TEIL 7
Epilog
Lorrie hatte nicht beabsichtigt, mit ihrem Auftritt auf der Bühne ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Sie war betrunken gewesen und ein bisschen high, und womöglich hatte sie mitten in einem kleinen Nervenzusammenbruch gesteckt, aber komplett den Verstand verloren hatte sie nicht. In Wahrheit verhielt sich das so: Sie war näher an der Bühne gewesen als alle anderen und hatte sehen können, dass die Waffe in Danas Hand zu leicht war, zu minderwertig aussah, um echt zu sein. Unten an der Bühne, von wo aus Lorrie die Waffe gesehen hatte, nachdem Dana sie beiseite geschubst hatte, von diesem Winkel aus war es offensichtlich gewesen, dass die Unterseite der Waffe aus billigem Plastik bestand. Soweit Lorrie das beurteilen konnte, war Dana eine leidenschaftliche Umweltaktivistin – ganz offensichtlich eine etwas durchgeknallte, theatralische –, aber wie eine eiskalte Mörderin kam sie Lorrie nicht vor.
Lorries Theorie stellte sich als richtig heraus: Die Pistole, die Dana Sebastian an den Kopf hielt, war eine Requisite, die sie aus dem Fundus der Improvisationstruppe hatte mitgehen lassen, mit der sie gelegentlich am Wochenende abhing.
Leider hatte Lorrie den Bodyguard nicht bedacht. Im Gegensatz zu Danas Pistole war seine aus Metall und mit Kugeln gefüllt. Diese Waffe war es, die den Himmel aufriss und Blut, Schreie und Chaos verursachte. Der Bodyguard drückte ab, und ein kleiner, harter Zylinder, der zu nichts anderem bestimmt war, als ein Leben zu beenden, durchbohrte das Fleisch an Danas Oberarm. Sie ließ ihre Attrappe fallen und Sebastian los, der in die Knie sank. Die Kugel, die ein Loch in Danas Körper gerissen hatte, gab sich noch nicht zufrieden. Sie zischte weiter durch die Luft, bis sie ihr endgültiges Ziel erreichte: das Innere von Lorries Brust, nur wenige Zentimeter von ihrem Herzen entfernt.
So viel Blut überall. Gott sei Dank, sagten danach alle, Gott sei Dank war Harry Mercado da. Während Dana den Bodyguard anbrüllte, dass er ihr in den verdammten Arm geschossen und eine Frau getötet hatte, und Philomena immer noch im Publikum saß und eine ausgewachsene Panikattacke durchlebte und Alex immer noch alles filmte, während das alles geschah, sprang Harry, der einen Erste-Hilfe-Schein von der St John Ambulance hatte, auf die Bühne, riss sich die Jacke vom Leib und drückte sie Lorrie auf die Wunde, wodurch er verhinderte, dass in der Zeit, bis die Sanitäter eintrafen und Lorrie, Dana und Glup ins Krankenhaus brachten, der starke Blutverlust zum tödlichen Blutverlust wurde.
Das alles war acht Monate her. Lorrie hatte sich gut erholt. Manchmal tat die Stelle, in der die Kugel gesteckt hatte, immer noch weh, als wollte ihr Körper sie in regelmäßigen Abständen daran erinnern, was sie ihm zugemutet hatte – und was für eine Idiotin sie gewesen war.
Sobald sie fit genug war, fing sie an, täglich spazieren zu gehen, zum einen, um ihren Körper bei der Heilung nach der Operation zu unterstützen, und zum anderen, weil sie dachte, dass sie dadurch die paar Kilo fernhalten konnte, die sie seit der OP abgenommen hatte. (Wie sich herausstellte, war angeschossen zu werden deutlich effektiver als jede noch so strenge Diät.) Manchmal kamen ihre Töchter mit, und alle drei gingen in Claras langsamem Kleinkindtempo, hielten alle paar Meter an, um ein Blatt, eine Feder oder einen besonders bemerkenswerten Backstein zu untersuchen, und Ruthie ließ sich lang und breit über ihre neuen magischen Fähigkeiten oder ihre jüngste noble Mission aus – Themen, für die Lorries Geduld seit dem Flirt mit der Sterblichkeit vor Kurzem ganz neue Ausmaße erreicht hatte.
