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Immer wenn ich den »Kontakt« mit Bella suche, ob nun online, aus der Distanz oder auf Fotos, bereite ich mich mental vor. Ich verschanze mich hinter einer imaginären Schutzmauer. Für jeden ist das, was ich sehe, völlig belanglos – für mich hingegen jedes Mal ein neuer Tiefschlag. Die nächste schmerzhafte Erinnerung daran, wie sie
die Art von Leben führt, das eigentlich mir zusteht.
Es ist eine Einladung zu Bella nach Hause, wo der dreißigste Geburtstag einer Freundin gefeiert werden soll. Und mich stört nicht die Tatsache, dass ihre Freundin eine ziemlich bekannte Prominente ist – nichts könnte mir gleichgültiger sein –, mich wurmt die unverhohlene Exklusivität.
Ich würde zu gern eingeladen werden und mich in denselben gesellschaftlichen Kreisen bewegen wie Nate. Denn auch ich war früher mit Bella bekannt.
»Juliette?« Amy steht mit gerunzelter Stirn in der Tür, sichtlich verwirrt trotz ihres glasigen Blicks.
»Entschuldige, ich wurde abgelenkt. Ich habe meinem Freund eine Nachricht geschickt, dass wir hier sind, und er hat mich gebeten, was für ihn nachzusehen.«
Ich lege die Karte in die Schublade zurück, schalte das Licht aus und folge ihr zurück ins Wohnzimmer. »Noch jemand einen Kaffeelikör?«, frage ich mit Gastgeberinnenlächeln. »Der Typ aus der Zentrale meinte, dass eine Menge los ist. Das Taxi braucht noch eine Stunde.«
Es kostet mich Mühe, am Ball zu bleiben. Ich lächle und nicke und beteilige mich, so gut ich kann. Aber eigentlich möchte ich laut aufjubeln, als der Fahrer nach fünfundvierzig Minuten anruft und uns
mitteilt, dass er vor der Tür steht.
»Ich habe zwei Wagen bestellt«, lüge ich. »Ich nehme den nächsten und fahre heim. Außerdem«, ergänze ich, als Amy den Mund öffnet, als wollte sie Protest einlegen, »will ich hier noch ein bisschen aufräumen.«
Letzteres ist nicht gelogen, denn ich muss überprüfen, ob ich alles an den richtigen Platz zurückgelegt habe. Ich darf keine Spuren hinterlassen; Nate ist pingelig. Ich überzeuge mich, dass sein Flug nach Boston tatsächlich gestartet ist, bevor ich mich sicher genug fühle, um die Nacht hier zu verbringen. Ich wüsste nicht, was dagegen spräche. Ich kehre ins Arbeitszimmer zurück und ziehe noch einmal die steife Einladungskarte heraus.
Ich würde mich aufrichtig freuen, wenn wir dich bei der Feier …
Amelias Entschluss, ein Internatsstipendium zu beantragen, statt mich weiter in die örtliche Gesamtschule zu schicken, fiel genau zu dem Zeitpunkt, an dem sich meine pubertären Hormone bemerkbar machten. Amelia hatte mit mir für die Aufnahmeprüfung geübt, allerdings fand ich es relativ simpel, gegensätzliche Monologe zu analysieren und eine Abfolge von Szenen zu improvisieren. Die Schulsprecherin, Bella, wurde von der Hausmutter beauftragt, sich um mich zu kümmern und mich mit allem vertraut zu machen, was sie – das sei fairerweise gesagt – auch tat. Anfangs. Bella war elegant, intelligent, witzig, schlank und schön. Unter Bellas Fittichen war ich sicher vor meinen Mitschülerinnen, die auf meine zu enge, billige Kleidung herabsahen, unter denen sich deutlich mein Babyspeck abzeichnete.
Der innere Kreis, also der »coole Teil« der Schülerschaft, bestand hauptsächlich aus Wochenendheimfahrerinnen. Bellas Familie lebte in einem exklusiven Viertel von Bournemouth. Ich ließ mich nur vage
darüber aus, wie nahe meine Mutter lebte. »Auf dem Land«, antwortete ich bloß, wenn ich gefragt wurde, dabei waren es tatsächlich genau zweiunddreißig Minuten mit dem Auto – ich hatte gestoppt, wie lange der Taxifahrer an meinem ersten Tag gebraucht hatte. Die Wochenenden schleppten sich dahin. Normalerweise entzog ich mich und verkroch mich in der Bibliothek, wo ich die erlaubten Zeitschriften durchblätterte – Vogue
und Tatler –,
und mir meine zukünftigen Einladungen auf Partys ausmalte, die mich auch auf die Fotos von Galas und anderen VIP
-Events hinten im Heft brächten.
