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In Heathrow steige ich aus dem Zug, die Automatiktüren des Crew Centers öffnen sich. Überall leuchtet es Grün und Blau – unsere Firmenfarben. In der Kantine entdecke ich, während ich einen doppelten Espresso bestelle, einen freien Ecktisch. Über uns erneuern die Monitore ständig die Liste von verheißungsvollen Flugzielen. Rom. Nairobi. Athen. Mein Blick kommt auf Los Angeles zu liegen: meinem ersten Zielflughafen als Flugbegleiterin in Vollzeit. Ich brauche Abstand von Sweet Pea Cottage, von Dorset und der Vergangenheit. Mein Geist droht zu versumpfen.
LAX
Crew in Raum neun melden,
leuchtet auf den Bildschirmen auf.
Ich stehe auf, sammele meine Sachen ein und gehe zum Briefing. Mir wird eine Arbeitsposition im hinteren Bereich des Flugzeugs zugewiesen.
Der Flug selbst wäre erheblich einfacher, wenn es nicht so viele Passagiere wären. Aus der Galley in die Economy Class zu treten ist tatsächlich ein bisschen so, wie eine Bühne zu betreten, denn immerhin werde ich von Hunderten Augen beobachtet und spüre sofort die unausgesprochene Spannung. Ich löse die Bremse des Trolleys und schiebe ihn vor mir her. Flaschen klirren. Als ich an der mir zugewiesenen Sitzreihe stoppe – sechsunddreißig –, kann ich fast hören, wie die Passagiere zu berechnen versuchen, in welcher Reihenfolge sie wohl bedient werden, und das verleiht mir ein unerwartetes Machtgefühl.
»Lasagne oder Chickencurry?« Ich lächle. »Rotwein oder Weißwein?«
In der First Class sitzt ein prominenter Koch, der, wie ich höre, mit der Galley-Crew und anderen Passagieren Küchentipps teilt. Ich bin halb versucht, nach vorn zu gehen und mich dazuzustellen; vielleicht kann ich etwas Neues aufschnappen, womit ich Nate beeindrucken kann? Dummerweise hänge ich fest, denn ich muss den Service für den Nachmittagstee vorbereiten. Und ehe sich mir eine Gelegenheit bietet, wird bereits der Beginn mit dem Landeanflug über die Bordlautsprecher verkündet.
Nach der Landung werden im Crew-Bus Pläne geschmiedet.
»Hat jemand Lust auf eine Tour zu den Villen der Stars?«, fragt jemand.
Ich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen, als dafür zu bezahlen, dass man mir einen Lifestyle vorführt, den ich mir nie werde leisten können. Ich schließe mich einer Fünfergruppe an, die sich morgen irgendwo am Strand zum Brunch treffen will. Wir sind acht Stunden hinter dem Vereinigten Königreich zurück, also werde sogar ich bis dahin mehr als nur einen Kaffee zu mir nehmen wollen. Ich habe niemandem erzählt, dass ich zum allerersten Mal geflogen bin, sondern nur erklärt, dass ich erst seit Kurzem Stewardess bin und noch nie in LA
war. Ich habe Gerüchte über »Streiche« gehört – ich verabscheue die Bilder, die dieses Wort heraufbeschwört –, bei denen Neulingen aufgetragen wurde, eine Tüte voller Eiswürfel aus dem Flugzeug zu einer Zimmerparty mitzunehmen oder dem Kapitän den Koffer aufs Zimmer zu tragen.
Venice Beach.
Jetzt, wo ich hier bin, an einem Ort, der mir so vertraut ist, als wäre ich in einem Film gelandet, möchte ich mich am liebsten kneifen. Ich
kann nicht glauben, dass ich es wahrhaftig hierher geschafft habe und nun ein Leben führe, wie Nate es tut. Wenn ich mir vorstelle … Wie oft habe ich in unserer Wohnung auf ihn gewartet, während er durch die Welt gondelte und sich austoben durfte. Ich war so eine Dumpfbacke. Ich schaue auf den weiten Strand. Unter den hohen, dürren Palmen machen die Leute ganz selbstverständlich ihr Work-out an den Freiluft-Fitnessgeräten. Ein Rettungsschwimmerstand sticht mir ins Auge. Ich habe bei Babs ein paarmal Baywatch
geschaut und war jedes Mal ganz gebannt.