Meistens jedoch machte sie diese Spaziergänge allein, verbrachte halbstündige Intervalle außerhalb des Hauses, hörte auf Kopfhörern Musik oder ließ einfach nur die Geräusche der Welt auf sich einprasseln – das Schackern der Elstern, den rumpelnden Verkehr auf der Bell Street, den Wind. Diese Spaziergänge fand sie wunderbar und zugleich beunruhigend. Zeit allein zu verbringen, ganz allein zu sein, war aufregend und beängstigend, als wäre sie plötzlich losgelöst von der Schwerkraft – ja, sie konnte fliegen, was durchaus aufregend war – aber alles, was sie kannte und liebte, war immer noch fest mit dem Boden verbunden.
Heute war sie allein unterwegs, aber sie schlenderte nicht wie sonst ziellos umher. Heute war sie auf dem Weg zu einem Café ein paar Kilometer von ihrem Haus entfernt, das eine grimmige Deutsche mit Dreadlocks führte, die Lorrie manchmal behandelte, als wäre sie eine alte Freundin, und manchmal, als sähe sie sie zum ersten Mal.
Sie war dort mit Alex verabredet.
Sie hatten sich nicht mehr gesehen, nicht seit Glup Gardens. Alex hatte versucht, mit Lorrie im Rettungswagen mitzufahren, durfte aber nicht – zum einen aus Platzmangel und zum anderen, weil Lorrie, als sie sich ihr näherte, etwas stöhnte, das ganz nach Verpiss dich und geh sterben klang, und die Sanitäter daher vorschlugen, dass Alex ihr vielleicht etwas Freiraum lassen sollte. Als Lorrie nach der Operation aufwachte, bat sie Paul, Alex auszurichten, sie wolle sie nicht sehen.
Eigentlich hatte Lorrie eine Weile lang überhaupt niemanden sehen wollen. In dieser seltsamen Übergangszeit der Genesung wollte sie nichts anderes, als mit Clara und Ruthie auf der Couch kuscheln und sich immer wieder Frozen II ansehen, bis alle drei sämtliche Dialoge und jedes Wort von jedem Lied von vorne bis hinten auswendig kannten.
Clara wachte immer noch viel zu früh auf, aber sie hatte sich in den Tagen nach Glup Gardens, während Lorrie im Krankenhaus lag, von der Brust entwöhnt, und so holte Lorrie sie, anstatt sie zu stillen, zu sich und Paul ins Bett und kitzelte sie leicht am Arm, bis sie beide wieder einschliefen.
Paul nahm sich von der Arbeit frei, und Anne kam häufig vorbei. (»Ach Liebling, du hast ja so viel abgenommen!«, hatte sie beim dritten Besuch begeistert ausgerufen. »Du solltest dich öfter anschießen lassen!«) Ansonsten gestattete Lorrie es nur einem weiteren Menschen, sie zu besuchen, und zwar Harry, dem sie, nachdem er sie offenbar vor dem Verbluten auf dem Dach gerettet hatte, zähneknirschend wohlgesinnt war. Harry hatte ihr köstliche französische Macarons mitgebracht, nach denen die Kinder ganz verrückt waren und die er wohl selbst gebacken hatte, nachdem er einen Abendkurs in französischer Backkunst belegt hatte. »Eigentlich ist er ganz nett«, bemerkte Paul hinterher, »für einen Typen mit Händen so groß wie eine Babyratte.«
Ivan hatte ein Carepaket vorbeigebracht, bestehend aus einer Flasche Gin aus einer kleinen Manufaktur und einem großen Tablett mit Hasch-Brownies, von denen er sagte, er wolle sie kommerziell verkaufen, sobald Marihuana legalisiert werde. Philomena hatte Lorrie einen großen Blumenstrauß samt Genesungskarte geschickt, auf deren Vorderseite ein inspirierendes Zitat von Arianna Huffington stand: Scheitern ist nicht das Gegenteil von Erfolg, es ist ein Teil davon.
»Alter, was soll der Scheiß?«, sagte Lorrie zu Paul, bevor sie die Karte in den Mülleimer warf.
