10
Nach einer Stunde breche ich meine Pause von drei Stunden und zwanzig Minuten ab. Ich ertrage es keine Sekunde länger, hier gefangen zu liegen. Ich werde losgehen und mir Katie ansehen, ich muss mir ein Bild von ihr machen.
Mir ist leicht schwindlig, als ich auf der Toilette mein Make-up auffrische. Zu Beginn des Fluges sah ich noch präsentabel aus. Jetzt ist mir sterbensübel. Natürlich war mir klar, dass Nate nicht im Zölibat leben würde. Ich bin nicht blöde. Nun aber plötzlich den Namen einer potenziellen Rivalin zu kennen und auch noch in zehntausend Meter Höhe mit ihr gefangen zu sein ist eine grauenvolle Situation.
Ich arbeite mich im Flugzeug bis zum Bug vor und dann hoch in die Business. Der Kabinenchef – ein älterer Mann – steht in der kleinen Galley im Oberdeck und bereitet gerade die Frühstückstabletts vor.
»Hi. Ich will nur kurz ins Cockpit schauen«, sage ich. »Soll ich fragen, ob sie vorn was brauchen?«
Er schaut auf seine Uhr. »Ja, mach das. Der Kontrollruf ist sowieso fällig.«
Ich weiß, wann die Flugcrew während des Fluges kontaktiert wird, darum habe ich genau diesen Zeitpunkt gewählt. Ich greife zum Hörer und tippe die Nummer des Cockpits ein. Mein Herz hämmert bei der Vorstellung, dass mir Katies Stimme antworten könnte, doch das tut sie nicht. Es ist eine Männerstimme. »Hi. Mike hier.«
»Hi, hier ist Juliette aus der Economy hinten. Ich bin oben und wollte kurz reinschauen, weil ich eine Frage hätte. Brauchen Sie irgendwas?«
»Moment.«
Gedämpfte Stimmen.
»Ja, zwei Kaffee bitte. Einer mit Milch, einer ohne, keinen Zucker. Und falls noch Crew-Sandwichs übrig sind, die wären auch schön, danke.«
»Okay.«
Ich mache den Kaffee. Welcher mag für Katie sein? Ich ziehe ein Tablett mit Sandwichs aus dem Crew-Wagen. Dann rufe ich noch mal durch und kündige mich an.
Ich gehe im Gang vor und warte vor der Tür zum Cockpit. Der Kapitän öffnet, lässt mich eintreten und schließt die Tür hinter mir. Die weißen, grünen und blauen Instrumentenlichter flackern hell im Halbdunkel des Cockpits. Im Sitz des Kopiloten sitzt ein Mann. Keine Katie. Die Tür zur Pilotenkoje ist geschlossen; offenbar schläft sie gerade.
»Hat jemand Pause?«, frage ich.
»Ja.«
Verdammt.
Der Kapitän nimmt mir das Tablett ab, ich greife die Kaffeebecher und stelle sie auf die Flächen hinter jedem Sitz.
»Ich wollte fragen, ob ich während der Landung hier sitzen dürfte«, bitte ich. »Ich bin noch neu und …«
»Tut mir leid, nein, das ist ein Trainingsflug. James«, er deutet auf den Kopiloten, »bereitet sich auf die Prüfung vor – zum Kapitän –, darum geht es leider nicht.« James dreht sich um und winkt bedauernd.
»Ach so.«
»Hoffentlich ergibt sich ein andermal eine Gelegenheit – normalerweise hätte ich nichts dagegen.«
»Danke.«
»Danke für den Kaffee.« Er wirft einen Blick durch den Spion in der Tür, während James die Überwachungskameras checkt. »Alles klar.«
Er öffnet mir die Tür, und ich trete wieder hinaus, desillusioniert, aber nicht geschlagen.
Auf der Fahrt zum Hotel habe ich mich genau hinter Katie platziert und lausche einem Gespräch zwischen ihr und dem anderen Kopiloten.
Sie hat die Haare geflochten und hochgesteckt – mein persönlicher Anti-Stil.
Will liebte es, wenn ich mir Zöpfe flocht. Na ja, er liebte es, daran zu ziehen.
Sie sieht nichtssagend aus.