Ich schlendere mit meinen Kurzzeitfreunden – meinen Kollegen – den Boardwalk entlang und stöbere in den Ständen voller Sonnenbrillen, T-Shirts, Kristallen, Souvenirs, während wir schönen schlanken Menschen beim Joggen, Rollerbladen und Skateboarden ausweichen. Ein Künstler will mein Porträt zeichnen, aber ich lehne lächelnd ab. Ich bin fast entspannt.
Wir finden für unseren Brunch ein Restaurant mit Terrasse. Ich bestelle ein Eiweiß-Omelett und ein Mineralwasser.
»Also keinen Buck’s Fizz zum Frühstück?«, fragt Alan, der Kabinenchef. »Du kannst ruhig trinken, solange du zwölf Stunden vor dem Dienst wieder aufhörst.«
»Ich trinke nur ganz selten«, sage ich. »Ich mache mir eigentlich nichts aus Alkohol.«
Alle lachen los.
»Was denn?«, frage ich. »Das ist die Wahrheit.« Ich sehe der Reihe nach in die altklugen Gesichter.
»Du wirst nicht mehr lange sagen, dass du nur ganz selten trinkst«, sagt Alan und nimmt einen tiefen Schluck aus seiner Sektflöte. »Ich gebe dir sechs Monate. Allerhöchstens.«
Sie können so viel lachen und so viele Vermutungen anstellen, wie sie wollen. Ich blende mich aus.
Während ich 11.000 Meter über dem Atlantik durch den Gang wandere und Essen serviere, hält mich angesichts der endlosen Anfragen nur das Wissen aufrecht, dass meine Tätigkeit ausschließlich Mittel zum Zweck ist. Es gibt einen peinlichen Moment, als ich von Alan über die Bordanlage in die First Class gerufen werde, um mit einem französischen Fluggast zu sprechen, der ein paar Nachfragen hat.
»Kann er kein Englisch?«, frage ich.
»Sie.
Nur gebrochen. Deswegen brauchen wir dich.«
Ich gehe so langsam wie möglich nach vorn und versuche währenddessen heraufzubeschwören, dass jemand ohnmächtig im Gang zusammenbricht oder mir tausend komplizierte Fragen stellt, denn mein Problem ist, dass ich bei der Bewerbung meine Französischkenntnisse etwas frisiert habe. Bestenfalls besitze ich Grundkenntnisse. Trotzdem bin ich das Risiko eingegangen und habe es geschafft, mich durch die gnädig kurze mündliche Prüfung zu schummeln, indem ich mir ein paar Wochen lang einen Audio-Selbstlernkurs verpasste und bei der Prüfung selbst so tat, als wäre ich schwer verschnupft. Ich war so erleichtert, als ich aus dem Prüfungsraum spazierte, dass ich mir keine Gedanken darüber machte, wie die langfristigen Konsequenzen aussehen könnten. Ich sah das als weitere Hürde, die ich genommen hatte, nicht als mögliches zukünftiges Problem.
Lächelnd stelle ich mich Madame Chauvin vor, einer älteren Dame, die erwartungsvoll von ihrem Sitz zu mir aufsieht und sofort zu einer längeren Ansprache ansetzt.
»Ich regle das«, sage ich zu Alan, der servil neben mir ausharrt.
Er zuckt mit den Achseln und verschwindet nach vorn in die Galley.
Einen französischen Satz habe ich auswendig gelernt und bringe ihn jetzt vor. »Je ne parle pas très bien francais …« Ich spreche nicht sehr gut Französisch. Ob sie nicht langsamer sprechen könne?
Sie stutzt, lächelt dann und spricht langsamer.
Ich gehe neben ihrem Sitz in die Hocke, sodass hoffentlich niemand sonst mithört. Ich schnappe die Worte bagages
und Paris
auf. Ich überlege.
Immer noch lächelnd erkläre ich, praktisch flüsternd: »Pas de problème«, und biete ihr einen Café au lait
an.
Sie öffnet den Mund, doch ich tätschele ihren Arm und sage: »De rien«, dann stehe ich auf und gehe. Bevor ich zurück in die Economy flüchte, bitte ich die Galley-Crew, ihr einen Kaffee mit drei Keksen, am besten Schokolade, zu bringen.