Bei den Theateraufführungen bekam Bella stets die Rollen, die bei einem Grundschul-Weihnachtsspiel jener der heiligen Maria entsprochen hätten, während ihre engsten Freundinnen – Stephanie und Lucy – die der Heiligen Könige übernahmen. Ich spielte trotz meines Stipendiums Statistenrollen – einen Hirten oder Esel –, auch wenn ich abseits der Bühne besondere Aufgaben zugeteilt bekam, wie Stücke schreiben oder Regie führen. Ich versuchte, gleichmütig zu bleiben, trotzdem schmerzte es, weil auch ich ein Recht darauf hatte zu glänzen, Applaus einzuheimsen und dadurch meinen sozialen Status zu erhöhen.
»Die kriegt sie nur, weil ihre Familie so stinkreich ist. Sie spenden der Schule Unsummen. Gegen sie hat keine eine Chance«, flüsterte mir Claire, eine stille Mitschülerin, auch Stipendiatin und darüber hinaus Sportskanone, einmal zu, als Bella die nächste begehrte Rolle zugesprochen bekam.
Ich konnte Claire gut leiden, trotzdem konnte ich mich nicht mit ihr anfreunden, denn ich hatte mitbekommen, dass Bella – auch wenn sie nach außen hin bei mir eine Ausnahme machte – es allgemein nicht guthieß, dass Stipendiatinnen einen »Freifahrtschein« bekamen, während die meisten aus dem inneren Kreis Eltern hatten, die hart gearbeitet hatten, um zu Wohlstand zu kommen. Der Gedanke, dass Bella je sehen könnte, woher ich kam, erfüllte mich mit Scham. Nur
nachts, wenn ich im Schein der Taschenlampe in mein Tagebuch schrieb, ließ ich meinem Gefühl, hier am falschen Platz zu sein, freien Lauf, aber auch dabei sparte ich mit Details.
Es schmerzt mehr, wenn man die Wahrheit auch noch schwarz auf weiß vor sich sieht.
Ich gähne. Es ist drei Uhr morgens, von draußen leuchtet der Vollmond herein.
Ich gehe ins Bad, schminke mich mit Seife sowie lauwarmem Wasser ab und putze mir die Zähne mit Nates elektrischer Zahnbürste (er hat eine zweite mit Batterie, die er im Dienst mitnimmt).
Als ich aufwache, durchlebe ich ein paar kostbare, flüchtige Sekunden, in denen ich glaube, dass alles noch so ist, wie es sein sollte. Ich liege glücklich und zufrieden in unserem Bett, während Nate Frühstück macht oder joggen gegangen ist. Aber wie jedes Mal schlägt gleich darauf die niederschmetternde Realität zu, und das schwebende, nicht greifbare Glücksgefühl zerplatzt wie eine Seifenblase.
Ich schaue auf mein Handy; es ist Mittag. Ich mache Kaffee und werfe einen Blick in den Gefrierschrank. Die Muffins sind noch unberührt, darum ziehe ich sie ein winziges Stück weiter vor.
Mein Handy läutet. Ein Makler.
»Fantastische Neuigkeiten, Miss Price«, sagt die junge Männerstimme. »Wir haben bereits ein Angebot, das fast dem geforderten Preis entspricht. Und wir bräuchten nicht abzuwarten, bis die potenziellen Käufer ihre eigene Bleibe verkauft haben, denn sie leben derzeit zur Miete.«
Damit werde ich in Kürze so viel Geld zur Verfügung haben wie noch nie in meinem Leben. Amelias Schuldgeld. Das bedeutet, dass ich mir aussuchen kann, wo ich wohnen will; ich brauche nicht länger im Exil in Reading zu versauern. Ich sehe mir Immobilienangebote in Richmond
an, doch die sind reine Halsabschneiderei. Realistisch betrachtet kann ich mir hier nur eine winzige Wohnung leisten, mehrere mögliche Objekte versehe ich mit einem Lesezeichen.
Ich wechsele zu Facebook. Bei Amy tut sich noch nichts. Michele Bianchi, Halbitaliener und Freund aus längst vergangenen Statistentagen, hat eine kleine Rolle in einem Fernsehspiel als Assistent einer Tierärztin ergattert. Ich tippe Glückwunsch!