Ihre Unterhaltung ist genauso nichtssagend – sie sprechen hauptsächlich übers Radfahren. Ich kann mir Nate nicht auf einem Fahrrad vorstellen. Ein Radhelm würde ihm garantiert nicht stehen.
Definitiv nicht.
Wie die meisten Kollegen sieht auch Katie total anders aus, als wir uns am nächsten Morgen in Zivil in der Rezeption versammeln. Wir, das sind Nancy, Katie, noch ein Typ namens Ajay und ich.
Katie hat lange rote Locken und haufenweise Sommersprossen. Sie sieht freundlich, aber auch patent aus, wie jemand, den man nach dem Weg fragen würde. Mit ihren muskulösen Oberarmen und den praktischen beigen Hosen hat sie etwas Burschikoses, so als würde sie sich etwas zu sehr bemühen, unter den meist männlichen Piloten nicht aufzufallen. Doch wenn sie lächelt, erstrahlt ihr ganzes Gesicht hübsch.
Gestern noch war ich nicht sicher, was Nate an ihr finden könnte. Vielleicht ist es einfach die Tatsache, dass sie so gesund und bodenständig aussieht, so der Typ »Mädchen von nebenan«.
Im Bus zum Palast sehe ich sie mir genauer an. Sie schaut aus dem Fenster, ihr Mund ist leicht geöffnet. Wir stecken Ewigkeiten im Verkehr fest, aber ich komme nicht dazu, ein vernünftiges Gespräch
mit Katie zu beginnen, weil vorn im Bus eine enthusiastische Fremdenführerin ununterbrochen in ihr Mikrofon quasselt.
Ich blende mich aus.
Dass Nate mich liebt, weiß ich, weil er es mir gesagt hat.
Als ich ihm gestand, dass ich ihn liebe, erwiderte er: »Ich dich auch.« Sonst hätte er doch einfach geschwiegen.
Zugegeben, er reagierte – zuerst – zurückhaltend, als ich schon so bald zu ihm ziehen wollte. Aber ich meinte, wenn unsere Romanze so stürmisch verlaufen würde, dann vielleicht nur, weil es uns vorbestimmt war.
Die Wohnung, in der ich zur Miete wohnte, wurde gerade verkauft. Das war die Wahrheit,
auch wenn mein Vermieter meinte, ich hätte trotz Eigenbedarf des Neueigentümers möglicherweise noch drei Monate bleiben können. Es wäre schlicht Quatsch gewesen, mir was anderes zu suchen. Es war eine winzige Notlüge zu unserem gemeinsamen Besten.
Ich hatte schon damals kurz mit dem Gedanken gespielt, Flugbegleiterin zu werden, aber ich wollte ihm die perfekte Freundin sein. Ich wollte für Nate da sein
, wenn er von seinen Flügen heimkehrte.
Mit ihm ganz allein.
Die Worte, die sich in meinem Kopf festsetzen, als ich den Palast zum ersten Mal sehe, sind Grün
und Gold.
Ich blicke staunend auf die überwältigenden Gebäude, die mehrstöckigen Dächer und manikürten Gärten.
Es ist heiß. Laut der Fremdenführerin ist es nicht mehr lang bis zur Regenzeit, dennoch trage ich langärmlige Sachen, weil der Dresscode der heiligen Stätte es so gebietet.
»Unglaublich romantisch, findet ihr nicht?«, frage ich die anderen.
Sie nicken, antworten aber nicht, denn sie sind bedauerlicherweise allesamt Menschen, die sich tatsächlich für Gebäude interessieren. Sie lauschen unserer Fremdenführerin, die uns über das Gelände scheucht. Schweiß schlängelt sich an meinem Rückgrat abwärts. So wie ich es sehe, kann man sich auch schnell
an Dingen erfreuen. Man muss nicht im Schneckentempo herumschleichen, nur um Eindrücke im Gedächtnis zu verankern. Dafür gibt es Kameras.
Das Laufen und Lauschen will kein Ende nehmen. Beim Tempel des Smaragd-Buddhas bestaunen wir unter vielen »Oohs« und »Aahs« einen kleinen Buddha aus Jade, dessen goldenes Gewand offenbar zu Beginn jeder neuen Jahreszeit vom König persönlich gewechselt wird.