In den Tagen nach der Operation meldeten sich Nachrichtenredaktionen aus aller Welt bei ihr und baten um ein Interview. Ein Video von Lorrie, wie sie auf die Bühne ging, um Dana davon abzuhalten, Glup mit der unechten Pistole zu erschießen, war viral gegangen (»Sie werden nicht glauben, was passiert, wenn diese inspirierende zweifache Mutter in eine Geiselnahme eingreift«, titelte die Daily Mail). Aus einem weiteren Video, das zeigte, was tatsächlich passiert war, als Lorrie in die Geiselnahme eingegriffen hatte (nämlich dass Lorrie, nachdem sie angeschossen worden war, wie ein Zirkusclown mit den Armen wedelnd nach hinten umfiel), hatte jemand ein GIF gemacht, das nun der erste Googletreffer war, wenn man »fette Frau fällt um« eintippte.
Lorrie lehnte alle Anfragen nach einem Kommentar ab. Ihr war bewusst, dass sie sich von den Medien als Heldin darstellen ließ, auch wenn das absolut nicht der Wahrheit entsprach – aber die ganze Angelegenheit war ihr zu peinlich, um die Sache richtigzustellen.
Eine Woche nachdem alles den Bach runtergegangen war, schickte Alex eine lange Mail über das, was in jener Nacht vor zwanzig Jahren mit Ruben vorgefallen war. Sie hatte durch Zoe von Rubens Geständnis erfahren und das Bedürfnis, den Vorfall zu erklären. So wie Lorrie das verstand, war Alex’ Erklärung, dass sie zu ihrer eigenen Überraschung festgestellt hatte, dass sie mit Ruben schlafen wollte, und so hatte sie eben mit ihm geschlafen.
Ich wollte dir nicht wehtun, schrieb Alex.
Ich verspreche, dass das nicht geplant war. Es war einfach dumm und egoistisch – ich glaube, gerechtfertigt habe ich das vor mir selbst, weil das mit euch schon vorbei war, und es war ja nicht so, dass ich ihn dir ausgespannt hätte. Aber ich habe es sofort bereut. Der einzige Grund, warum ich dir damals nichts davon erzählt habe, war, dass es dir zu sehr wehgetan hätte, das zu hören.
Was du nicht sagst, dachte Lorrie. Sie antwortete nicht.
Ein paar Tage später schrieb Alex noch einmal und fragte, ob sie Lorrie für ihre Doku interviewen dürfe. Das entfachte Lorries Zorn so sehr, dass sie eine ausführliche Antwort voller Großbuchstaben und Schimpfwörter verfasste, in der sie darlegte, warum sie keinesfalls in Alex’ Doku auftreten oder überhaupt jemals wieder mit ihr sprechen würde.
Sie zeigte den Entwurf Paul, der ihr vorschlug, ihn vor dem Absenden noch eine Weile ruhen zu lassen, was sich als guter Rat erwies. Letzten Endes löschte sie ihn und verschob Alex’ Mail unbeantwortet in den Spam-Ordner.
Aber das alles war Monate her. Seitdem hatte die Zeit getan, was sie immer tat: Sie war vorangeschritten und hatte Lorries Wut so weit abklingen lassen, dass sie keine scharfen Kanten mehr hatte, sondern nur noch wie ein glatter Stein auf dem Grund ihres Bauchs lag.
Dann, letzte Woche, sah Lorrie, dass Alex ihr eine Facebook-Einladung zur Vorpremiere ihrer Doku geschickt hatte. Sie überlegte, sie zu ignorieren – aber dann stellte sie fest, dass sie das nicht wollte. Nein, sie wollte diesen Film sehen, über den überall Kritiken geschrieben wurden, vom New Yorker bis zur Times of India, weil er eine »komplexe und vielschichtige Betrachtung« der »Grenzen des akzeptablen Protests« angesichts einer existenziellen Bedrohung darstellte. Schließlich waren Lorrie selbst und das, was ihr widerfahren war, mit ein Grund dafür, dass der Film schon vor seiner offiziellen Veröffentlichung so viel Aufmerksamkeit erhielt.
Sie stieß einen Seufzer aus und nahm die Einladung an.