Alan, der an einer Theke lehnt und auf seinem iPad tippt, hält inne und sieht mich durch seine Brille an.
»Was wollte Madame Chauvin denn?«
»Sie macht sich Sorgen, ob ihr Gepäck in den Anschlussflug nach Paris kommt.«
»Ach so. Und das war alles?«
»Na ja, außerdem vermisst sie ihre Enkel und freut sich darauf, sie wiederzusehen. Sie war lange weg und hat andere Verwandte besucht. Ich sollte jetzt wieder nach hinten, ich bin noch nicht fertig mit der Abrechnung.«
Ich eile erst durch die Business Class und dann durch die Premium Economy, bis ich das sichere Heck erreicht habe. Das Meer von Economy-Gesichtern ist eine willkommene Erleichterung, doch ich bleibe nervös, bis wir gelandet sind. Jedes Mal, wenn das Bordtelefon klingelt, macht mein Herz einen Satz aus Furcht, »die Französisch sprechende Kollegin« wird noch mal angefordert.
Nach der Landung fahre ich kurz nach Hause, um meine Tasche abzuladen, mich zu duschen und etwas anderes anzuziehen, bevor ich den Zug nach Dorchester nehme. Unterwegs schicke ich Babs eine Nachricht mit der Bitte, mich am Bahnhof abzuholen, dann schließe ich
die Augen und mache ein kleines Nickerchen. Am Bahnhof wartet sie schon in ihrem roten Mini auf mich.
»Ich glaube, ich werde das Cottage verkaufen«, sage ich zu ihr, als wir daran vorbeifahren. »Ich muss einfach darauf bauen, dass sich irgendein Hippie-Romantiker findet, der auf Hänsel und Gretel, Feen, Blumen und Fliegenpilze steht.«
»Da bin ich ganz deiner Meinung, Liebes.«
Ich hatte mit einer ganzen Flotte an Einwänden gerechnet, einsatzbereit und aufgereiht wie Flugzeuge vor der Rollbahn. Meine Mutter hatte das Haus von meinen Großeltern vermacht bekommen, die beide noch vor meinem ersten Geburtstag gestorben waren. Barbara war damals schon mit Ernie verheiratet, und beide lebten glücklich in ihrem modernen Einfamilienhaus, in dem »alles funktionierte«.
»Ich hatte ihr jahrelang zugeredet, endlich zu verkaufen, aber mit ihr war einfach nicht zu reden. Das Cottage ist was für eine Familie, und was den Garten angeht …«
»Ein Dschungel, soweit ich das durchs Fenster erkennen konnte.«
Amelia kaufte gern verschiedene Blumensamenmischungen, die sie in einer großen Schüssel vermengte, bevor sie sich damit in den Garten stellte, sie mit beiden Händen in die Luft warf und voller Vorfreude beobachtete, wie sie willkürlich wieder herabregneten. Natürlich ging nur ein Teil der Samen auf; Farbexplosionen inmitten von Gras und Unkraut, bis die Blumen irgendwann erstickten oder den Kampf nach langen wasserlosen Wochen in der Sommerhitze aufgaben.
»Sie konnte sich hier unmöglich erholen, so ganz allein, umgeben von Erinnerungen«, sagt Babs leise, fast zu sich selbst.
»Sie hatte mich«, erwidere ich. Kein Wort über die Prozession ungeeigneter Männer, nachdem Dad gegangen war.
»Ich habe immer ein Auge auf dich gehabt«, sagt Babs schnell. »Ich habe dir Suppe und Apfelkuchen gemacht. Und du wusstest, dass dir
meine Tür jederzeit offenstand.«
Gelegentlich fehlen mir die Worte. Suppe und beschissener Apfelkuchen. Geburtstagskarten von meinem Vater. Als wären wir die Waltons. Amelia fühlte sich von jeglicher mütterlichen Verantwortung entbunden, nachdem mir ein Theaterstipendium an einem Internat zuerkannt worden war, einer Institution, die sich ihrer Werte
rühmte. Auf einem Holzbalken im Speisesaal prangte die lateinische Formel für Licht und Wahrheit – lux et veritas.
