Das schrille Biep-Biep-Biep
seines Weckers zerrte Rudy am nächsten Morgen in einen widerwilligen Wachzustand. Er streckte den Arm aus und tastete blindlings umher, bis er die Schlummertaste gefunden hatte.
Noch fünf Minuten.
Sein Kopf tat weh, und er hatte Sodbrennen. Was zum Henker hatte er gestern Abend getrunken? Er kuschelte sich wieder unter die Decke, dann gab er ein leises Quieken von sich, als seine Knie gegen einen anderen Körper stießen und ein protestierendes Brummeln ertönte.
Scheiße.
Rudy riss die Augen auf und erblickte auf dem Kissen neben sich einen dunklen Wuschelkopf. Zac war in seinem Bett! Langsam setzte sein Gehirn die Puzzleteile seiner bruchstückhaften Erinnerung an den gestrigen Abend zusammen … den Tequila, seine furchtbaren Flirt-Versuche, den Kuss und – oh Gott, den Kotz-Zwischenfall
. Rudys Wangen glühten. Er war ein solcher Idiot. Kein Wunder, dass er immer Single blieb. Zac würde wahrscheinlich auch nichts mehr mit ihm zu tun haben wollen.
„’Tschuldigung“, murmelte Rudy und wusste selbst nicht, wofür genau er sich entschuldigte, für den Kniestoß oder für den gestrigen Abend.
Zac grummelte erneut.
Rudy lag die nächsten fünf Minuten einfach so da, in absolutem Unbehagen, sowohl körperlich als auch geistig, und wünschte sich, noch etwas schlafen zu können. Aber er schämte sich zu sehr. Als sein Wecker zum zweiten Mal losging, setzte er sich auf und schaltete ihn ab. Dann hievte er widerwillig seinen Leib aus dem Bett.
Zac zog die Bettdecke höher und kuschelte sich tiefer hinein.
„Zac“, sagte Rudy leise. Und dann etwas lauter: „Zac, es ist halb sieben. Wir müssen aufstehen, sonst kommen wir zu spät zur Arbeit.“
Zac brummte.
Rudy war ziemlich sicher, dass er mehr getrunken hatte als Zac. Offenbar war Zac einfach kein Morgenmensch. „Trinkst du morgens lieber Tee oder Kaffee?“
„Kaffee“, kam die gedämpfte Antwort unter der Decke hervor. Dann noch ein verspätetes: „Bitte.“
Rudy zog seine Schlafanzughose an und ging ins Bad. Danach stolperte er in die Küche wie ein Zombie auf der Suche nach frischem Hirn. Normalerweise trank er morgens Tee, aber eine Extraportion Koffein hörte sich heute nach einer guten Idee an. Er schaltete den Wasserkocher ein und holte den Kaffebereiter und Tassen aus dem Schrank. Außerdem steckte er zwei Scheiben Toast in den Toaster. Der Gedanke an etwas zu essen war nicht gerade verlockend, aber es würde wahrscheinlich gegen den Kater helfen.
Dann ging er zurück ins Schlafzimmer. „Ich mache Toast. Willst du auch eins? Und falls ja, was hättest du gern darauf? Ich habe Marmelade, Marmite oder Erdnussbutter.“
„Iih. Alles, nur kein Marmite. Kann ich Erdnussbutter und
Marmelade haben?“
Zacs Stimme war heiser, aber zumindest brachte er jetzt ganze Sätze zustande. Schließlich drehte er sich um und
schaute Rudy aus glasigen Augen an. Selbst halb-schlafend sah er scharf aus. Es war wirklich nicht fair.
„Klar.“ Rudy bemühte sich, über Zacs Auswahl nicht missbilligend die Nase zu rümpfen. Marmite war total lecker! Der Kerl hatte eindeutig keinen Geschmack.
