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Ich liege im Bett und rekele mich. Gott sei Dank ist Wochenende. Obwohl die Airline natürlich Tag und Nacht fliegt, folgt unser Training einer gewöhnlichen Arbeitswoche. Heute Abend will ich nach Bournemouth fahren, wo in einem Luxushotel eine Spendengala für eine Kinderorganisation veranstaltet wird. Bei der Gala handelt es sich um eine Auktion, mit Meeresfrüchtebüffet und freier Platzwahl, und ich freue mich schon, selbst wenn ich keine formelle Einladung vorweisen kann. Das ist nicht weiter tragisch, wie ich bei ähnlichen Veranstaltungen gemerkt habe: Solange ich entsprechend aussehe und gekleidet bin und keine ungebührliche Aufmerksamkeit auf mich ziehe (natürlich), stellt man meine Anwesenheit kaum je infrage, und bei Spendengalas spricht doch einiges dafür, dass sie umso gelungener sind, je mehr Gäste anwesend sind.
Ich stehe auf, dusche, ziehe mich um und drücke den Knopf am Kaffeeautomaten. Ich liebe das Geräusch und den Geruch von gemahlenen Bohnen. Wenn ich die Augen schließe, und sei es nur für ein, zwei Sekunden am Tag, kann ich mir vorgaukeln, ich wäre zu Hause. Es sind die kleinen Dinge, die mich vor dem Zusammenbruch bewahren. Bitterkeit umspült meine Zunge, während ich an meinem Espresso nippe. Zwischen zwei Schlucken werfe ich einen Blick auf mein Tablet. Ich scrolle nach unten. Bella, die Veranstalterin des heutigen Abends, postet in einem fort unzählige Bilder von vergangenen Events. Auf den meisten ist sie selbst zu sehen, mit breitem Grinsen, jedes einzeln getönte Haar sitzt akkurat an seinem Platz, und ihr Schmuck, gewöhnlich Gold oder Saphire, sieht teuer, aber niemals protzig aus. Makellos wie immer. Bella versteht es exzellent, Geld für gute Zwecke aufzutreiben, und sie schafft es, dabei wie eine Samariterin zu erscheinen, ohne dass sie sich die Hände schmutzig machen müsste. Eine Party organisieren und mit einem Glas Champagner durchs Gedränge schweben kann jede; doch wer wirklich und wahrhaftig etwas Gutes tun wollte, sollte eher billigen Wein trinken und sich für etwas Unpopuläres hergeben. Doch Bellas hervorstechendes Talent ist es nun mal, sich selbst im Leben fantastisch zur Geltung zu bringen.
Mein Handy vibriert. Eine Nachricht.
Meine Mitbewohnerin hat beschlossen, heute Abend eine Party zu schmeißen. Wenn man schon nicht abhauen kann … :) Bock? Ich habe noch ein paar Leute aus dem Kurs eingeladen. Amy X
Ich bin hin- und hergerissen. Je mehr Freunde ich bei der Airline finde, desto besser wird es für mich laufen. Und ich brauche unbedingt Freunde. Weil ich für Nate Goldsmith vorübergehend mit meinem eigenen Leben ausgesetzt habe, ist mir kaum jemand von früher geblieben – bis auf die Leute, mit denen ich über soziale Medien in Kontakt bleibe, und dazu eine Handvoll Aussteiger aus meinen Tagen als Statistin beim Film. In Bellas Nähe zu sein hingegen ist wie … wie am Schorf rumpulen. Doch je näher ich ihrer Welt bin, desto wahrscheinlicher ist es, dass etwas von ihrem Glück und ihrer Fortüne auf mich abfärbt. Unentschlossen starre ich auf mein Handy und lausche dabei dem Regen, der draußen vor dem Fenster in die Kanalisation tröpfelt.
Vierzehn Tage, nachdem Nate die Bombe hatte platzen lassen, stand er vor mir, während ich meine Sachen packte.
»Ich habe eine super Wohnung in Reading gefunden und für die nächsten sechs Monate die Miete im Voraus bezahlt. Als Geschenk. Ich fahre dich sogar hin und leite mit dir alles in die Wege, damit du dich dort einrichten kannst.«
»Wieso in Reading?«
»Ich habe dort kurz während meiner Ausbildung gewohnt, es ist ein toller Ort für einen Neuanfang. So voller Leben.«
»Wirklich?«
Er war nicht davon abzubringen, was angesichts der Tatsache, dass er ganz schön knauserig sein kann, schmerzhaft deutlich machte, wie entschlossen er war, mich in die Wüste zu schicken. Wenigstens hatte ihn das Wohnungsprojekt davon abgehalten, weiter darauf zu drängen, dass ich zu meiner gestörten Mutter ziehen sollte. Die Wohnung war schlicht, sauber und enthielt alles Notwendige, um ein freudloses, funktionelles Leben zu führen. Ich betrachtete das Wohnzimmer, in dem wir wie angewurzelt standen, in peinlichem Schweigen. Ich glaube, er wartete darauf, dass ich ihm dankte.