Wenn ich keine Schuluniform trug, stellten meine abgetragenen Kleider und kindischen Disney-Schlafanzüge sicher, dass ich noch tiefer als sonst unter der Eiskönigin und ihrer Clique mit ihren passenden Seidenpyjamas und Markenpullovern, -hosen und -schuhen stand.
Wir erreichen Barbaras Haus. Sie parkt vor ihrer Garage, die sie seit Ernies tödlicher Herzattacke vor sieben Jahren nicht mehr betreten hat. Er liebte es, sich darin zu verkriechen, Radio Four zu hören und Holztruhen zu schnitzen, die er später auf Flohmärkten verkaufte. Babs dreht den Schlüssel im Schloss ihrer weißen PVC
-Haustür, ich folge ihr nach drinnen und bringe zuerst meine Taschen hoch ins Gästezimmer.
»Kannst du mir helfen, das Cottage auszuräumen?«, frage ich, als ich wieder nach unten komme. »Ich möchte ein paar Makler durch das Haus schicken. Vielleicht kann ich wenigstens notdürftig Frieden mit der Vergangenheit schließen, wenn es erst verkauft ist.«
»Ja, natürlich, Lily, Liebes.«
»Ich nenne mich inzwischen Juliette.« Es schadet nichts, wenn sie das weiß.
»Ach. In Ordnung. Schön, solange du nicht erwartest, dass ich immerzu daran denke.«
»Lass uns Kaffee trinken und danach rübergehen«, sage ich. »Ich will die Sache hinter mich bringen.«
Jetzt, so kurz vor Ende März, lockert sich allmählich der eisige Griff des Winters. Kirschblüten überziehen die Zweige der Dorfbäume, und Osterglocken zwängen sich durch die Rasenflächen. Amelias liebste Jahreszeit. Meine allerdings nicht, denn sie erinnert mich zu stark daran, wie die Zeit vergeht. Ohne Nate. Im Juli letzten Jahres kamen wir zusammen, und ich bin fest entschlossen, unsere Beziehung noch vor unserem Jahrestag zu kitten. Ich beschleunige meinen Schritt, sammele neue Entschlusskraft und stoße das Tor vor Sweet Pea Cottage auf.
Gleich als Erstes gehe ich nach oben ins Zimmer meiner Mutter und hebe das Foto auf, dass ich an jenem Abend fallen ließ; das Bild mit ihrem kostbaren Will, mir und meiner früheren besten Freundin Kim, die damals nebenan wohnte. Ich zwinge mich, es ein paar Sekunden zu betrachten, dann reiße ich es in winzige Fetzen. Es war eins der letzten Fotos, die von ihm gemacht wurden – den blauen Elefanten, den er fest in seinen Händen hält, bekam er erst eine Woche vor seinem Tod von Babs geschenkt, was wohl der Grund dafür ist, dass Amelia das Bild versteckt hatte. Ich will keine Andenken. Kurz nach Dem Vorfall wurde Kim von ihrer Familie in ein Internat gesteckt, und ich blieb allein unter den Kindern in der kleinen Dorfschule zurück, die mich entweder zutiefst verunsichert anschwiegen oder mich offen wie eine Aussätzige behandelten.
Ich bleibe reglos stehen.
Stille.
Ich schließe die Augen.
Ich kann fast die Sonne auf meiner Haut spüren, so wie an jenem
Tag. Damals ging kaum ein Luftzug. Ich tue das nur selten. Ich kehre selten dorthin zurück, und auch jetzt wäre das nicht nötig, trotzdem lässt mir ein überwältigender Drang zur Selbstpeinigung keine Ruhe, bis ich mich dazu zwinge. Mein Atem geht schneller, sobald ich mir die missmutige Gleichgültigkeit – und Trägheit – ins Gedächtnis rufe, die ich damals
empfand. Bis ich mich erschrocken mit einem Ruck aufsetzte. Mir war übel, und ich hatte ein kaum wahrnehmbares Sabbern im Mundwinkel bemerkt. Ich hatte es weggewischt, während das unablässige Dröhnen der Bienen von einer gespenstischen Stille durchdrungen wurde.
Entweder begann damals alles, oder alles endete; das kann ich nie entscheiden.