Niemand sprach ihn je nur mit seinem Vornamen an – er hieß grundsätzlich Michele Bianchi. Wir haben oft zusammen Mittag gegessen und den richtigen Schauspielern bei der Arbeit zugeschaut. Wenn ich alles daran gesetzt hätte, wäre auch für mich eine Schauspielschule drin gewesen. Mir gefiel der Gedanke, ein Doppelleben zu führen; das eine als ich selbst, das andere als erfundene Figur. Doch nachdem ich bei der ersten sich bietenden Gelegenheit von meiner Schule abgegangen war, machte ich stattdessen einen Job nach dem anderen: als Floristin, Servicekraft bei einer Event-Agentur, Verwaltungsassistentin, Verkäuferin, um nur ein paar zu nennen. Mit meinen Wohngelegenheiten verhielt es sich ähnlich. Ich hatte nacheinander Zimmer in WG
s angemietet, kehrte aber regelmäßig ein paar Monate später nach Dorset zurück, weil ich es hasste, mit Fremden zusammenzuleben. Wenn ich es recht überlege, verhält es sich mit meinen Männerbeziehungen und Freundschaften ähnlich. Im Allgemeinen sind die Menschen für mich eine Enttäuschung, sobald ich sie näher kennenlerne. Nur auf Nate kann ich bauen. Bei ihm fühlt sich alles richtig
an. Anders kann ich es einfach nicht beschreiben.
Ich scrolle durch die Chronik seiner Facebook-Seite; er war in Boston im Fitnessclub.
Bella hat getweetet, dass sie heute Morgen Hot Yoga ausprobieren will.
Ich sehe mich wie üblich ein bisschen um. Das hat noch nie geschadet, und selbst als ich noch hier lebte, gab es immer Dinge, die zu
kopieren oder einzustecken sich lohnte. Weil man nie wissen kann im Leben, einfach niemals. Mir sticht nichts Neues oder Ungewöhnliches ins Auge, darum wasche und trockne ich meinen Kaffeebecher ab, hänge ihn zurück an den Tassenbaum und überzeuge mich abschließend dreifach, dass alles an seinem Platz ist. Mein Blick fällt auf die Kühlschranktür, auf der freie Flächen zwischen den wenigen Fotos und Werbezetteln klaffen. Früher war sie viel farbenfroher. Nate brachte mir aus jedem Land, in das er kam, Kühlschrankmagneten oder Tassen mit. Richtige Touristensouvenirs, weil er genau wusste, dass ich so was liebe – ich finde das nicht kitschig. »Ich denke an dich, während ich unterwegs bin«, behauptete er stets. Die Souvenirs liegen alle noch im Karton; ich werde sie erst wieder auspacken, wenn ich sie hierher, in ihr ursprüngliches Zuhause mitnehmen kann.
Ich lasse ein letztes Mal den Blick durch mein ehemaliges und zukünftiges Heim wandern, dann mache ich mich widerwillig auf den Weg und nehme den Zug zurück zur Schuhschachtel. Sobald ich dort bin, rufe ich bei Bellas Friseur an und mache einen Termin aus. Bella lebt immer noch in Bournemouth, in der Nähe ihres Elternhauses, das liegt nicht unüberwindbar weit von hier entfernt. Ich setze mich aufs Sofa und lerne für meine theoretische Fahrprüfung. Nate wird seine selbstbewusste, unabhängige zukünftige Ehefrau, der er dummerweise den Laufpass gegeben hat, nicht wiedererkennen.
Er hat nicht den Hauch einer Chance.
Ich breche in aller Frühe zu einem Kurzstreckenflug nach Frankfurt auf. Direkt nach dem Rückflug ziehe ich mich auf der Flughafentoilette um, gebe meine Uniform in der Reinigung ab und nehme den Bus nach Bournemouth.
»Was kann ich heute für Sie tun?«, fragt Bellas Lieblingsstylistin, die stets lächelnde Natasha.
Ich stocke. Eigentlich wollte ich blond werden wie Bella, aber wenn ich es recht bedenke, wirkt Amy so selbstsicher mit ihren braunen Haaren. Sie strahlt das richtige Maß an Souveränität aus und ist doch diszipliniert, wenn es darauf ankommt. Vielleicht könnte ich etwas lernen, wenn ich mich an ihr orientiere.