„Ach.“ Zac setzte sich im Bett auf und fuhr sich mit den Händen durchs Haar, sodass es in alle Richtung abstand. Rudys altes, graues T-Shirt spannte über Zacs Oberkörper und betonte die definierten Brustmuskeln. „Ich muss pinkeln.“
Er warf die Bettdecke zurück und krabbelte aus dem Bett. Rudy konnte nicht umhin, die enorme Beule in Zacs Boxershorts zu bemerken. Hallo, Morgenlatte
.
Wäre Rudy gestern Abend nicht so ein hoffnungsloser Fall gewesen … vielleicht hätte er Zacs Schwanz dann sogar anfassen dürfen. Er seufzte über die verpasste Gelegenheit und wandte sich hastig ab, um zurück in die Küche zu gehen.
Der Toaster hatte die Brotscheiben ausgespuckt, und als Rudy zum Kühlschrank ging, um die Butter herauszunehmen, rückte er automatisch den magnetischen Rahmen mit seinem Familienfoto gerade – es war letztes Jahr Weihnachten am Esstisch aufgenommen worden, und auf dem Bild trugen alle Papierhüte und prosteten der Kamera zu. Rudy erstarrte und betrachtete die lachenden Gesichter, als ein weiteres Erinnerungsbruchstück in seinem Kopf auftauchte.
Oh, mein Gott
. Hatte er Zac wirklich eingeladen, Weihnachten mit seiner Familie zu verbringen, oder hatte er das nur geträumt? Nein, als die Erinnerung zurückkehrte, war Rudy ziemlich sicher, dass es wirklich passiert war. Aber das Verrückteste war, dass Zac ja gesagt hatte. Vielleicht hatte er nur zugestimmt, damit Rudy endlich die Klappe hielt, und gehofft, dass Rudy sich am Morgen nicht mehr daran erinnern würde.
„Alles klar bei dir?“
Beim Klang von Zac Stimme zuckte Rudy schuldbewusst
zusammen. „Ja, sorry. Ich war gerade mit den Gedanken woanders. Ich bin heute Morgen ein bisschen beduselt.“ Er nahm die Butter heraus und stellte sie auf den Tisch. Wie auf Autopilot sammelte er Teller, Messer, Brotbelag und Kaffee ein. Zac stand derweil verlegen in der offenen Tür. „Setzt dich doch.“
Während sie sich Kaffee einschenkten, die Toasts schmierten, aßen und tranken, wurde das Schweigen zwischen ihnen immer unangenehmer, bis Rudy es am liebsten mit dem Buttermesser zerschnitten hätte. Er hatte keine Ahnung, wo er anfangen sollte, aber in einer halben Stunde mussten sie zur Arbeit aufbrechen, und er konnte die Dinge nicht einfach so auf sich beruhen lassen. Rudy musste wissen, wo sie standen.
Hatte Zac ernsthaft vor, mit ihm zusammen Weihnachten bei seinen Eltern zu verbringen? Rudy bereute nicht, die Einladung ausgesprochen zu haben, aber er hatte Angst, hoffnungslos aufdringlich und übereifrig zu wirken. Er mochte Zac – okay, er stand auf ihn, aber das war nicht der Punkt – und der Gedanke, dass Zac Weihnachten ganz allein verbrachte, gefiel ihm gar nicht. Niemand sollte an Weihnachten allein sein, es sei denn, er wollte es unbedingt
. Und Rudy hatte nicht den Eindruck, dass das bei Zac der Fall war. Seine Ausrede, dass er nicht sehr gesellig war, klang nach gestern Abend nicht mehr überzeugend, und seine Abwehr kam Rudy eher so vor, als würde ein bisschen zu viel protestieren.