Schließlich kehren wir zum Mittagessen in ein Lokal in der Nähe ein, das Gott sei Dank klimatisiert ist. Einen ganzen Nachmittag mit Kultur stehe ich keinesfalls mehr durch. Ich will nur, dass Katie endlich über Nate redet, dann werde ich mich entschuldigen und in mein erlösendes Hotelzimmer zurückkehren. Erschöpft lasse ich mich auf den Stuhl neben ihr fallen und kopiere ihre Bestellung: eine Cola Light und ein Pad Thai.
»Also, wie fandet ihr den Palast?«, frage ich.
»Absolut … unglaublich«, sagt Nancy.
»Fantastisch«, sagt Katie und nimmt einen Schluck Cola.
Ajay, der in einem Reiseführer blättert, nickt nur.
»Für mich hat der ganze Ort etwas unglaublich Romantisches, wie ich vorhin schon gesagt habe«, erkläre ich.
Katie beißt nicht an. Ich werde weniger subtil vorgehen müssen.
Unser Essen kommt, Dampf steigt davon auf. Ich wünschte, ich hätte etwas Kaltes bestellt, ich ertrage diese Hitze nicht. Ich greife nach meinen Stäbchen und picke eine kleine Krabbe heraus. Ich knabbere daran. Der Zitronengrasduft schlägt mir auf den Magen. Genau dieser Geruch war es, der unsere Küche an jenem schrecklichen Abend
durchdrang, an dem Nate mit mir Schluss machte.
»Also …«, wende ich mich an Katie. »Nancy hat erzählt, ihr wohnt im selben Dorf. Wo ist das?«
»Knapp außerhalb von Peterborough«, antwortet sie und nennt einen Ort, von dem ich noch nie gehört habe.
»Das ist aber eine ganz schöne Fahrt, oder?« Ich lege den Kopf schief und heuchele Interesse.
»Schon. Aber das stört mich nicht. Ich höre unterwegs Musik oder Hörbücher. Das hilft mir, nach einer langen Nacht runterzukommen.«
Ich habe nichts entdeckt, was darauf hingedeutet hätte, dass sie bei Nate übernachtet. Und soweit ich weiß, war er noch nie bei ihr, denn Nate fährt an seinen freien Tagen nicht gern aufs Land. Vielleicht hat Nancy da etwas falsch interpretiert oder einfach übertrieben. Bisher hat Katie noch kein einziges Mal »Nate hier« oder »Nate da« gesagt. Vielleicht war es nur eine kurzlebige Affäre, die schon wieder erloschen ist.
Ich picke in meinen Nudeln herum.
Katie gähnt und nimmt schnell die Hand vor den Mund.
»Das Programm am Nachmittag klingt richtig aufregend«, mischt sich Ajay ein. »Im Reiseführer steht, uns erwartet ein absoluter Höhepunkt …«
»Na ja, so was müssen sie auch schreiben, oder?«, entfährt es mir.
Alle drei schauen mich an.
Mein Mund brennt, als das Chili zu wirken beginnt, es beißt in meine Kehle und bringt mein Gesicht zum Glühen. »Entschuldigt. Ich glaube, ich habe genug getempelt und nehme mir ein Taxi zurück zum Hotel. Trefft ihr euch heute Abend wieder zum Essen?«
»Bleib noch«, bittet Nancy. »Du wirst es bereuen, wenn du jetzt fährst.«
»Ehrlich gesagt bin ich auf einer Linie mit Juliette«, sagt Katie. »Ich brauche heute Nachmittag ein Nickerchen, wenn ich heute Abend
durchhalten will.«
Allmählich wird sie mir sympathisch.
Wir lassen Nancy und Ajay zurück, und die Tourleiterin organisiert uns ein Taxi. Sie wirkt so niedergeschlagen, weil wir die Tour abbrechen, dass wir ihr ein großzügiges Trinkgeld geben.
Die Fahrt zurück ist wesentlich kürzer, und unser sehr gesprächiger Fahrer will über englischen Fußball plaudern. Katie scheint sich einigermaßen auszukennen, also überlasse ich ihr das Reden. Vielleicht gibt sie heute Abend nach ein paar Drinks mehr preis, auch wenn ich den Verdacht habe, dass Nate sie schnell satt bekommen hat.
Zu Hause ist es gerade Mittag, in Bangkok dagegen schon Zeit für einen ersten Sundowner, den ich mit einigen anderen aus der Crew – darunter Katie und Kevin aus der First, Nancy ist zu müde – auf einer Dachterrasse nehme. Lichter illuminieren die nahen Wolkenkratzer.