»Ich würde gern was Neues ausprobieren«, sage ich. »Mir schwebt ein bisschen etwas Ausgefalleneres vor …«
Bei einem Kaffee wandere ich mit dem Finger über die Farbtafel und tippe auf die Schattierung, die Amys Haarfarbe am nächsten kommt, bevor ich ganz entspannt in einer Zeitschrift blättere. Während Natasha mein Haar stylt und schneidet – »nur etwas kürzen«, beharre ich, denn ich will nicht genau
wie Amy aussehen –, plaudere ich mit ihr über ein paar schwierige Passagiere auf meinen Flügen, in der Hoffnung, dass sie im Gegenzug ein paar Anekdoten über zickige Kundinnen preisgibt. Und bestimmt gehört Bella dazu, denn es ist schlicht unvorstellbar, dass sie irgendwen mit Respekt behandelt. Allerdings will Natasha nicht anbeißen. Ich gebe ein großzügiges Trinkgeld, um sicherzustellen, dass sie beim nächsten Mal gesprächiger ist. Entspannt spaziere ich zurück zum Bahnhof, wobei ich jedes Mal überrascht bin, wenn mir der Küstenwind ins Haar fegt und eine braune Haarsträhne in mein Blickfeld gerät.
Als ich auf den Bahnsteig komme, springt mir auf der Abfahrtstafel ein vertrauter Name entgegen: das Dorf, in dem mein Internat lag. Es gibt keinen konkreten Anlass, trotzdem möchte ich instinktiv dorthin fahren, obwohl die Schule inzwischen zum Pflegeheim umgebaut wurde. Ehe ich es mir anders überlegen kann, kaufe ich ein Ticket und steige in den nächsten Zug. Allerdings habe ich dummerweise nicht genauer auf die Tafel geschaut, denn ich brauche über eine Stunde, um ins tiefste Dorset zu gelangen. Vom Bahnhof bis zur Schule ist es noch eine halbe Meile zu gehen. Von einem glänzenden Goldschild leuchtet der neue Name, begleitet von dem Versprechen: Wir sorgen für Sie.
Ich hoffe nur, dass sie für die alten Leute besser sorgen
als damals für die jungen Mädchen. Ich gehe vorbei und spaziere die schmalen Dorfbürgersteige entlang – auf einer vertrauten, uralten Route.
Der Zeitungsladen ist noch derselbe. Während der Nachmittagspause zwischen vier Uhr und vier Uhr fünfundzwanzig war es uns gestattet, den dreiminütigen Weg auf uns zu nehmen und unsere Süßigkeitenvorräte aufzustocken. Ich drücke die Tür auf. Ich kann mich nicht erinnern, wer damals hinter der Theke stand, weiß also nicht, ob der Mann an der altmodischen Kasse mich früher bedient hat, aber ich habe den Verdacht, dass auch er noch derselbe wie damals ist.
»Wie ich sehe, hat die Schule den Betreiber gewechselt?«, frage ich, während ich so tue, als würde ich in den Zeitschriften auf dem Regal stöbern.
Er nickt.
»Ich war als junges Mädchen hier.«
»Wirklich? Es gab damals so viele.«
Er verliert kein Wort über die Dorfjungs, die oft auf dem gegenüberliegenden Gehweg standen und uns auslachten. Wir wurden regelmäßig ermahnt, sie gar nicht zu beachten, allerdings kann ich ihnen keinen Vorwurf machen. Jeder Verstoß gegen die Uniformregeln wurde unverzüglich mit vierzehn Tagen Hausarrest bestraft, darum trugen wir keine normalen Sachen wie normale Schüler, sondern im Sommer lächerliche Strohhüte oder aber im Winter Umhänge, die uns zu Witzfiguren machten, so als würden wir einer religiösen Sekte oder einem anderen Zeitalter angehören.
Ich entscheide mich für zwei Brautmagazine. Während wir die Bezahlung regeln, fallen mir die braunen Papiertüten ins Auge. Ich füllte meine immer mit so vielen Leckereien wie möglich und bestach andere Schülerinnen, damit sie ihre Zeit mit mir verbrachten (ziemlich durchschaubar). Wir verabschieden uns, und ich gehe zurück in Richtung Pflegeheim. Ich habe keine Ahnung, was ich mir davon
erwarte, aber jetzt, wo ich schon mal hier bin, kann ein Besuch nicht schaden.