Rudy sagte zögernd: „Also … ähm. Wegen unserer Weihnachtspläne …“
„Hör zu, es ist okay. Du warst betrunken. Ich weiß, dass du das nicht wirklich ernst gemeint hast. Mach dir keinen Kopf.“
„Nein! Das wollte ich gar nicht sagen.“ Rudy holte tief Luft, um seinen Mut zu sammeln. Er wollte ganz aufrichtig sein. „Ich meinte es vollkommen ernst. Okay, ich war betrunken, sonst hätte ich mich gar nicht getraut, dich zu fragen. Aber ich würde
mich wirklich freuen, wenn du mitkämst.“ Er sah Zac in die dunklen Augen und beschwor ihn innerlich, ihm zu glauben. „Es wäre toll, dich besser kennenzulernen, und meine Familie hätte nicht das Geringste dagegen. Ich mag nicht daran denken, dass du an Heiligabend ganz allein bist – außer du willst unbedingt allein sein.“
Zac zuckte mit den Schultern. Er wirkte verspannt, und seine Augen blickten argwöhnisch. „Wäre nicht das erste Mal.“
Mitgefühl überwältigte Rudy, aber er wusste instinktiv, dass es ein Fehler wäre, es zu zeigen. Stattdessen zuckte er die Achseln. „Nun, das Angebot steht. Deine Entscheidung.“
Zac nahm einen Bissen von seinem Toast und kaute langsam, während Rudy wartete. Er konnte beinahe hören, wie Zac im Kopf das Für und Wider abwägte. Schließlich nickte er. „Ich komme mit.“
Das machte Rudy so glücklich, er konnte nicht verhindern, dass sich ein Riesengrinsen auf seinem Gesicht ausbreitete. „Super! Ich sage Mama nachher Bescheid.“
Sie starrten einander einen Moment an lang, und dann lächelte Zac ebenfalls – ein wenig unsicher, aber Rudy würde nehmen, was er von Zac bekommen konnte. Sein Blick fiel auf Zacs Lippen, und ihm wurde die Brust ein wenig eng, als er an den Kuss von gestern Abend dachte. Darüber sollten sie wirklich auch reden, aber Rudy hatte Angst, Zac würde darauf beharren, dass es ein betrunkener Fehltritt gewesen war. Solange der Kuss unerwähnt blieb, konnte Rudy sich weiter Hoffnungen machen.
„Wir machen uns besser auf, wenn wir nicht zu spät kommen wollen“, sagte Rudy. „Soll ich dir etwas sauberes zum Anziehen borgen?“
„Nö. Deine Hemden wären mir zu eng um die Schultern, denke ich. Ich werde einfach damit leben müssen, dass die anderen denken, ich hätte mich abschleppen lassen.“
„Da wird die Gerüchteküche ganz schön brodeln.“ Rudy
errötete bei dem Gedanken an die Vermutung, die sich den Kollegen als Erstes aufdrängen würde.
„Na ja, so ganz unzutreffend wären die Gerüchte ja nicht, oder?“ Zacs Lippen verzogen sich zu einem Schmunzeln, und das warme Leuchten in seinen Augen nährte das kleine Klümpchen Hoffnung in Rudys Brust.
„Auch wieder wahr.“
Erik grinste
und hob fragend die Brauen, als Rudy und Zac gemeinsam ankamen. Rudy war noch nicht bereit für irgendwelche Verhöre, also senkte er den Blick und ging schnurstracks zu seinem Schreibtisch, um seinem Computer hochzufahren. Er hatte immer noch Kopfweh, aber nach dem Kaffee und dem Fußmarsch durch die kalte Winterluft war er nicht mehr ganz so beduselt.
Er öffnete die Website, an der er gestern gearbeitet hatte. Takara hatte sie noch Korrektur gelesen, bevor sie gestern Feierabend gemacht hatten, und die Seite konnte veröffentlicht werden. Rudy wollte nur noch ein letztes Mal darüberlesen, bevor er den Upload-Button drückte.
Während er sich den ersten Text vornahm, bekam er kaum mit, wie das Büro sich füllte, bis irgendwer etwas Weihnachtsmusik anmachte und „All I want for Christmas“ aus den Lautsprechern dröhnte. Abgelenkt sah Rudy auf und nahm schließlich wahr, was im Rest des Büros vor sich ging.