Schaudernd öffne ich die Augen, laufe nach unten und krame in der Küche herum. Ich reiße mehrere Müllsäcke von einer Rolle und drücke Babs ein paar davon in die Hand.
»Hier. Wenn du irgendwas behalten willst, dann nimm es. Alles andere wird gespendet oder landet im Müll.«
Wir brauchen zwei Tage. Mir bleibt nichts anderes übrig, als bei Barbara zu übernachten, aber dann ist alles erledigt.
Bevor ich Dorchester verlasse, lasse ich noch mehrere Nachschlüssel machen und händige sie diversen Immobilienmaklern aus, erst dann kehre ich mit dem Zug in meine Schuhschachtel zurück.
Mein Leben nimmt langsam wieder Gestalt an. Wenn der Hausverkauf erst abgeschlossen ist, habe ich wieder Geld. Während der letzten Monate war ich wohl eher Igel als Hase, aber jeder weiß, wer das Rennen am Ende gewinnt.
Zum ersten Mal, seit ich hier eingezogen bin, schlafe ich die Nacht durch.
An meinem vorletzten arbeitsfreien Tag stehe ich früh auf und fahre zu Nate. Er ist zu Hause, bedauerlicherweise, aber ich kann nicht länger auf meine Dosis verzichten. Ich gehe an dem Theater und einer Bank vorbei und überquere dann die Straße. Ich starre auf sein Haus, in dem es noch fünf weitere Wohnungen gibt. Es steht in einer kleinen Seitenstraße, ein wenig zurückgesetzt vom eigentlichen Richmond
Green. Das Grundstück ist umgeben von einem gepflegten Gemeinschaftsgarten vor und hinter dem Haus. Ich gehe mehrmals daran vorbei, ziehe weitschweifige Bahnen über die weite offene Fläche und bleibe in der Nähe, bis Nate gegen neun zu seinem üblichen Morgenlauf aufbricht, den er regelmäßig mit einem Kaffee in seinem Lieblingscafé beschließt. Auch diesmal ist das Wetter auf meiner Seite. Obwohl die dunklen Wolken aussehen, als könnten sie jeden Moment platzen, ist noch kein Tropfen gefallen, doch das bedeutet, dass ich guten Gewissens die Kapuze meines Regenmantels hochgeschlagen lassen kann.
Von meinem Posten in der Nähe des Eingangs zum Café kann ich einige Zeit später durch das Schaufenster erkennen, dass Nate sich ein Croissant bestellt hat. Ungewöhnlich. Hoffnung blüht auf; Frustessen könnte darauf hindeuten, dass er einsam ist. Ich ziehe mein Handy heraus und starre auf das Display. Nate lässt sich Zeit beim Kaffeetrinken und studiert ausgiebig die bereitgelegten Gazetten. Als ich von meinem Handy aufsehe, durchschießt mich Angst. Nate kommt geradewegs auf den Eingang zu. Mit gesenktem Kopf gehe ich weiter und verschwinde im nächsten Ladeneingang, wo ich mit angehaltenem Atem abwarte. Er geht an mir vorbei. Mein Herz schlägt wild. Ich muss tief durchatmen.
Dann gehe ich in die entgegengesetzte Richtung davon, auf den Fluss zu, und rufe Amy an. Ich brauche Ablenkung.
»Hast du Lust auf ein paar Tapas heute Abend in Richmond?«, frage ich. »Ich kenne ein gutes Restaurant, preiswert und nett.«
Es besteht keine Gefahr, dass wir Nate über den Weg laufen, denn er ist da schon unterwegs nach Boston.
Amy ist einverstanden. »Aber erst kommst du auf einen Drink zu mir«, sagt sie.