Als ich mich dem viktorianischen Gebäude nähere, fällt mir als Erstes auf, dass der Empfangsbereich am selben Fleck geblieben ist, dafür aber der Haupteingang verbreitert wurde. Anstelle der alten weißen Holztür, die immerzu knarrte, öffnen sich jetzt Doppeltüren nach außen. Eine eiserne Rollstuhlrampe lehnt an der Seite. Blätter kreiseln in der Luft, in winzigen Strudeln gefangen. Die Autos sind neu, der alte Rover der Rektorin ist ebenso Geschichte wie der Polo der Schauspiellehrerin. Von dort, wo ich jetzt stehe, befand sich früher linker Hand eine schwarze Tür. Inzwischen wurde die Stelle zugemauert. Während der täglichen Morgenpause öffnete sich die alte Tür, und die Vertrauensschüler verteilten Post und Pakete von Zuhause: Geburtstagskarten, Valentinswünsche oder Postkarten und Briefe von älteren Verwandten, hauptsächlich jenen, die noch mit der E-Mail fremdelten.
Ich atme tief durch und betrete meine ehemalige Schule. Die Räume haben sich komplett verändert, doch der Geruch nach öffentlicher Einrichtung ist geblieben. Es ist ein Schock, sofort erwarte ich, sie
zu sehen oder ihre unverkennbaren Schritte zu hören. Wie angewurzelt bleibe ich stehen und muss an etwas denken – daran, wie Bella mir eines Abends erklärte, dass ich beim Abendessen nicht neben ihr sitzen könnte, sie müsse den Platz für Stephanie freihalten. Über demütigende Minuten hinweg konnte ich im überfüllten Speisesaal keinen anderen Platz finden. Ich setze die Erinnerung auf meine persönliche Verfehlungsliste.
Dann konzentriere ich mich auf die jetzige Umgebung. Die Buntglasfenster zieren immer noch die hohen Wände, und auch der große offene Kamin ist an Ort und Stelle geblieben. Aber an der Wand darüber hat man eine glänzende Holzplakette festgenagelt. Meine Augen überfliegen das lateinische Original (fortes fortuna adiuvat
) und
richten sich dann auf die englische Übersetzung: Dem Mutigen hilft das Glück. Während ich noch darüber nachsinne, was dieses Motto in einem Altenheim bedeutet, werde ich aus meinen Gedanken gerissen.
»Kann ich Ihnen helfen?« Eine Frauenstimme.
Ich drehe mich um und lächle die Frau am Empfang an, die eine verspielte pfauenblaue Bluse trägt. Die Lesebrille hängt an einer Kette um ihren Hals. Sie sieht aus, als würde sie sich sorgen
.
»Verzeihen Sie«, sage ich. »Ich bin hier früher zur Schule gegangen. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, wieder hier zu sein.«
»Und wann war das?«
»Ich bin vor etwa zehn Jahren abgegangen. Sagen Sie … dürfte ich mich vielleicht mal umsehen?«
»Das geht leider nicht, fürchte ich. Nicht ohne vorherige Anmeldung. Und wenn Sie keine Verwandten hier haben, dann tut es mir leid, aber nein.«
»Und was ist mit den Außenanlagen? Läuft der Bach immer noch unten durch den Park?«
»Ja, tut er, aber ich muss nachfragen, ob Sie dorthin dürfen.« Sie greift nach dem Telefon auf ihrem Tisch. »Ich wüsste aber nicht, was dagegenspricht.«
Der Bach ist nicht sehr tief, in meiner Erinnerung war er tiefer. Zwar sind die Rasenufer inzwischen überwuchert, doch man gelangt immer noch auf dem alten Pfad dorthin. Ich frage mich, ob überhaupt noch jemand hierherkommt. Es ist schließlich kaum wahrscheinlich, dass sich die jetzigen Bewohner auf eine Zigarette oder für sonstige Heimlichkeiten hierherschleichen.
Hier habe ich mich früher versteckt. Ich zog die Schuhe aus und ließ die nackten Füße im Wasser baumeln.
Alle dachten, ich würde nach Will instinktiv das Wasser scheuen.
Stattdessen fand ich es tröstlich.
Eine kühle Brise weht und lässt die Trauerweiden über das Wasser streichen. Ich setze mich auf die unebenen Steine, drehe mich um und schaue zum Hauptgebäude zurück.
Zuletzt saß ich hier am Abend des Sommerballs für die Schulabgängerinnen.
Vor zehn Jahren.