Wie es aussah, war Zac nicht der Einzige, der dieselben Sachen trug, mit denen er gestern Abend das Büro verlassen hatte. Takara hatte es offenbar auch nicht nach Hause geschafft. Rudy sah, wie sie und Sam sich wenig subtil anlächelten, und er fühlte einen Stich der Eifersucht. Ihr Abend war offensichtlich erfolgreicher verlaufen als seiner.
In diesem Moment piepte sein Telefon – er hatte eine WhatsApp-Nachricht von Takara.
Ist Zac gestern Abend mit zu dir nach Hause gekommen?
Rudy warf ihr einen Blick zu, und sie schmunzelte. Mit einem Seufzen fügte er sich in das Unvermeidliche. Und antwortete: Ja
.
OMG! ERZÄHL MIR ALLES!
Da gibt’s nicht viel zu erzählen.
Ich glaube dir kein Wort!
Es stimmt. Ich war betrunken. Er hat mich nach Hause gebracht, und ist dann geblieben, weil er kein Taxi bekommen konnte.
Und …?
Ein rascher Blick zu ihr, und Rudy wusste, dass seine roten Wangen ihn verraten hatten. Ok, wir haben uns geküsst, aber das war alles. Und ich glaube nicht, dass es irgendwas zu bedeuten hat. Was ist mit dir und Sam?
Er lehnte sich zurück. Auf der anderen Seite des Büros flogen Takaras Finger über das Display ihres Telefons. Hoffentlich hatte er sie ausreichend vom Thema Zac abgelenkt.
Ihre Antwort traf in drei Portionen ein.
Gott, er ist hinreißend. Ich mag ihn echt.
Und bevor du fragst … ja, wir haben gefickt. Und ich denke, wir sind sexuell SEHR kompatibel.
Er ist gern der Bottom, also …
Bei ihrer letzten Nachricht stieß Rudy ein schnaubendes Lachen aus.
Heilige Scheiße. TMI!
, schrieb er zurück.
Ich werde mich nicht entschuldigen. Wir sehen uns heute Abend wieder.
Rudy konnte sein wehmütiges Seufzen nicht unterdrücken, als er antwortete: Ich freue mich für dich
.
Takara antwortete mit einem Smiley und einem Herzchen, dann fügte sie hinzu: Eines Tages wird auch dein Traumprinz kommen. Oder KOMMEN.
Das verdiente ein Augen-verdreh-Emoticon. Ich muss jetzt arbeiten. Also hör auf, mich mit Geschichten über deine Eroberungen
abzulenken.
Aber er schenkte ihr ein Lächeln quer durchs Büro. Takara hatte dieses glückliche, aufgeregte Glühen an sich, das Leute beim ersten Aufblühen einer Romanze im Gesicht trugen. Rudy fragte sich, wann er endlich an der Reihe sein würde.
In der Mittagspause gingen Takara,
Sam, Erik und Caz ins Café. Rudy beschloss, im Büro zu bleiben und die letzten Handgriffe an der Website zu beenden. Er wollte die Mittagspause durcharbeiten, damit er früher gehen und auf dem Heimweg schon mal ein paar Weihnachtseinkäufe zu machen. Je weniger er morgen noch erledigen musste, desto besser.
„Soll ich dir irgendetwas mitbringen?“, fragte Takara.
„Ja, ein Schinkensandwich wäre gut, danke.“ Sein Körper schrie geradezu nach Salz und Kohlehydraten. Zucker und Koffein konnten auch nicht schaden. „Und eine Cola.“
„So schlimm, hm?“ Sie schmunzelte.