Offenbar verstand Alex das als das Hissen einer weißen Fahne, denn innerhalb einer Stunde schickte sie Lorrie eine Nachricht mit der Bitte, sich auf einen Kaffee zu treffen.
Als Lorrie ankam, war Alex bereits im Café. Sie saß an einem Tisch am Fenster und las ein Buch. Die Sonne blendete sie, und als Lorrie auf sie zuging, sah sie auf und kniff die Augen zusammen, als hätte sie Schwierigkeiten, sie zu erkennen.
»Lorrie«, sagte sie und stand auf. »Wie geht’s dir?«
»Ziemlich gut, danke«, sagte Lorrie und beugte sich unbeholfen vor, um ihr einen Kuss auf die Wange zu geben. »Wohl besser als beim letzten Mal.«
Alex lachte kurz auf, ein bisschen gezwungen.
»Na ja, da hängst du die Messlatte aber ziemlich tief – beim letzten Mal bist du angeschossen worden und hast aus einer Wunde in der Brust geblutet.«
»Im wörtlichen und im übertragenen Sinn«, sagte Lorrie, setzte sich und warf Alex einen Seitenblick zu.
Alex verzog das Gesicht und sah aus, als wollte sie etwas sagen, aber in dem Moment brachte Hilda, die Deutsche, die das Café führte, Alex ihren Long Black.
»Das Übliche?«, fragte Hilda und musterte Lorrie kritisch, als ob ihre Standardbestellung – heiße Schokolade mit fettarmer Milch – sowohl ein geschmackliches Versagen als auch ein moralisches Scheitern darstellte.
»Ja, danke, Hilda. Und vielleicht ein Croissant?«
Als sie weg war, saßen Lorrie und Alex schweigend da. Keine von beiden wusste so recht, wo sie anfangen sollte.
»Also«, sagte Alex schließlich. »Arbeitest du immer noch, ähm, in der Stadtverwaltung?«
Lorrie nahm die laminierte Speisekarte vom Tisch und tat, als würde sie sie lesen.
»Warum? Hast du gedacht, dass sie mich nach meiner unglaublichen Rede rausgeworfen haben?«
»Nein, ich meine, ich dachte bloß … ich dachte, du hättest gesagt, du überlegst, dich anderweitig umzusehen …«
»Wahrscheinlich hätten sie mich auch rausgeschmissen. Oder abgemahnt. Oder mir so lange die kalte Schulter gezeigt, bis ich aus freien Stücken gekündigt hätte. Aber ich glaube, wahrscheinlich hatten alle Mitleid, weil ich angeschossen wurde und so, und darum haben wir quasi alle beschlossen, die ganze Geschichte mit dem Nervenzusammenbruch und der Rede und allem einfach aus unserem kollektiven Gedächtnis zu streichen.«
»Wow, wirklich? Ich hatte schon Angst, dass du wegen der ganzen, äh, Gluppopotamus-Sache Ärger bekommst.«
»Na ja, klar, bei Glup kam das weniger gut an, aber ich glaube, unterm Strich war er eher stinkig, weil er fast einen Kopfschuss bekommen hätte. Er war so sauer wegen der Nummer, die die Future Earthlings abgezogen haben, dass er uns die Mittel für das Green-Cities-Programm gestrichen hat – er hat die Stadtverwaltung dafür verantwortlich gemacht, dass es so weit gekommen ist, was ich ziemlich unfair fand.«
»Ach Mist, Lorrie, das tut mir so leid. Ich hatte echt keine Ahnung, dass Dana das tun würde.«
»Ehrlich, Alex?«
Alex rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl herum.
»Okay, dass irgendwas passieren würde, wusste ich schon. Ich hatte nur keine Ahnung, dass es … das sein würde.«
Lorrie wandte den Blick von Alex ab. Am Nebentisch hatte sich ein kleiner Junge zwei kalte Pommes in die Nase gesteckt und ächzte, um seinen jüngeren Bruder zu erschrecken.