Oberstufenschüler aus anderen Schulen – auch Jungen – waren eingeladen, sie wurden aus dem ganzen County per Bus angekarrt. Schnell verbreitete sich das Gerücht, dass ein paar Schulabgänger den Obstpunsch mit hereingeschmuggeltem Alkohol aufgepeppt hatten. Stoisch trank ich meine Bowle, auch wenn sie wie Hustenmedizin schmeckte, aber im Hinterkopf war mir immer klar, dass ich mich auf keinen Fall so idiotisch albern und schamlos aufführen wollte wie meine Mutter. Babs hatte mir etwas Geld geschickt, davon hatte ich mir extra für diesen Anlass ein rotes Kleid gekauft. Doch obwohl ich mich äußerlich verändert hatte, war ich innerlich immer noch dieselbe. Irgendwann hatte ich es satt, mich unscheinbar zu fühlen und neben Claire auf einem Stuhl am Rand des Geschehens auszuharren, und so schlich ich, als die Aufsicht führenden Lehrer gerade nicht hinsahen, aus dem Gebäude und spazierte über den Rasen hinunter zu meinem persönlichen Versteck. In meiner Kehle brannte es leicht, und mir war heiß. Ich zog die hochhackigen Schuhe aus und tauchte die Füße ins Wasser. Das Dunkelgrau der aufziehenden Nacht verdichtete sich, und allmählich sanken die Temperaturen. Ich war beinahe glücklich; bald würde ich diesen verhassten Ort verlassen. Eine sanfte Brise strich über meine Arme und Beine, ich fühlte mich unbeobachtet, sicher und geborgen. Ich zog die Füße wieder aus dem Wasser und schlang die Arme um die Knie.
Eigentlich hatte ich vorgehabt, in den Schlafsaal zu schleichen, sobald es noch dunkler wäre, und mich unter meiner Decke zu verkriechen. Aber jetzt warnten mich Schritte und knirschende Kiesel, dass ich nicht mehr allein war. Ich stand schnell auf und machte mich darauf gefasst, mich rechtfertigen zu müssen, aber zu meinem Erstaunen konnte ich in der Dunkelheit gerade noch erahnen, dass es ein Oberstufenschüler war, einer der bekannten »Coolen« aus der Gruppe, die sich um Bella, Stephanie und ihre Gang geschart hatten.
Allein.
Ich fragte mich kurz, ob er mir wohl gefolgt war, doch sein Blick war in die Ferne gerichtet. Als er mich entdeckte, schien er verblüfft, dass noch jemand hier war. Er hatte seine schwarze Krawatte ausgezogen, und die obersten zwei Hemdknöpfe standen offen. In seiner Rechten hielt er ein Glas. Ich setzte mich wieder, er setzte sich zu mir, stellte sein Glas ab und drehte es leicht in den Boden hinein, damit es halbwegs gerade stand.
»Hi.« Er zündete sich eine Zigarette an, und die Streichholzflamme erhellte sein Gesicht. Mit der freien Hand zerrte er die Schuhe und Socken von seinen Füßen, dann wackelte er mit den Zehen im Wasser. »Ist das kalt!«
Ich lachte.
Die rote Spitze seiner Zigarette glühte auf. Er bot sie mir an.
Ich wollte nicht ablehnen, darum nahm ich sie und inhalierte so vorsichtig wie möglich, dennoch wurde mir leicht schwindlig. Ich überlegte fieberhaft, womit ich ihn zum Lachen bringen oder zum Bleiben bewegen konnte, denn in mir war eine winzige Hoffnung entflammt. Vielleicht würde sich an diesem Abend etwas entwickeln, das alles verändern konnte.
»Warst du schon auf vielen Bällen und Partys?«, platzte ich heraus und verwünschte mich sofort für die unbedarfte, naiv klingende Frage.
»Drei in diesem Jahr.«
Mir fiel darauf nichts Weiteres ein, dennoch gab er mir das Gefühl, dass es keine vergeudete Zeit war, mit mir zu reden; dass ich nicht hässlich war. Oder zu dick. Mein Bauch war wie ausgehöhlt. Ich wünschte mir, ich hätte mir auch einen Drink mitgenommen.
»Darf ich?«, fragte ich und deutete auf sein halbvolles Glas.
»Klar doch.« Er hob es an und hielt es an meine Lippen.