Normalerweise fragte Rudy nie nach einer Cola. Er zeigte ihr gutmütig den Mittelfinger. „Ja, ja. Sonst ist mein Körper ja ein Tempel und so. Ich gebe Luke die Schuld.“
„Luke sieht auch nicht gerade munter aus, falls dir das ein Trost ist. Er hat einen Latte mit dreifach Espresso bestellt.“
Rudy sah zu Lukes Schreibtisch hinüber. Der Arme saß da, das Kinn in die Hand gestützt, und starrte mit glasigem Blick auf seinen Monitor. Er sah deutlich blasser aus als sonst und hatte dunkle Ringe unter den Augen. Rudy tat es gut zu wissen, dass er nicht das einzige Tequila-Opfer war.
Als die anderen das Büro verlassen hatten, wanderte Rudys Blick unwillkürlich zur anderen Seite des Raumes, wo Zac seinen Schreibtisch hatte.
Zac sah heute viel zu frisch und gesund aus; es war geradezu unfair. Er tippte etwas. Seine Finger bewegten sich
rasend schnell, und er runzelte konzentriert die Stirn. Rudy fühlte sich schwach. Vielleicht vor Sehnsucht? Vielleicht war es aber auch nur niedriger Blutzucker und sein Kater. Schwer zu sagen. Aber er war fast sicher, dass der Grund für das flaue Gefühl im Magen wenigstens teilweise Zac war. Bei der Erinnerung an ihren Kuss gestern Abend – als Zacs intensive Konzentration ganz und gar Rudy gegolten hatte, wenn auch nur für einen flüchtigen Augenblick – überkam das Verlangen ihn in heftigen Wellen.
Ach, verdammter Tequila …
Zac lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Offenbar war er fertig mit dem, was gerade schrieb. Hastig wandte Rudy den Blick ab. Er wollte nicht von Zac dabei erwischt werden, dass er ihn anstarrte wie ein liebeskranker Trottel.
Eine Weile später wurde Rudy von einem Räuspern aus seinen Gedanken gerissen. Er hatte sich erneut so in die Arbeit vertieft, dass er nicht bemerkt hatte, wie Zac herübergekommen war.
Zac stand neben Rudys Schreibtisch und wirkte ungewöhnlich verlegen. „Also … äh, ich habe mir überlegt, dass wir unsere Telefonnummern tauschen sollten. Damit wir diese ganze …“ – er wedelte unbestimmt mit den Händen – „Weihnachts-Sache besprechen können.“
Ein kurzer Blick in die Runde zeigte Rudy, dass das Büro noch immer verlassen war. Dennoch dämpfte Zac die Stimme, als hätte er Angst, jemand könnte lauschen.
„Oh ja, gute Idee.“ Daran hätte Rudy heute Morgen selbst denken müssen.
Sie tauschten ihre Telefone und tippen die Nummern ein. Als sie sie wieder zurücktauschten, berührten sich ihre Finger, und Rudy spürte sofort wieder das aufgeregte Flattern im Magen.
Ruhig, Brauner. Du hast es sowieso schon falsch angefasst – oder vielmehr, gar nicht angefasst.
Und du wirst ihn wahrscheinlich
auch nie wieder anfassen. Er musste ein sarkastisches Lachen unterdrücken.
„Wann fahren wir los? Und wie weit ist es?“
Gott, er hatte Zac wirklich keinerlei nützliche Informationen gegeben, oder? Der arme Kerl hatte keine Ahnung, worauf er sich eigentlich eingelassen hatte.
„Morgen Nachmittag. Ich nehme den Zug, aber ich habe noch keine Tickets gebucht, also können wir zusammen fahren. Es wird allerdings höllisch voll sein. Die Fahrt dauert nur eine Stunde, sie wohnen nicht weit entfernt von Exeter. Es ist ein altes Bauernhaus, und die Heizung ist nicht die modernste. Pack also warme Sachen ein.“
„Okay.“ Zac zögerte einen Moment, und seine Stirn legte sich in Falten. „Sollte ich Geschenke für deine Familie mitbringen?“
„Oh Gott, nein. Es sind viel zu viele Leute. Das würden sie niemals erwarten. Aber etwas, dass man miteinander teilen kann, wäre vielleicht nett – sowas wir Schokolade oder Wein? Meine Familie mag beides. Ein bisschen zu sehr gelegentlich.“ Rudy grinste und war froh, als Zac mit einem kleinen Lächeln antwortete.
