, qualvollen Schönheit nicht bewusst, bis es zu spät war, sie voll auszunutzen. Diese armen jungen Menschen, die versuchten, sich selbst zu finden, während um sie herum der Planet starb. Wenigstens hatte sie damals in dem Alter noch Hoffnung gehabt.

Sie trank ihren Latte und versuchte in ihrem Jumpsuit, der, wie sie festgestellt hatte, an den Oberschenkeln ein wenig zu eng saß und beim Sitzen am Bauch spannte, nicht verlegen auszusehen. Zum Glück schienen die jungen Leute sie nicht anzugucken – oder überhaupt bemerkt zu haben. Sie konnte sich nicht erinnern, was sie in dem Alter über Frauen in den Dreißigern gedacht hatte. Wahrscheinlich hatte sie gar nicht über sie nachgedacht. In Lorries Coming-of-Age-Melodrama hatten nur die Erwachsenen im Fokus gestanden, die die Bösewichte spielten – also diejenigen, die ihr sagten, was sie nicht tun durfte. Ansonsten fanden Erwachsene weitgehend am Rande der Geschichte statt, als Ansammlung beiger Statisten, kaum wichtiger als die Hintergrundkulisse.

Sie war ein wenig peinlich berührt, als sie diese jungen Menschen beobachtete in dem Wissen, dass die sie gar nicht wahrnahmen. Verhielt sie sich etwa wie ein Spanner? In Sekundenschnelle leerte sie ihren Kaffee und machte sich auf den Weg zum Ticketschalter.

Vor Kurzem hatte das Museum eine Ausstellung über abstrakte Kunst aus der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts beworben, die Lorrie eigentlich sehen wollte, aber sie hatte bereits eine Woche zuvor geendet. Stattdessen wurde eine Ausstellung eines regionalen Künstlers gezeigt, der im Vorjahr durch den Verkauf von NFTs extrem berühmt geworden war. Sie trug den Titel TOMORROW BABIES und präsentierte auf riesigen Bildschirmen die ultrarealistischen digitalen Gemälde des Künstlers von Neugeborenen, die bei Kaiserschnitten aus dem Mutterleib gehoben wurden. Auf die eine oder andere Weise waren die Babys allesamt grotesk – sie hatten Eidechsenköpfe, keine Haut oder mehrere Penisse. Eines hielt ein blutverschmiertes Miniatur-Sturmgewehr umklammert, ein anderes trug sowohl Gesichtsbemalung als auch eine Lockenperücke wie Ronald McDonald, und bei einem anderen ragten statt Händen glatte fleischfarbene Fernbedienungen aus den Handgelenken.

Lorrie schlenderte an den Bildschirmen vorbei und überlegte, was sie von den Kunstwerken hielt. Im Grunde genommen waren sie unglaublich, aber auch unglaublich unangenehm. Irgendwie war der Gesamteindruck auf nichtssagende Art grauenvoll, wie die Hülle eines bösen Witzes, aus dem der ganze Humor herausgekratzt worden war.

Ihr fiel auf, dass die Mutter in jedem Werk mit fachmännischer Präzision als nackter Klumpen menschlichen Fleisches dargestellt war: blutend, aufgeschlitzt, der Kopf außerhalb des Bildes. Die Hautfarben der Frauen variierten, aber die grundsätzliche Form war im Wesentlichen identisch – lange, glänzende Beine, pornografisch runde, stehende Brüste, aufgespreizter Torso. Um jede kopflose Frau war im Hintergrund eine Gruppe von Menschen in medizinischer Arbeitskleidung zu sehen, in deren Zentrum immer der gleiche Arzt stand, mit Maske und Handschuhen, der einen missgestalteten Säugling fest gepackt hielt und aus dem Bauch der Mutter hob.

»Hmm«, sagte Lorrie zu niemand Bestimmtem und kniff die Augen zusammen.

Der letzte Raum der Ausstellung war anders als die anderen. Darin stand ein einzelner, mindestens vier Meter hoher Riesenbildschirm, der eine nackte Frau von hinten auf allen vieren zeigte. Die Köpfe von etwas, das ganz nach siamesischen Panda-Zwillingen aussah, tauchten aus – o Mann! Lorrie blinzelte und sah noch einmal hin –, ja, die Pandas kamen aus dem grotesk weit gedehnten Anus der Frau. Lorrie fühlte sich abgestoßen, was wahrscheinlich der gewünschte Effekt war, und auch erschöpft. Sicher hatte das Werk eine Bedeutung, der Künstler wollte damit etwas ausdrücken – aber im Grunde war ihr das scheißegal. Sie konnte es nicht ausstehen.

Sie sollte sich etwas anderes ansehen, dachte sie. Das war nicht das, was sie brauchte, jedenfalls nicht heute. Heute brauchte sie Kunst, die Schönheit und Freude für sich genommen als würdige Motive betrachtete, Werke, die Verehrung, Ehrfurcht oder Mitgefühl für die Welt ausdrückten. Diese Art von Kunst berührte sie in einem noch immer empfindsamen Teil ihrer Seele, obwohl sie einsah, dass solche Werke größtenteils zum Relikt wurden – sie waren zurückgetreten, um als Dekorationsobjekt oder kuriose historische Artefakte zu existieren, die für das moderne Leben ungefähr so relevant waren wie ein Einwahlmodem.