Der Tapas-Laden war eines unserer Lieblingsrestaurants. Alejandro, der geschwätzige Manager, wird Nate bestimmt erzählen, wie glücklich
ich auf ihn gewirkt habe, wenn ich ihm gegenüber nur ein-, zweimal erwähne, wie viel entspannter ich mit meinem neuen – erfundenen – Freund bin. Nate sollte
eifersüchtig sein. Es liegt in der menschlichen Natur, immer genau das zu wollen, was man nicht haben kann, das weiß ich nur zu gut, und ich wette, Nate checkt ab und zu aus reiner Neugier meine Facebook-Seite, auch wenn er mit seiner Entfreundung den Eindruck erwecken will, er sei nicht mehr interessiert. Es wird ihm guttun, wenn er sieht, dass ich mit einer neuen Freundin ausgehe. Und selbst wenn nicht, wird vielleicht irgendwer
etwas sehen und mich positiv erwähnen. Ich musste zwei Facebook-Accounts erstellen – einen als Elizabeth und einen als Juliette – und achte peinlich genau darauf, welche Bilder ich auf welcher Seite poste, denn es würde sofort auffliegen, wenn ich am einen Tag in Melbourne und am nächsten in Singapur wäre.
Ich kehre zum Bahnhof zurück, blicke zu der unübersehbaren quadratischen Uhr auf – es ist noch nicht mal Mittag – und fahre über den Nachmittag nach Hause. Ich sollte die Zeit, bis ich zu Amy aufbreche, produktiv nutzen, darum hole ich meinen Laptop heraus und mache mich an die Arbeit. Nachdem ich mich über ein paar Notare informiert habe, schaue ich nach, was Bella so treibt. Sie unterstützt bereits die nächste Wohltätigkeitsorganisation, dieses Mal eine gegen Mobbing. Zorn durchfährt mich. Dazu hat sie kein Recht, nicht das geringste.
Scheiß-einatmen, scheiß-ausatmen. Ein. Aus. Ein. Aus.
Fasse dich in Geduld.
Halte dich an den Plan.
Ich lenke mich ab, indem ich nach einer Fahrschule suche, und buche zuletzt ein paar Fahrstunden.
Ich nehme zur Abwechslung den Bus nach Heathrow und dort den
nächsten nach Brentford, auch wenn das viel länger dauert. Das ist egal, ich habe reichlich Zeit, obwohl ich heute so viel zu tun hatte. Jeder Flug, den wir absolvieren, bringt uns je nach Destination zwei bis fünf Ruhetage ein – »Time At Base«-Tage, bei uns allgemein TAB
-Tage genannt. Der Bus legt immer wieder Halt ein, während er sich durch Hounslow schlängelt und dann auf die A4 zurückfährt, wo er an zurückgesetzten Häuserreihen vorbeirollt. Selbst über dem Dröhnen des Busmotors höre ich praktisch ständig das Pfeifen eines Flugzeugs im Landeanflug. Wenn ich durch das Fenster nach oben blicke, kann ich – sogar bei Tag – an jedem nahenden Flugzeug die blinkenden Anti-Kollisionslichter und das Fahrwerk mit den dicken schwarzen Reifen erkennen, das aus dem metallischen Unterbauch herausragt.
An der Brentford High Street steige ich vor dem städtischen Gerichtsgebäude aus, und dann sind es noch vierzig Minuten zu Fuß zu Amys Wohnung. Ich passiere glänzende, glasverkleidete Hochhäuser und die deprimierenden grauen Brückenpfeiler der M4 über mir. Der letzte Abschnitt meiner Reise führt mich in eine breite Wohnstraße.
Bis ich Amys Klingel drücke, bin ich schweißgebadet.
Sie öffnet die Tür in einem pfirsichfarbenen Morgenmantel. »Entschuldige! Ich bin ein bisschen spät dran. Nimm dir was zu trinken aus dem Kühlschrank«, ruft sie mir über die Schulter zu und verschwindet in ihrem Schlafzimmer. »Ich bin gleich fertig.«
Ich verzichte. Stattdessen warte ich auf dem Sofa auf sie. Sie braucht Ewigkeiten, also ziehe ich gelangweilt eine Schublade im Esstisch auf. Darin liegt hauptsächlich Müll. Ich kann nicht anders, ich muss Ordnung schaffen, sortiere die herumliegenden Stifte und berge ein halb aufgelöstes Päckchen mit klebrigen Hustenbonbons, die eindeutig in den Abfall gehören. Ich entdecke einen Schlüsselring mit Homer Simpson auf dem Anhänger, eine Eruption von Blau und Gelb, und zwei Schlüsseln daran. Ersatzschlüssel? Ich nehme sie heraus und lasse sie in meine Tasche gleiten – man weiß nie, wozu so was gut sein kann.