»Hast du eigentlich noch Kontakt zu Dana?«
»Na ja – sozusagen. Ich habe sie für meine Doku interviewt, als sie auf Kaution draußen war. Sie bereut die ganze Sache schon ziemlich.«
»Ich vermute, im Gefängnis hat sie genug Zeit, ihren Kummer zu verarbeiten.«
»Sie hat nicht damit gerechnet, dass tatsächlich jemand verletzt wird.«
»Nein, hat sie wohl nicht.« Lorrie sah zu Alex und schlug einen sanfteren Ton an. »Das mit der Anzeige tut mir leid. Damit hatte ich nichts zu tun.«
Alex winkte ab.
»Lorrie, ich hoffe, du weißt, dass ich es dir sagen wollte. Versucht hab ich’s ja, aber du hast dich nicht gerade, ähm, empfänglich gezeigt … und dann war da noch die ganze Sache mit Zoe … Ich meine, es war für uns alle ein schräger Tag, oder? Aber ich versichere dir, dass ich dir davon erzählt hätte, wenn ich gedacht hätte, dass sie was Gefährliches planen.«
Lorrie betrachtete Alex und versuchte sich zu entscheiden, ob sie ihr glauben wollte. Schließlich nickte sie.
»Okay. Na, jedenfalls haben wir es geschafft, das Projekt stattdessen durch die Landesregierung finanziert zu bekommen. Die meisten Gärten können also wie geplant umgesetzt werden.«
»Das ist super! Aber ich hoffe, du hast nicht … ich meine, bei dir auf der Arbeit glauben die aber nicht, dass du was damit zu tun hattest, oder?«
Lorrie zuckte die Achseln.
»Na ja, zumindest macht mich Philomena anscheinend nicht für Danas Aktion verantwortlich, selbst nachdem herausgekommen ist, dass ich dafür gesorgt habe, dass du dabei sein konntest und du mit den Future Earthlings in Verbindung stehst.« Sie unterbrach sich und runzelte die Stirn. »Hmm, so genau weiß ich das eigentlich gar nicht. Vielleicht hat sie mir ja doch die Schuld daran gegeben? Gesagt hat sie jedenfalls nichts – zumindest nicht direkt. Allerdings hat sie darauf bestanden, dass ich eine Zeit lang in Therapie gehe, angeblich, weil sie befürchtet, ich könnte eine posttraumatische Belastungsstörung entwickeln – Arbeitsschutz hat sie schon immer großgeschrieben – und auch, weil sie denkt, ich könnte etwas Unterstützung gebrauchen, um mit der Schamkrebsdiagnose meiner Mutter fertigzuwerden.«
»Oje.«
»Ja. Das war jedenfalls interessant. Aber sonst läuft’s ganz gut – ich überlege sogar, mich um eine Beförderung zu bewerben.«
Alex zog die Augenbrauen eine Spur Richtung Decke.
»Du erinnerst dich an Harry – den Typen, dem sie statt mir die Teamleiterstelle gegeben haben?«, fragte Lorrie.
»Ja, klar. Der Schrumpfhand-Mann, stimmt’s? Hat er’s vergeigt? Hat er heimlich Gelder veruntreut? Mit seiner Sekretärin geschlafen?«
»O Gott, nein. Eigentlich war er sogar ein ziemlich guter Teamleiter, nur ein bisschen unerfahren. Und Sekretärinnen haben wir gar nicht, kopieren müssen wir schon selbst – ziemlich lächerlich. Na, jedenfalls geht Harry ins Ausland, um als Freiwilliger bei den Vereinten Nationen Vertriebenen in Syrien zu helfen. Hab ich dir erzählt, dass er Arabisch spricht? Manchmal denke ich, er hat kein anderes Ziel im Leben, als dafür zu sorgen, dass ich mich schlecht fühle. Auf jeden Fall hat Philomena vorgeschlagen, dass ich mich um die Stelle als Teamleitung bewerben sollte, jetzt, wo sie wieder frei geworden ist.«
»Wow. Okay, das ist doch ein gutes Zeichen, oder?«
Lorrie verschränkte die Arme hinter dem Kopf, wodurch sich eine Verspannung im Nacken löste.