Ich trinke ein thailändisches Bier aus einem hohen Glas. Es kühlt mir die Kehle, bevor Hitze und Luftfeuchtigkeit mir endgültig die Luft abdrehen.
»Sollen wir in einen Club gehen?«, schlägt jemand vor.
Ich warte ab, was Katie dazu sagt.
»Klingt doch gut«, sagt sie.
»Super«, pflichte ich ihr bei.
Katie dreht sich zu mir. »Willst du dich nicht erst umziehen?«
Ich sehe auf meine schwarzen Jeans. »Wieso?«
»Weil es auch nachts brütend heiß ist. Hast du vergessen, wie heiß es vorhin war, als wir durch den Palast gelaufen sind?«
Katie dreht eine Pirouette, die rot-weißen Punkte auf ihrem Kleid wirbeln herum, die Armreifen klirren. Auf ihrem rechten Knöchel sitzt wie ein Schmutzfleck ein Schmetterlingstattoo.
Erleichterung durchschießt mich; Nate findet Tattoos billig.
Wahrscheinlich ist sie für ihn nur eine weitere Eroberung, ein Spielzeug zur Ablenkung.
Ich schenke mir das Umziehen. Wir halten ein Tuk Tuk an, das wild hin und her schwankt, während unser Fahrer sich durch den dichten Verkehr kämpft. Ich klammere mich an eine Metallstange und inhaliere Benzindämpfe. Eine rosa Blumengirlande baumelt vom Rückspiegel und schaukelt im Rhythmus der ruppigen Manöver. Wir gelangen zu einem umgebauten Lagerhaus, in dem man, meinem sicheren Eindruck nach, sich weder um Hygiene- noch um Sicherheitsvorschriften schert; Elektrokabel kreuzen sich waghalsig über uns, überall stehen Holzbretter hervor. Ein Elvis-Imitator massakriert »Always On My Mind«. Das blecherne Mikro pfeift in regelmäßigen Intervallen.
»Ich wünschte, ich wäre zu Hause bei meinem Freund«, sage ich zu Katie, während wir uns einen Platz an der Bar freikämpfen.
»Ich auch«, bekennt sie. »Obwohl, mein Freund ist gerade unterwegs. Er ist auch Pilot.«
Meine Beine wackeln.
Der Barmann wendet sich uns zu. Wir bestellen Bier.
Mir fällt wieder ein, dass ich atmen muss.
Wir stoßen zu den anderen, die sich um einen eisernen Stehtisch drängen. Wir plaudern über die Arbeit, bis ich es irgendwann nicht mehr aushalte.
»Und gibt es auch ein Bild von deinem Kerl?«, frage ich so lässig wie möglich.
»Jede Menge. Normalerweise langweile ich mit Bildern von Nate meine Mitmenschen zu Tode.«
Katie tut mir fast leid – fast –, aber es ist nicht meine Schuld, dass Nate so eitel ist. Und schwach, wenn sich ihm eine Frau an den Hals wirft.
»Hier, schau mal …« Katie strahlt. »Da waren wir in Rio und …«
Nates Gesicht leuchtet von ihrem Handy auf.
Erstarrt lausche ich jedem stechenden Wort in ihrem minutenlangen selbstgefälligen Monolog, bevor ich mich schließlich entschuldige. Draußen sage ich minutenlang meine Mantras auf. Ich bekomme kaum noch Luft. Musik plärrt aus verschiedenen Richtungen auf mich ein. Gruppen von Einheimischen mischen sich mit Taxis und Motorrädern. Gedrängt stehende Verkaufsstände ächzen unter der Last gefälschter Designerwaren, T-Shirts, Schuhen, Handtaschen. Neonschilder werben für Tattoostudios, Drinks, Massagen, Schlaftabletten. Von einem nahen Essenskarren steigt der Gestank von gebratenen Zwiebeln auf.
Ich ziehe mein Smartphone aus der hinteren Hosentasche und logge mich ein. Nates Crew unternimmt an ihren freien Tagen eine Safari durch den Kruger-Nationalpark. Er hat Bilder von langem, sprödem Gras unter stacheligen, karg belaubten Bäumen gepostet und darunter gefragt:
Wer findet den Löwen?