„Cool. Danke für den Vorschlag.“
Rudy nahm sich vor, auch für Zac ein Geschenk zu besorgen – nur für den Fall, dass Zac ihm etwas schenken würde.
Genau in diesem Augenblick erklangen draußen auf dem Flur Stimmen … die anderen waren zurück. Zac eilte zurück an seinen Schreibtisch, und Rudy versuchte, gegen den Gedanken zu kämpfen, dass Zac nicht mit ihm gesehen werden wollte. Er war so schwer einzuschätzen. Rudy hatte keinen Schimmer, was in Zacs Kopf vorging.
Später am Nachmittag,
als Rudy sich gerade nach dem Pinkeln
die Hände wusch, kam Erik in den Waschraum. Er nahm das Waschbecken neben Rudys.
„Also, wie ich höre, ist Zac gestern mit zu dir gegangen“, sagte er.
Es war keine Frage, und Rudy machte keine Anstalten, es zu leugnen oder zu bestätigen. Offenbar hatte Takara es ihm erzählt.
„Nicht so, wie du denkst. So war es nicht.“ Rudy starrte auf seine Hände. Nachdem er auch das letzte Bisschen Seifenschaum abgespült hatte, schüttelte er die Tropfen ab und schnappte sich ein Papierhandtuch.
„Aber du wünschtest, es wäre so, hab’ ich recht?“
Rudy seufzte. „Ernsthaft, Erik - hat dir noch nie jemand gesagt, dass Männer nicht über ihre Gefühle reden? Und schon gar nicht auf der Toilette!“
„Scheiß auf Geschlechts-Klischees, Alter“, sagte Erik gutmütig, während er sich die Hände abtrocknete. „Ich
rede über Gefühle. Aber wenn du nicht willst, ist das völlig okay. Ich dachte nur, dir wäre es lieber, ich frage dich hier anstatt an deinem Schreibtisch.“
„Ja, ja. Das war ein Scherz, das weißt du, oder?“
Rudy glaubte nicht wirklich an den Blödsinn, dass Männer nicht über Gefühle reden. Er war nicht besonders gut darin, aber nur, weil er schüchtern und unbeholfen war. Es war ihm einfach peinlich zuzugeben, wenn er jemanden mochte. Aber deshalb war er kein unnahbarer, gefühlloser Fels.
Sofort musste er an Zac denken – Zac strahlte so etwas Verschlossenes und Abweisendes aus. Aber Rudy bezweifelte, dass es echt war. Er hatte für einen Moment ZacsVerletzlichkeit gesehen, als der zugegeben hatte, keine Familie zu haben. Rudy hatte den Verdacht, dass Zacs formidable äußere Erscheinung – sein diszipliniertes Training, die Muskeln – ebenfalls in dem Wunsch wurzelte, Menschen von sich fernzuhalten. Er fragte sich, welche Geschichte
dahinterstecken mochte. Was hatte Zac durchgemacht?
„Na, hoffentlich.“ Erik richtete sich auf, zog die Schultern zurück und betrachtete stirnrunzelnd sein Spiegelbild.