»Weißt du, ich bin mir gar nicht sicher, ob ich das wirklich machen will – eigentlich war ich noch nie scharf darauf, eine Führungskraft zu werden. Außerdem hat gerade eine neue Staffel von Bachelor in Paradise angefangen – ich habe also so schon eine Menge um die Ohren.«
Alex lachte. »Ich denke doch, in diesem Fall wäre Multitasking machbar.«
»Um ehrlich zu sein, der Hauptgrund für mein Zögern ist, dass ich überlege, zurück an die Uni zu gehen.«
»Echt? Willst du promovieren? Ich kann mir dich schon richtig als Akademikerin vorstellen. Professor Hope.«
»Promovieren? Gott, nein. Lieber würde ich sterben. Nein, ich habe überlegt, etwas ganz anderes zu machen – vielleicht was mit Landschaftsarchitektur? Ich habe mich noch nicht ganz entschieden.« Sie wartete, während Hilda ihr das Gebäckteilchen und die heiße Schokolade brachte. »Nach der Glup-Gardens-Sache hatte ich eine Menge Zeit zum Nachdenken, und mir ist klar geworden, dass mein Leben im Moment eigentlich ganz schön ist, weißt du? Ich meine, ich liebe Paul, ich liebe meine Kinder, ich genieße meine Arbeit – zumindest größtenteils. Ich bin mir nicht sicher, ob ich irgendetwas Weltbewegendes tun muss, ob ich ständig nach etwas streben muss, damit mein Leben lebenswert ist.«
»Hmm, da ist was dran«, sagte Alex, klang aber nicht, als würde sie glauben, dass da was dran wäre. »Aber – ich meine, du hast so viel Potenzial, Lorrie. Vergiss das nicht. Du könntest alles Mögliche tun. Du bist noch nicht mal vierzig!«
»Ich weiß nicht. Muss ja nicht jeder eine Amal Clooney sein.« Sie löffelte sich mit Schokolade bestäubten Milchschaum in den Mund. »Ist ja auch egal, ich spiele gerade sowieso nur mit dem Gedanken. Aber was ist mit dir? Wie läuft’s mit Zoe?«
Alex stützte den Ellbogen auf den Tisch und das Kinn auf die Hand.
»Nicht gut. Nach Glup Gardens haben wir uns noch ein paarmal getroffen, aber ich war so damit beschäftigt, die Doku fertigzustellen … und überhaupt, nach Glup Gardens war es, als ob der Funke erloschen wäre, zumindest bei ihr. Ich dachte wirklich, ich wäre verliebt, weißt du … aber für mich hat sich dadurch einfach nur bestätigt, dass Verliebtsein nichts für mich ist. Das war alles so chaotisch und schmerzhaft. Es hat ewig gedauert, bis es mir wieder einigermaßen gut ging.«
Lorrie sah sie nachdenklich an. Sie glaubte immer noch, dass Alex und Ivan gut zusammenpassen würden, wenn sie sie nur davon überzeugen könnte, einander eine Chance zu geben.
»Ich weiß, das ist ziemlich radikal, Alex, aber vielleicht kannst du ja eines Tages mal in Erwägung ziehen, dich in einen Menschen zu verlieben, der auch bereit ist, sich in dich zu verlieben.«
»Hm, ja, in der Theorie klingt das wunderbar – aber in der Praxis finde ich diese Leute einfach nie besonders interessant.« Alex zog einen Mundwinkel nach oben. »Ich meine, ich dachte wohl, Zoe wäre auf gewisse Weise dazu bereit. Sie hat immer mal angedeutet, dass sie Probleme mit Ruben hatte. Aber wenn es wirklich hart auf hart gekommen wäre, dann hätte sie ihn nicht verlassen.«
»Meinst du nicht?«
»Nein, wirklich nicht. Und weißt du, wenn sie mit mir hätte zusammen sein wollen, richtig zusammen – ich glaube, das hätte mich echt glücklich gemacht, zumindest für eine Weile. Aber ich habe viel darüber nachgedacht und ich bin einfach nicht davon überzeugt, dass Glück für mich das Endziel ist.« Sie kniff reumütig die Lippen zusammen. »Manchmal denke ich, die ganze Zeit so verdammt unzufrieden zu sein, ist vielleicht der einzige Grund, warum ich überhaupt was erledigt bekomme.«
Lorrie klappte den Mund auf, um zu widersprechen, schloss ihn aber wieder. Sie dachte an ihr eigenes Leben. Sie war doch glücklich, oder? Ja. Das war vermutlich keine vernünftige, moralisch korrekte oder gesunde Reaktion auf die kaputte Welt, in der sie lebte, aber das änderte nichts an der Wahrheit: Sie war glücklich. Im Großen und Ganzen hatte sie einen Scheiß erreicht, aber glücklich war sie.