Da tummelt er sich unter wilden Tieren, während ich am anderen Ende der Welt einen weiteren Betrug verarbeiten muss.
Tiefe Atemzüge. Scheiß-Einatmen. Scheiß-Ausatmen.
Eine Schwade Gullygestank holt mich in das wirkliche Bangkok zurück.
Schlaftabletten? Wieder bleibt mein Blick an der Reklame hängen. Vielleicht sollte ich welche besorgen. Und dann meine restliche Zeit hier in seliger Vergessenheit verbringen. Sie können ein Trost sein. Ein kurzfristiges Pflaster.
»Wie viel kostet ein Fläschchen mit zwanzig?«, frage ich die Apothekerin hinter der Theke.
»Warum Sie nehmen nicht vierzig?«, antwortet sie in gebrochenem Englisch. »Billiger.«
Warum eigentlich nicht. Wer A sagt … Ich lasse sie in meine Tasche fallen und schlendere dann kurz zwischen den Ständen durch. Ich entdecke einen kleinen hölzernen Buddha. Ich kaufe ihn ebenfalls, vielleicht bringt er mir Glück.
Widerstrebend kehre ich in die Bar zurück. Katies Hocker ist leer. Ich folge den Schildern zu den Toiletten. Sie steht vor dem Spiegel und bindet ihr Haar zu einem Pferdeschwanz. Schon von der Tür aus rieche ich ihr widerlich süßliches Parfüm.
Lass dir das nicht länger gefallen,
schreit es in meinem Kopf.
Ich gehe weiter und umgehe dabei die nassen Flecken auf den dreckigen Fliesen, bis ich direkt neben ihr stehe. Ich lächle in den Spiegel. Sie lächelt zurück, allerdings leicht verdattert.
»Ich dachte, ich hätte Nate auf dem Bild, das du mir gezeigt hast, wiedererkannt. Sein Gesicht kommt mir bekannt vor«, erkläre ich ihr. »Das hat mir keine Ruhe gelassen, aber jetzt bin ich sicher, dass er es ist.«
»Ach. Bist du mal mit ihm geflogen?«
»Nein.«
»Woher kennst du ihn dann?«
»Ich kenne ihn nicht persönlich. Aber irgendwas ist zwischen ihm und einer Freundin von mir vorgefallen. Ich weiß nicht genau was, aber was es auch war, es hat sie übel mitgenommen. Sie sagte, sie könnte immer noch nicht darüber sprechen.«
»Dann kann es nicht Nate gewesen sein. Er ist ein absoluter Gentleman.«
»Vielleicht.«
Ich senke den Blick und wühle zur Ablenkung in meiner Tasche, aber mir entgeht nicht, wie sich ihre Miene kurz nachdenklich verdüstert. Ich hole den Mascara heraus. Als ich den Kopf wieder hebe, ist Katie schon auf dem Weg zur Tür.
»Komme gleich nach«, rufe ich ihr nach.
Falls sie mir antwortet, höre ich es nicht. Die Tür schlägt hinter ihr zu. Nachdenklich trage ich meinen Mascara auf; ihre herablassende Art ärgert mich. Die Geschichte ist nicht völlig erfunden, Nate hat wirklich eine dunkle Seite. Ich wende mich zum Gehen und lasse das Make-up in die Tasche fallen, wo es mit einem hellen Ping gegen das Fläschchen mit den Schlaftabletten schlägt.
In diesem Moment kommt mir eine Idee.
In einer Toilettenkabine hole ich die blauen Kapseln aus meiner Tasche. Laut Etikett soll man eine Kapsel alle zwölf Stunden nehmen. Hmm. Was wäre wohl eine gute Dosis? Zwei? Drei? Vier? Ich schraube den Deckel ab, schüttele drei Kapseln heraus und schiebe sie in meine Jeanstasche. Nachdem ich den Deckel wieder zugeschraubt habe, wühle ich in meiner Tasche nach dem kleinen Umschlag mit der Keycard für mein Hotelzimmer. Ich stopfe die Karte in mein Portemonnaie. Dann ziehe ich vorsichtig die Kapseln auseinander und kippe den Inhalt in den Umschlag. Ich spüle die Hüllen weg und kehre aus der relativ stillen Toilette in den Lärm und den Tumult draußen zurück.