Rudy drehte sich um und lehnte ans Waschbecken, sodass er Erik in die Augen sehen konnte. „Und ja, ich wünschte, es wäre … anders. Ich mag Zac wirklich“, gestand er. „Aber ich glaube, ich habe die erste Chance gleich vermasselt.“
„Vielleicht bekommst du ja noch eine Chance.“
„Vielleicht …“ Freudige Erregung erfasste Rudy, und das Geheimnis, das er schon den ganzen Tag mit sich herumtrug, brach unwillkürlich aus ihm hervor. „Erzähl es bitte niemandem, weil … es ist irgendwie schräg. Und vor allem erzähl es nicht Takara, weil sie daraus eine Riesensache machen würde, und das ist es eigentlich nicht … aber Zac wird die Weihnachtsfeiertage mit mir zusammen bei meiner Familie verbringen.“
Eriks Augenbrauen flogen in die Höhe. „Echt jetzt? Das ist … cool, aber auch ziemlich heftig, oder? Hört sich für mich schon nach einer ziemlich großen Sache an.“
„Wir sind nur Freunde.“ Selbst Zac nur als Freund zu bezeichnen, war recht voreilig, um ehrlich zu sein, aber ein anderes Wort fiel Rudy nicht ein. Irgendetwas waren sie auf jeden Fall, da war sich Rudy sicher, er wusste nur nicht was. „Ich glaube, er will sowieso nichts, das über Freundschaft hinausgeht.“
„Tja, ihr werdet mehrere Tage miteinander verbringen. Ich bin sicher, du findest es heraus.“ Erik richte den Brustbinder, den er unter seinem Hemd trug und verzog das Gesicht. „Verdammt. Meine Schultern tun weh.“
„Ja?“ Das war etwas, worüber Rudy noch nie nachgedacht hatte.
„Ja. Der Binder zieht an den Schultern … ich weiß auch nicht. Mist. Gott sei Dank brauche ich ihn bald nicht mehr. Mit etwas Glück werde ich die beiden Dinger auf meiner Brust
noch vor dem Sommer los sein. Ich kann’s kaum erwarten.“
„Das glaube ich dir aufs Wort.“ Rudy bewunderte ihn. Erik wusste genau, was er wollte, und er marschierte los und tat alles, um es zu bekommen. Von Eriks Entschlusskraft und Sicherheit hätte Rudy sich ein Scheibchen abschneiden können.
Erik nickte zur Tür. „Zurück an die Arbeit?“
„Ja.“
Zusammen gingen sie zurück ins Büro. Falls irgendwem aufgefallen war, dass sie etwas länger im Waschraum gewesen waren als üblich, so sagte jedenfalls niemand etwas.
Um halb vier
kam Gina aus ihrem Büro und verkündete, dass sie alle gehen konnten, wann immer sie wollten. „Die Arbeit kann warten“, sagte sie. „Ich weiß, dass ihr alle noch Last-Minute-Geschenke besorgen und einpacken müsst – oder bin ich die Einzige, die so unorganisiert ist?“
Es erhob sich ein Chor zustimmenden Gemurmels, und offensichtlich hatten die meisten ebenfalls noch ein paar letzte Besorgungen auf dem Zettel.
„Schön zu sehen, dass ich damit nicht allein bin.“ Sie grinste. „Wie dem auch sei … ich wünsche euch allen frohe Weihnachten! Genießt die Feiertage, und ich sehe euch alle frisch und munter am Siebenundzwanzigsten wieder.“
Rudy und die meisten seiner Kollegen fingen an, ihre Sachen zu packen, um zu gehen. Zac jedoch blieb an seinem Schreibtisch sitzen und saß dort immer noch, als Rudy aufbruchbereit war. Zögernd näherte Rudy sich ihm – er konnte nicht einfach verschwinden, ohne noch einmal mit ihm gesprochen zu haben.
„Hey.“ Zac hob den Kopf. „Also, dann sehen wir uns morgen. Ich werde wohl so gegen halb eins oder eins bereit sein, zum Bahnhof zu gehen, wenn das für dich passt?“
„Klar.“ Zac nickte kurz.
„Schreib mir eine Nachricht, falls sich etwas ändert. Ansonsten … bis morgen?“
„Okay.“
Das kleine Lächeln, das Zac Rudy schenkte, war wie ein verfrühtes Weihnachtsgeschenk. Rudy hoffte, ihn im Laufe der nächsten Tage öfter zum Lächeln bringen zu können.