»Du erinnerst dich doch an Jack von meiner Party, oder?«, sagt Amy, als wir endlich unterwegs sind. Sie wartet meine Antwort gar nicht erst ab. »Ich hoffe, es stört dich nicht? Er hatte heute Abend nichts vor, darum habe ich ihm gesagt, dass er mitkommen kann.«
Ich lächle. »Wie schön. Je mehr, desto besser.«
Natürlich stört es mich, verflucht noch mal.
Sobald wir das Restaurant betreten, sinkt meine Laune noch tiefer. Weit und breit ist kein herzlicher Alejandro zu sehen; ich kann seine Abwesenheit spüren, und mein Gefühl wird verstärkt durch den fehlenden vertrockneten Kaktus auf dem hohen Fensterbrett und die verschwundenen Papiertischtücher mit den schlecht gezeichneten Sombreros. Stattdessen wirkt das Lokal … gepflegt. Ich weiß instinktiv, dass er verkauft hat, dass er weitergezogen ist. Ich fühle mich verraten. Ich war eine treue Kundin.
Eine Kellnerin führt uns an einen Tisch mit vier Gedecken. Ich blicke auf den Hinterkopf eines Mannes; er dreht sich um und grinst uns an.
»Hi, Jack«, sage ich mit einem breiten Lächeln. »Für wen ist der freie Platz?« Ich rutsche lässig Amy gegenüber in die Bank.
»Für meinen Kumpel Chris«, antwortet Jack, immer noch grinsend.
Wie immer, wenn die Dinge aus dem Lot geraten, spüre ich ein nervöses Kribbeln in meiner Brust. Ich will keine Doppel-Dates und mich nicht mit anderen Männern treffen – wozu auch? Ich habe Nate. Ich zwinge mich, die unter dem Tisch geballten Fäuste zu öffnen, die Speisekarte zu nehmen und aufzuschlagen.
Gerade als ich vorschlagen will, dass wir uns das Essen sparen und stattdessen direkt in eine Bar verschwinden sollten, trifft Chris ein. Er ist in jeder Hinsicht überlebensgroß: riesig, laut, bierbäuchig. Obwohl ich ihn lächelnd willkommen heiße, geraten die nächsten Stunden zur Tortur. Ich habe das Gefühl, in eine Falle getappt zu sein. Es ist
unerträglich, hier zu sitzen, mit den falschen Menschen in einem falschen Leben, und dabei so tun zu müssen, als wäre alles in bester Ordnung. Ich habe die albtraumhafte Achterbahnfahrt mit Anfang zwanzig nicht ertragen, um jetzt einen so brutalen Stich innerer Leere zu empfinden. Ich finde, dass mir eine kosmische Belohnung zusteht wie … Zufriedenheit oder Stabilität. Ich gehöre nach Hause, zu Nate. Jede Sekunde, die wir getrennt sind, ist vertane Zeit, weil schon jetzt sonnenklar ist, wie alles ausgehen wird – wir werden
zusammen sein. Mit Nate fühlte ich mich, als hätte ich einen Zug nach Hause bestiegen, nur um auf halber Strecke in einer Winternacht aus dem Waggon geworfen zu werden und erklärt zu bekommen, dass ich mein Ziel mit einer Reihe von Ersatzbussen erreichen müsste.
Ich will das ganze Paket: Nate, die offenen, annehmenden Arme seiner Familie, ein angenehmes Leben und dazu Kinder, die später mal Fußballer – Will liebte es, Fußball zu spielen – und Schauspieler werden. Ich würde mich selbst um meine Kinder kümmern; ich würde niemandem zutrauen, sie angemessen zu beaufsichtigen. Ich will einer jener Menschen sein, die anderen Menschen als Vorbild dienen und die bewundernde Blicke auf sich ziehen – in einem Restaurant etwa oder vielleicht nur mit den Kindern auf dem Weg zum Park. Ich möchte, dass sich die Leute ausmalen, ich sei einer jener Menschen, die alle fünf Sinne bei sich haben, dass sie sich mein geordnetes Zuhause vorstellen, wo Kinderbilder unter Magneten an der Kühlschranktür hängen, während mein Gemahl eine Flasche mit gekühltem teurem Wein öffnet und ich das Risotto umrühre.