Vielleicht hatte Alex recht. Vielleicht lag der Schlüssel zum Erfolg tatsächlich in ständiger Unzufriedenheit.
»Ruben und Zoe sind also immer noch zusammen?«, fragte sie, biss in ihr Croissant und hielt einen Moment lang inne, um die buttrig-leichte Gaumenfreude auszukosten.
»Ich glaube schon. Wenn du mich fragst, ist das keine gesunde Beziehung – sich gegenseitig wehzutun ist für sie die einzige Möglichkeit, sich verbunden zu fühlen.«
»Wenn’s funktioniert«, sagte Lorrie und erlaubte sich ein mattes Lächeln.
Alex sah hinunter auf ihre Tasse und drehte sie langsam auf der Untertasse. Schließlich trank sie den Rest Kaffee mit einem großen Schluck aus und lehnte sich vor.
»Lorrie, hast du – hast du meine Mail über Ruben bekommen?«, fragte sie leise, als wäre sie sich nicht sicher, ob Lorrie sie wirklich hören sollte. »Über das, was damals zwischen uns vorgefallen ist?«
Lorrie nickte. Alex lehnte sich wieder zurück und senkte den Blick.
»Es tut mir so leid. Ich hab Scheiße gebaut. Ich wünschte, es wäre nie passiert oder dass ich damals zumindest ehrlich zu dir gewesen wäre.«
Lorrie lachte kurz auf.
»Stell dir vor, wie verdammt sauer ich gewesen wäre, wenn du mir damals davon erzählt hättest. Ich wäre dir wahrscheinlich an die Gurgel gegangen!«
»Ja, wärst du vermutlich«, sagte Alex und sah nervös auf, als wüsste sie nicht, ob sie auch lachen durfte.
»Ich war so verrückt nach dem Kerl.«
»Warst du wirklich.«
Lorrie holte tief Luft.
»Ich war stinksauer auf dich, als Ruben mir davon erzählt hat. Das war unglaublich mies von dir, wo du doch ganz genau wusstest, was ich für ihn empfunden habe.«
Alex nickte und ließ das Kinn auf die Brust sinken.
»Ich meine, ich weiß, dass er nicht gut für mich war«, fuhr Lorrie fort. »Das habe ich sogar damals schon eingesehen. Aber ich war in ihn verliebt, auf meine bescheuerte Art und Weise, und du hast das gewusst. Das hättest du respektieren sollen – du hättest mich respektieren sollen, Alex.«
»Ich weiß. Das tut mir wirklich leid.«
Eine Weile lang schwiegen beide. Um sie herum gingen die lebhaften Geräusche im Café weiter: das Klappern von Besteck, das Zischen der Kaffeemaschine, das Gegacker der Kinder im Zuckerrausch am Nachbartisch. Alex hielt den Kopf gesenkt. Sie sah todunglücklich aus.
Schließlich ergriff Lorrie wieder das Wort.
»Aber das alles ist schon lange her«, sagte sie. »Und mir ist aufgefallen, dass ich nicht sonderlich gut darin bin, nachtragend zu sein. Ich habe festgestellt, zu versuchen, weiter auf dich böse zu sein, ist … na ja … äußerst langweilig.«
Sie streckte den Arm über den Tisch und legte ihre Hand auf die von Alex. Alex sah auf. Sie drehte die Hand um, sodass sich ihre Handflächen berührten.
Einen Moment lang sahen sich die beiden an.
»Also erzähl mal«, sagte Alex, »was ist schlimmer: ein Schuss in die Brust oder sich zu langweilen?«
Lorrie drückte ihre Hand.
»Her mit euren Kugeln, ihr Pisser.«
Und dann fingen sie beide an zu lachen.