»Adieu, Elizabeth.«
Elizabeth, jetzt mal im Ernst? Was war aus Lily, Babe, Schatz, Süße geworden? Er küsste mich auf die Stirn, verschwand aus der Wohnung und zog die Tür leise hinter sich ins Schloss. Die Stille hallte durch den Raum. Kochend vor Zorn und Scham schaute ich aus dem Fenster und sah, wie im Regenschleier die Heckleuchten seines Autos verschwanden. Ich liebte ihn, und dennoch hatte ich ihn nicht abhalten können, den größten Fehler seines Lebens zu begehen. Er gehörte zu mir. Der Moment, in dem ich mich auf das hart gepolsterte Sofa sinken ließ – und innerlich zusammensackte –, war die Geburtsstunde meines persönlichen Aktionsplans. Elizabeth/Lily würde sich verpuppen, um irgendwann, in einen prächtigen Schmetterling verwandelt, als Juliette – mein zweiter Vorname – aus ihrem Kokon zu krabbeln.
Hmm. Also jetzt … Amy oder Bella? Bella oder Amy? Ene mene … Ich greife unter dem Couchtisch nach meiner Handtasche, wühle darin nach dem Geldbeutel, hole eine Münze heraus und werfe sie. Kopf Bella, Zahl Amy. Die Münze tanzt über den Tisch und entscheidet sich für Zahl. Eine der seltenen Gelegenheiten, bei denen Bella gegen jemand anderen verloren hat. Ich antworte Amy: Komme gern, xxx
Sie schickt mir ihre Adresse. Das einzige Problem besteht jetzt darin, dass ich noch einen ganzen Tag rumkriegen muss. Mit meinem Look brauche ich mir nun weniger Mühe zu geben, schließlich gehe ich nur zu einer kleinen Hausparty. Der Himmel ist so grau, dass es fast dunkel ist. Ich gehe in meinem winzigen Zimmer auf und ab. Draußen spießen die Strahlen der Autoscheinwerfer die herabschießenden Regentropfen auf. Oder aber ich könnte gleich jetzt nach Richmond fahren. Ich könnte vor Nates Haus sitzen. Er würde nie erfahren, dass ich da bin. Es wäre ein so tröstendes Gefühl, ihm nahe zu sein. Ich dusche, ziehe Jeans und einen schwarzen Pulli an, schnappe mir Sneakers und Mantel und marschiere im Stechschritt zum Bahnhof.
Regen ist für mich ein echtes Gottesgeschenk. Wer hätte nach so vielen verregneten Sommern gedacht, dass ich mich einmal freuen würde, wenn ich, unter einer Kapuze versteckt, unerkannt in irgendwelchen Geschäftseingängen oder Seitengassen ausharren kann. Mutter Natur ist auf meiner Seite. An diesem elenden Tag Ende Januar sind alle Menschen abgelenkt und die Schirme aufgespannt, sie halten die Köpfe gesenkt und die Schultern hochgezogen. Riesenräder aus Wasserfontänen spritzen unter den Autoreifen hervor. Niemand nimmt von mir Notiz.
Nates Wohnzimmerlampen sind an. Höchstwahrscheinlich schaut er gerade die neueste Serie oder einen Film auf Netflix. Ich vermisse ihn. Nicht zum ersten Mal bereue ich mein Verhalten, meine Kapitulation. In einem kurzen Moment der Schwäche überkommt mich der fast unwiderstehliche Drang, über die Straße zu flitzen und seine Tür einzutreten. Doch ich muss nach seinen Regeln spielen, sonst wird er mich nie auf Augenhöhe akzeptieren. Dafür spielen wir dann bei der zweiten Runde zu meinen Bedingungen.
Amys Wohnung liegt über einem Friseursalon. Was nur gut ist, denn würden unter ihr tatsächlich irgendwelche Nachbarn wohnen, hätten die bestimmt längst die Polizei gerufen. Irgendwas wie Ibiza Dance Style wummert nach draußen. Ich drücke auf die Klingel, merke aber gleich darauf, dass die Haustür offensteht, darum trete ich einfach ein. Ich gehe nach oben und in Amys Wohnung. Sie lacht gerade, den Kopf zurückgeworfen, eine Flasche Bier in der Hand. Ich bleibe kurz stehen. Sie entdeckt mich, kommt auf mich zu und küsst mich einmal auf jede Wange.