Nachdem er seine
Weihnachtseinkäufe erledigt hatte, rief Rudy seine Mutter an, sobald er zuhause ankam. Ihm war klar, dass das Ganze sehr kurzfristig war, aber seine Eltern waren immer super entspannt in solchen Sachen. Außerdem hatte seine Mutter ein extrem weiches Herz. Wenn er erst Zacs Situation erklärt hatte, würde sie auf keinen Fall etwas gegen Rudys Last-Minute-Einladung einzuwenden haben.
„Hi, Mama.“
„Oh, Rudy! Hallo, Schätzchen. Geht es dir gut?“
„Ja, Mama. Mir geht’s bestens. Ich freue mich schon darauf, euch alle morgen zu sehen.“
„Oh, wir freuen uns auch. Es wird wunderbar sein, die ganze Familie wieder einmal zusammen zu haben.“
Ihre Stimme klang warm und herzlich, und Rudy konnte das dazugehörige Lächeln vor seinem inneren Auge sehen. „Also … ich weiß, es ist sehr kurzfristig, Mama, aber … ich würde gern jemanden mitbringen. Einen Freund. Von der Arbeit. Wäre das in Ordnung?“
„Oh.“ Sie klang ein wenig verblüfft, aber dann sagte sie in begeistertem Tonfall: „Aber natürlich, Liebes. Ja.“
„Weißt du, er hat keine Familie, mit der er Weihnachten verbringen kann“, fügte Rudy hinzu.
„Und da hast du dir überlegt, deine mit ihm zu teilen?“ Sie kicherte. „Du hast jedenfalls genug Familie für so etwas. Wie heißt dein Freund?“
„Zac.“
„Nun, ich freue mich darauf, einen deiner Freunde kennenzulernen, und er ist herzlich willkommen. Allerdings haben wir nicht viel Platz. Großvater bleibt über die Feiertage, und Ro wohnt ja auch bei uns.“ Sie klang etwas besorgt.
„Ach, Zac kann in meinem Zimmer schlafen, wenn das okay ist?“ Als Rudy jünger war, hatten sie für Übernachtungsgäste stets ein Klappbett in seinem Zimmer aufgestellt. Rudy konnte darauf schlafen und Zac das Bett überlassen – schließlich war Zac Gast. Sicher würde Zac nichts dagegen haben.
Es entstand eine kurze Pause, dann kam die fröhliche Antwort seiner Mutter: „Natürlich, Liebes, das ist völlig in Ordnung. Natalie und Raj teilen sich auch ihr Zimmer. Um wie viel Uhr können wir euch morgen erwarten?“
„Wir versuchen, den Zug um zwanzig nach eins zu bekommen, aber ich schreibe dir noch eine Nachricht, wenn wir tatsächlich im Zug sitzen. Kann uns jemand vom Bahnhof abholen?“
„Klar. Ich schicke Sid. Er freut sich jedes Mal, wenn er fahren kann, seit er seine Führerscheinprüfung bestanden hat.“
Sid war der Ältere von Rudys jüngeren Brüdern, siebzehn Jahre alt und in seinem Abschlussjahr an der Schule. Er sehnte sich danach, eigenständig und unabhängig zu sein.
„Super, Mama. Danke. Dann sehen wir uns morgen.“
„Ja. Gute Reise. Bis dann. Hab’ dich lieb.“
„Ich dich auch. Bis dann.“
Rudy beendete den Anruf mit einem Lächeln im Gesicht. Er freute sich darauf, morgen seine Eltern zu sehen. Viele seiner Kollegen und Bekannten nörgelten über ihre Familien, aber Rudy fand seine Familie einfach toll. Vielleicht waren sie ein wenig exzentrisch, aber sie liebten ihn bedingungslos, und er liebte sie ebenso.