Als es auf Mitternacht zugeht, sind alle dicht und lachen über Sachen, die auch nicht im Ansatz witzig sind. Wenn Jack mir noch ein einziges YouTube-Video zeigt, auf dem ein Mann von seinem Motorrad in einen extra dafür postierten Heuhaufen fliegt, fange ich an zu schreien. Und ich glaube nicht, dass ich dann so schnell wieder aufhören kann.
Wir hängen inzwischen in einer langen Schlange an einem
verlassenen Taxistand fest. Der Geruch des Kebabs aus einem nahen Imbiss erschlägt mich. Ich ertrage ihn keine Sekunde länger. Kindischer Trotz ergreift mich.
»Ich habe eine Idee«, schlage ich vor. »Ein Freund von mir wohnt ganz in der Nähe, er ist nicht da, aber ich darf hin und wieder seine Wohnung benutzen. Zum Ausgleich, weil ich seine Fische füttere und alles im Auge behalte. Wir könnten auf einen Absacker zu ihm gehen.«
»Bist du sicher?«, fragt Amy. »Was ist mit …?«
»Komm schon. Ich habe die Nase voll von der Warterei. Wir können in der Wärme was trinken, und ich rufe uns ein Minicab.«
Amy zögert immer noch.
»Mir nach«, verkünde ich und marschiere los durch die Gasse in Richtung Richmond Green. »Beim Hochgehen müsst ihr leise sein, ein paar von seinen Nachbarn arbeiten Schicht. Aber wenn wir erst in der Wohnung sind, ist alles gut.«
Selbstgefällig lasse ich alle in die Wohnung, so als hätte ich endlich die Zügel in der Hand. Mein Blick fliegt durchs Wohnzimmer. Alles ist aufgeräumt. Nirgendwo liegen Arbeitshandbücher, Briefe oder allzu persönliche Dinge herum. Nate und ich sind beide ordentlich, und dass Gegensätze sich anziehen, ist mit Sicherheit ein Mythos. Ich ziehe die Jalousien herunter und bestehe darauf, dass jeder einen Kaffeelikör trinkt. Es wird Nate nicht auffallen, wenn der Pegel in der Flasche sinkt, er hasst das Zeug. Jack setzt sich direkt neben Amy aufs Sofa. Neben Chris ist noch ein Platz frei, er sitzt auf dem zweiten Sofa, genau auf Nates Stammplatz. Es geschieht Nate recht, dass ein anderer Mann – selbst wenn er ihm nicht das Wasser reichen kann – seinen Platz einnimmt.
Die Fische ziehen Bahnen. Wenn Fische sprechen könnten … Zum ersten Mal überhaupt füttere ich sie, indem ich eine dünne Schicht übelriechender Konfetti-Teilchen auf die Wasseroberfläche sprenkle. Rainbow sieht mich grimmig an, während er das Maul aufreißt und
zuklappt.
»Bin gleich wieder da«, sage ich. »Ich muss nur kurz ins Bad, dann rufe ich uns ein Taxi für später.«
Sie ignorieren mich; sie grölen bereits über das nächste YouTube-Video auf Jacks Handy.
In Nates Gästezimmer werfe ich einen Blick auf seinen Schreibtisch. Fast leer, wie üblich, bis auf einen Topf mit einem Sortiment von Hotel-Kugelschreibern. Er neigt dazu, seinen Papierkram mitzunehmen. Trotzdem kann ich der Versuchung nicht widerstehen, in seinen Schubladen nachzusehen, während ich die Nummer einer Taxigesellschaft wähle und mir das Handy zwischen Ohr und Schulter klemme.
Es läutet.
Eine Männerstimme antwortet: »Hallo?«
Mein Blick kommt auf einem teuren altweißen Umschlag zu liegen. Eine Einladung? Wozu? Von wem? Ganz behutsam ziehe ich die Karte heraus, obwohl Nate den Umschlag längst mit dem Brieföffner aufgeschlitzt hat.
»Hallo? Bob’s Cars?«
Ich muss mich zum Sprechen zwingen. »Ach, hallo, ja … ich möchte bitte ein Taxi bestellen …«
Dann lege ich auf, sinke aufs Bett und lese die Zeilen, bevor sie vor meinen Augen verschwimmen.