»Komm rein! Ich freu mich so, dass du gekommen bist. Das ist meine Mitbewohnerin Hannah«, sie deutet auf eine Frau in der entgegengesetzten Ecke, »und ein paar von den anderen kennst du ja schon … Oliver, Gabrielle …«
Die Namen von Amys restlichen Freunden bleiben mir nur kurz im Gedächtnis: Lucy, Ben, Michelle Ich lasse es zu, dass mir eine Flasche Bier in die Hand gedrückt wird, obwohl ich es nicht ausstehen kann, aus der Flasche zu trinken. Ab und zu nehme ich einen Schluck, während ich höflich mit Oliver plaudere, was harte Arbeit ist, da er einer der Stillsten in unserem Kurs ist. Schließlich werde ich von Amy gerettet, die wild entschlossen scheint, heute Abend einen draufzumachen. Wir tanzen, Amy flirtet, und der Abend wird richtig nett. Ich habe Amy falsch eingeschätzt. Ich hätte nicht gedacht, dass sie mir von Nutzen sein könnte, aber jetzt nehme ich mir vor, Kontakt mit ihr zu halten und sie besser kennenzulernen. Ich lasse mich in den Augenblick fallen. Ich lache viel. Von Herzen. So habe ich mich nicht mehr amüsiert, seit … ehrlich gesagt, weiß ich es nicht mehr. Aber es muss mit Nate gewesen sein. Versteht sich.
Vor beinahe sieben Monaten war Nate in einem Kapitel meines Lebens erschienen wie in einer Szene aus einer Liebesschnulze. Als ich damals den Blick von meinem Computerbildschirm an der Hotelrezeption hob – mit festgefrorenem Arbeitslächeln –, musste ich an mich halten, um nicht laut nach Luft zu schnappen. Der Mann vor mir sah aus, als hätte er alles Schöne im Leben absorbiert und alles Unangenehme oder Traurige an sich abperlen lassen. Blonde Locken wellten sich unter seiner Pilotenmütze hervor, und seine Haut leuchtete natürlich braun. Ihm folgten ein paar ähnlich uniformierte Stewardessen, die mit kurzen Schritten über den Marmorboden trippelten.
»Ich glaube, Sie haben ein paar Last-Minute-Reservierungen für uns? Wir sind mit Maschinenschaden nach Heathrow umgedreht und müssen jetzt eine außerplanmäßige Übernachtung einlegen.«
Bis zu diesem Moment war das Aufregendste, was mir in den acht Monaten an der Rezeption im Airport Inn widerfahren war, dass ein B-Promi versucht hatte, zwei Frauen in sein Zimmer zu schmuggeln, von denen weder die eine noch die andere seine Ehefrau war.
»Arbeiten Sie heute Abend?«, fragte Nate, als ich ihm die Keycard überreichte – sein Zimmer hatte ich bis zuletzt zurückgehalten.
»Um acht habe ich Schluss«, antwortete ich und merkte im selben Moment, wie in mir ein vorfreudiges Kribbeln aus dem Tiefschlaf erwachte.
»Hätten Sie vielleicht Lust, uns die besten Bars in der Nähe zu zeigen?«
»Gern.«
In dieser Nacht war auch ich zu Gast in unserem Hotel. Es war unvermeidlich. Seit der Sekunde, in der sich unsere Blicke getroffen hatten, hatte ich alles darangesetzt, ihn zu blenden.
Sechs Wochen später zog ich zu Nate …
»Juliette?«
»Entschuldige, Amy, ich war gerade ganz woanders.«
»Willst du vielleicht hier auf dem Sofa pennen?«
Ich lasse den Blick durch den Raum wandern und stelle überrascht fest, dass nur noch wenige Gäste geblieben sind. Ich habe zwar halb mitbekommen, wie sich die Leute verabschiedet haben und Oliver angeboten hat, mich nach Hause zu fahren, aber da hatte ich noch nicht gehen wollen. Amy wird einen guten sozialen Kontakt abgeben.
Ich ziehe mein Handy aus der Tasche. »Wirklich nett, vielen Dank. Aber ich muss nach Hause.«
Auf der Taxifahrt scrolle ich durch die Fotos von Bellas Veranstaltung auf Twitter. Der Flut an lobenden Kommentaren nach war es ein weiterer durchschlagender Erfolg für Beautiful Bella . Die Laternen an der Schnellstraße lassen ihr Gesicht abwechselnd verblassen und wieder erstrahlen. Sie sieht atemberaubend aus, eisköniginnenhaft. Perlen – zweifelsohne echt – liegen eng um ihren Hals. Das lange blonde Haar ist elegant hochgesteckt. Auf jedem einzelnen Bild lächelt sie, umgeben von den Großen und Wichtigen der Gegend. Ich fahre mit dem Zeigefinger ihre Konturen auf dem Display nach und wünsche mir, ich könnte sie genauso leicht auslöschen, wie man ein Bild löscht.
Zu Hause gehe ich unruhig auf und ab.
Während ich über den vergangenen Abend nachsinne, bestärke ich mich noch einmal darin, dass es die richtige Entscheidung war, Bella einen Korb zu geben. Nicht dass ich sie bei dieser Gelegenheit angesprochen hätte; ich wollte nur still beobachten. Übung macht den Meister. Wenn für mich irgendwann der richtige Zeitpunkt gekommen ist, Bella in die Ecke zu drängen, wird alles bis ins Letzte durchgeplant sein.
Rache wird am besten kalt serviert, und meine gibt es on the rocks .