Ich nahm erst einen winzigen, dann einen zweiten, tieferen Schluck. Es schmeckte besser als vorhin. Als er mir noch einen Schluck anbot, schüttelte ich den Kopf. »Was ist mit dir?«
»Ich hatte schon genug. Was tust du so allein hier draußen?«
Ich zögerte. »Ich brauchte eine Pause. Irgendwann hältst du es nicht mehr aus, tagein, tagaus mit denselben Leuten zusammen zu sein.«
Er lachte. »Erzähl mir was Neues. Wenigstens ist eure Schule so groß, dass es Verstecke wie dieses hier gibt. Und es gibt hier entschieden mehr Schüler als bei uns.«
Er drückte seine Zigarette im Gras aus, und ich war überrascht, wie viel Licht der kleine glühende Punkt gespendet hatte, denn schlagartig hüllte uns die Dunkelheit ein. Wir schwiegen beide. Ich hörte das leise Plätschern des Wassers und weiter weg das Wummern der Musik, aber ohne dass ich das Stück erkannt hätte. Plötzlich spürte ich, wie surreal der Augenblick war, fast als wäre ich vorübergehend aus meinem wahren Leben ausgetreten.
Ich weiß nicht mehr, wer sich zuerst vorbeugte, aber unsere Lippen berührten sich, und wir küssten uns. Er schmeckte nach Alkohol und Zigaretten.
»Du riechst echt gut«, sagte er, als wir uns voneinander lösten.
Es muss das Haarspray gewesen sein, denn ich konnte mir kein Parfüm leisten und hatte nicht den Mut gehabt, welches von Bella zu stehlen. Ich beugte mich wieder vor, nahm einen winzigen Schluck aus seinem Glas und stellte es dann weg. Wir küssten uns wieder und legten uns hin. Ich spürte den Boden, die Steine und das Moos unter meinem
Rücken und sorgte mich einen winzigen Moment um mein Kleid. Doch dann küsste er mich wieder, und ich vergaß alle Sorgen. Nichts war noch von Bedeutung. Die Zeit begann hier. Ich weiß noch, wie ich dachte: Das ist es
. Er war mein Ticket ins wahre Leben, von heute an würde sich alles ändern. Alles würde sich zum Besten wenden.
Ich gab meinen Gefühlen nach. Ich fühlte mich beschützt. Es fühlte sich richtig an.
Als es vorbei war, schien der ganze Augenblick auszubleichen wie ein sich auflösender Schatten in einem Traum.
»Hast du zufällig Zigaretten?«, fragte er. »Das war meine letzte.«
»Nein«, erwiderte ich und wünschte mir verzweifelt, ich hätte welche.
Bevor wir noch viel reden konnten, hörte ich ihn die Hose hochziehen und seinen Gürtel schließen. Er zog die Schuhe an. Mühsam sammelte ich mich wieder, meine Beine flatterten.
»Kommst du mit rauf?«, fragte er.
»Klar. Gleich.« Das klang cooler als Bitte bleib bei mir.
»Okay. Bis dann.«
Ich stand auf und versuchte, ihn zu umarmen. Er drückte mich kurz an sich und mir dann einen Kuss auf die Lippen. Ich wollte ihm sagen, dass ich ihn liebte, doch ich spürte, dass es dafür zu früh war. Also ließ ich ihn gehen. Ich hörte ihn den Abhang hochsteigen. Von mir weg. Ich tastete nach seinem Glas, doch es war umgefallen und ausgelaufen. Ich versuchte, das Ganze zu begreifen, fragte mich, ob ich nun trotz meiner fünfzehn Jahre erwachsen war, und legte dabei immer wieder die Finger auf meine Lippen, um seinem Abschiedskuss nachzuspüren. Ich konzentrierte mich auf das Wummern der Musik und konnte endlich ein Stück erkennen – Will Smith’ »Switch«.
Erst als es endgültig zu kalt und ungemütlich wurde, schlich ich hinauf in den Schlafsaal und säuberte mich. Von Blut, Samen, Dreck. Anschließend zwang ich mich, wieder auf die Party zu gehen. Er war
auch im Saal, und in meiner Naivität nahm ich an, dass er zu mir kommen würde, dass er verkünden würde, wir seien jetzt ein Paar, und dass ich dadurch in den Kreis der beliebten Schülerinnen aufsteigen würde – und sei es nur vorübergehend. Doch er schien mit Bella zu schäkern. Sie lachte über etwas, das er gesagt hatte. Kurz darauf legte er den Arm um Stephanies Schulter.
Den kurzen Rest des Abends schaute ich vom Rand des Saals aus zu, lauschte Claire widerwillig mit halbem Ohr und ging zwischendurch immer wieder auf die Toilette, jedes Mal in der Hoffnung, dass er mir folgen würde. Ich hasste mich selbst, weil ich nicht den Mumm hatte, loszugehen und mich zu ihm zu stellen, so als hätte ich jedes Recht dazu. Ich gab Bella die Schuld an meiner Unsicherheit. Wäre sie netter, wäre sie mir eine echte Freundin gewesen, dann hätte ich ganz selbstverständlich zu ihrem Kreis gehört. Aber ich hatte Angst vor ihr. Angst, dass sie mich vor ihm bloßstellen würde.