Während Lorrie noch vor dem riesigen Pandababy-Anus-Bild stand, vibrierte ihre Handtasche. Auf der Suche nach ihrem Handy kramte sie darin herum. Was zur Hölle? Kurz fragte sie sich, wa-rum Schrumpfhand-Harry sie wohl anrief – kam dann aber rasch zu dem Schluss, dass es ihr am Arsch vorbeiging.

Sie ließ es ausklingeln und wollte das Handy gerade wieder einstecken, als es erneut anfing.

»Harry«, sagte sie beim Abheben und bemühte sich um einen neutralen Tonfall.

»Lorrie, hi, danke, dass du rangegangen bist, und entschuldige die Störung – Philomena meinte, du wolltest dir den Nachmittag freinehmen.«

»Das versuche ich.«

»Ich habe das von deiner Mutter gehört.«

Verdammt. Wie so eine Idiotin hatte Lorrie damit nicht gerechnet. Wie hatte sie nicht ahnen können, dass Philomena die Neuigkeiten mit ihrem Lieblingswunderknaben teilen würde? Nun musste sie mit dem Menschen, den sie auf dieser Welt am wenigsten mochte, über den imaginären Schamkrebs ihrer Mutter sprechen.

»Ich wollte dir sagen, wie leid mir das tut«, teilte ihr Harry mit. »Ich weiß nicht, ob du das wusstest, aber vor drei Jahren wurde bei meiner Mutter ebenfalls Krebs diagnostiziert. Es ist so schwer, damit fertigzuwerden.«

Scheiße, Scheiße, Scheiße.

»Tut mir so leid, das zu hören«, sagte Lorrie, die Stimme kaum mehr als ein Flüstern. »Ich hoffe, es geht ihr so weit gut.«

»Sie hält sich tapfer.«

»Gut … das ist gut zu hören«, sagte Lorrie matt.

»Ich wollte dir nur sagen, ich weiß, dass du das durchstehen wirst, und ich bin für dich da, falls du jemanden zum Reden brauchst.«

»Danke, Harry. Das ist echt nett von dir. Ich weiß es echt zu schätzen, dass du mich angerufen hast«, sagte sie und wollte gerade auflegen, um sich ein tiefes Loch zu suchen, in das sie sich stürzen konnte, als ihr klar wurde, dass Harry immer noch sprach.

»Eigentlich ist das nicht der einzige Grund, warum ich angerufen habe«, sagte er.

»Nicht?«

»Nein. Philomena hat mich gebeten, mit dir zu sprechen, weil sie nach reiflicher Überlegung der Ansicht ist, es sei vielleicht keine gute Idee, wenn du heute Abend zur Glup-Gardens-Eröffnung kommst. Wenn man bedenkt, was für eine emotionale Zeit das für dich ist.«

»Aber – ich …« Lorrie fehlten die Worte.

»Sie hätte dich selbst angerufen, aber sie ist den ganzen Nachmittag in einer Besprechung.«

Lorrie guckte auf den zweiköpfigen Anus-Panda vor sich. Der zweiköpfige Anus-Panda guckte zurück.

»Aber ich soll eine Rede halten, Harry. Ich stelle Sebastian Glup vor.«

»Ja, das verstehe ich. Es ist nur so, Philomena findet, bei allem, was du gerade durchmachst, ist es wohl besser, wenn ich einspringe. Um dir was von der Last abzunehmen.«

Unter normalen Umständen hätte Lorrie wohl Luftsprünge gemacht, wenn man ihr angeboten hätte, die Verpflichtung, eine Rede vor Publikum zu halten, an einen Kollegen abzutreten. Aber nicht heute. Heute waren die Umstände alles andere als normal. Sie spürte ein Prickeln von ihren Fußsohlen aufsteigen.

»Willst du mich verarschen, Harry? Das ist mein Projekt. Das war meine Idee. Ich habe den ganzen Mist auf die Beine gestellt!«

»Natürlich ist das dein Projekt, Lorrie. Aber bei allem, was gerade bei dir los ist …«

»Mir geht’s gut! Ich habe Philomena gesagt, dass ich nur den Nachmittag freibrauche!«

»Ich versteh dich ja, aber so wichtig, wie der heutige Abend ist, denke ich, es wäre eine gute Idee …«

»Es ist mir egal, was du denkst, Harry!«

Ihr wurde bewusst, dass sie beinahe schrie. Ein Museumswärter kam auf sie zu, vermutlich um sie zum Gehen aufzufordern. Sie drehte sich von ihm weg, holte tief Luft und senkte die Stimme.

»Tut mir leid. Ich hätte nicht laut werden sollen. Aber du kannst Philomena ausrichten, dass ich heute Abend da sein werde und Glup vorstelle. Ich komme schon klar.«

»Lorrie …«

»Wenn Phil das weiter besprechen will, sag ihr, sie kann mich selbst anrufen.«

Sie legte auf.