Zweimal glaubte ich, dass er hersah. Aber beide Male nur so flüchtig, dass ich seinen Blick nicht auffangen konnte. Immer wieder sah ich auf die Uhr; es war reine Folter, denn um Viertel vor zwölf würden die Busse abfahren. Um elf war ich der Verzweiflung nahe. Inzwischen hoffte ich nur noch auf ein beiläufiges Versprechen, mich anzurufen oder mir zu mailen. Bis Viertel nach elf hatte ich mir eingeredet, dass es ihm peinlich war, mich anzusprechen. Andererseits gab es keine verstohlenen Blicke, überhaupt keinen Hinweis darauf, dass irgendetwas passiert war. Kein einziges Mal sahen wir uns in die Augen. Allmählich hatte ich den Verdacht, dass ich mir alles nur eingebildet hatte – aber das war unmöglich. Zorn und Hass machten sich in mir breit, gepaart mit verbitterter Entschlossenheit.
Ich schwor mir, dass ich mich nie wieder so behandeln lassen würde. Nie wieder würde ich mich so eiskalt abservieren lassen.
Doch noch war ich nicht bereit, alle meine Hoffnungen fahren zu lassen. Während der letzten Schulwochen checkte ich bei jedem Besuch
in der Bibliothek meine Mails. In jeder Pause wartete ich in Sichtweite der schwarzen Tür auf eine romantische Karte oder ein kleines Geschenk – irgendwas, egal was. Jedes Mal, wenn abends das Telefon neben dem Gemeinschaftsraum läutete, wünschte ich mir, dass es für mich sein möge. Denn ganz abgesehen von meinen Sehnsüchten und Hoffnungen hätte sich dadurch alles geändert; hätte das eine weitere schreckliche Folge dieses Abends erträglicher gemacht. Bis heute zucke ich zusammen, wenn ich unvorbereitet gewisse Worte höre, die man mir nachrief, nachdem mein Fehltritt allgemein bekannt wurde.
Ich stehe auf, erfüllt von frischem Optimismus und Glauben an mich selbst. Es war gut, noch einmal herzukommen und mich an meinen vor zehn Jahren gefassten Schwur zu erinnern, mich nie wieder respektlos behandeln zu lassen.
Schon gar nicht von einem Mann.
Auf der Rückfahrt im Zug habe ich reichlich Zeit, alles zu durchdenken: Nate hatte kein Recht, mich in Reading abzuladen, als sei ich nichts wert.
Er hat mich eindeutig in dem Glauben gewiegt, dass wir beide eine Zukunft hätten, dass er mich genauso lieben würde wie ich ihn.
Ich hätte mich von ihm schwängern lassen sollen. Ich habe mir den Luxus eines Flitterwochen-Gefühls erlaubt, und das ist mich teuer zu stehen gekommen, aber ich gebe nicht auf.
Ich werde ihn zurückerobern und gewissenhaft alles dafür tun, dass unsere Leben durch unzertrennliche Bande verknüpft werden.
Ich habe in so vielen Selbsthilfebüchern gelesen, dass man die Vergangenheit nicht ungeschehen machen kann, dass nur die Zukunft Hoffnung auf Veränderung bietet. Darum werde ich zwischen meinen bevorstehenden Flügen nach Bahrain, Washington, Lusaka und Barbados meine Zeit ausschließlich mit positiven Schritten füllen und
etwa bei jeder Gelegenheit Fahrunterricht nehmen. Und eine neue Wohnung suchen. Ich fühle mich allgemein viel besser, wenn ich ein konkretes Ziel vor Augen habe.
Ich blättere in den Zeitschriften, die ich in dem Dorfladen gekauft habe. Eins der Models sieht Bella ähnlich. Ich werde zu Hause ihr Bild ausschneiden und es meiner Pinnwand hinzufügen; einem Kunstwerk, einem Labyrinth aus Hunderten von Bildern von Bella und Nate: Gesichter, Arme, Beine, Kleidung, Körper.
In guten wie in schlechten Zeiten. In Reichtum und in Armut. In Krankheit und Gesundheit. Bis dass der Tod uns scheidet.
Diese Worte wiederhole ich statt meines üblichen Mantras vor mich hin, während ich von meiner Zukunft mit Nate träume, um mich auf der Rückfahrt in mein provisorisches Leben abzulenken.