11
Der Elvis-Imitator hat sein Outfit zu Tom Jones gewechselt. Dieselbe Lederhose, ein anderes Oberteil. Hüftkreisend stimmt er »Sex Bomb« an und schwingt dazu die Lederjacke wie ein Lasso.
Ich bestelle mehrere Biere. Eins davon halte ich ein Stück tiefer und kippe den Inhalt des Umschlags in die Flasche.
»Kann ich bitte auch Gläser haben?«, frage ich den Barkeeper.
Er wackelt fragend mit dem Kopf.
»Gläser , bitte. Und …« Mein Blick geht über die Theke. »Auch was von denen da.« Ich deute auf ein Päckchen mit Erdnüssen im Chili-Mantel. »Fünf Stück bitte.«
Er reicht mir vier warme Wassergläser frisch aus der Spülmaschine und dazu ein kleines schwarzes Tablett.
Ich arbeite mich zu Katie und den anderen vor und schenke dann das Bier in ein Glas direkt vor ihr. Anders geht es nicht; ich kann die Flasche schlecht durchschütteln.
»Nimm mir nicht übel, was ich vorhin gesagt habe.« Ich reiche ihr das Bier. »Ein Friedensangebot. Manchmal reiße ich einfach die Klappe auf, ohne vorher groß nachzudenken. Bestimmt habe ich mich geirrt.«
Sie zögert, nimmt dann das Glas und hebt es zu einem Prosit.
Ich reiße die Nüsse auf und streiche die Alupäckchen glatt. »Bedient euch«, sage ich zu allen, aber natürlich meine ich Katie damit.
Das mögliche Manko meines Plans besteht darin, dass man das Pulver der Pillen im Bier schmecken könnte. Die Nüsse werden hoffentlich alle merkwürdigen Aromen überdecken. Tom Jones haut den Refrain von »Delilah« raus. Mehrere aus unserer Gruppe, auch Katie, stimmen lachend ein.
Ich lächle und tue so, als würde ich mich amüsieren. Ich hoffe, dass sie von ihrem Hocker kippt. So munter, wie sie aussieht, fürchte ich, dass ich noch mal nachhelfen muss, darum ziehe ich los und bestelle ein paar Shots mit Thai-Rum.
»Los geht’s«, rufe ich. »Wer zuletzt fertig ist, holt die nächste Runde.«
Die meisten, darunter auch Katie – puh – gehen auf die Wette ein.
»Du lässt es heute aber krachen«, sagt jemand. »Hast du im Lotto gewonnen?«
Ich lache höflich, so als hätte er wirklich etwas Lustiges gesagt.
»Eins, zwei, drei …«, ruft die Gruppe im Chor.
Ich muss würgen. »Oh Gott, schmeckt das eklig!«, rufe ich.
»Was ist das?«, fragt Kevin, als mein Blick wieder aufklart.
Mir laufen Tränen über die Wangen. »Rum. Ich steige aus.«
»Amateurin«, spottet Kevin lächelnd.
Er hat nette, braune Augen, die gut zu seiner dunklen Haut und seinem frechen Lächeln passen.
Ich erwidere sein Lächeln und sehe dann auf Katie. Endlich wirkt sie leicht weggetreten. »Ich glaube, ich fahre bald ins Hotel zurück«, sage ich zu Kevin. »Sie sieht so aus, als hätte sie auch genug.«
»Ich fahre mit. Ich wollte es heute nicht so spät werden lassen.«
Ich stelle mich zu Katie. »Kevin und ich fahren jetzt ins Hotel. Willst du vielleicht mitkommen? Du siehst müde aus.«
»Müde?« Sie sieht mich verwirrt an. »Nein, nein, mir geht’s super. Fahrt ihr nur. Ich komme mit den anderen nach.«
»Ich finde, du solltest mitfahren.« Ich wende mich an Kevin. »Findest du nicht auch?«
Er zuckt mit den Achseln. »Das kann die Lady halten, wie sie will«, sagt er.
Ich ziehe ihn auf die Seite. »Sie sieht ziemlich hinüber aus.«
»Finde ich nicht.«
Katie rutscht von ihrem Hocker und muss sich sofort an den Tisch lehnen, wobei ihr die Tasche aus der Hand fällt. Sie bemüht sich, ihre Sachen wieder einzusammeln: eine Haarbürste, Pfefferminz und einen Lippenstift.
Kevin eilt zu Katie und hilft ihr wieder auf.
Der Blick, den ich ihm zuwerfe, sagt deutlich: »Hab ich es nicht gesagt?«
Draußen halten wir ein Taxi an. Ein richtiges. In einem Tuk-Tuk könnte sie wieder wachgerüttelt werden. Während der Fahrt lehnt sie den Kopf ans Fenster, ihre Augen flattern auf und schließen sich wieder.
Als wir vor dem Hotel anhalten, zieht ein Portier die hintere Tür auf.
»Hilf mir, sie auf ihr Zimmer zu bringen«, sage ich zu Kevin. »Sie sieht aus, als könnte sie eine Runde Schlaf vertragen.«
»Es geht mir gut«, murmelt sie, aber sie beschwert sich nicht, als er den Arm um sie legt, um sie zu stützen.
»Wie ist deine Zimmernummer?«, fragt er.
»Ähm … siebzehn … sechs … zwei.« Sie gähnt und zieht die Stirn in Falten, als müsste sie sich extrem konzentrieren. »Eins. Sieben. Sechs. Zwei.«
Bis wir ihr Stockwerk erreicht haben, schlafwandelt sie schon mehr oder weniger. Ich nehme ihr die Handtasche ab und suche nach ihrer Keycard, schiebe sie in die Tür, und Kevin bringt Katie zum Bett. Ich ziehe ihr die Schuhe aus. Dann stehen Kevin und ich wie besorgte Eltern vor ihrem Bett und betrachten sie nachdenklich.
»Glaubst du, sie ist okay?«, frage ich.
»Schon. Wahrscheinlich muss sie sich nur ausschlafen.«
»Wir sollten sie trotzdem in die stabile Seitenlage bringen, für den Fall der Fälle.«
»Glaubst du wirklich?«
»Ja. Du musst mir dabei helfen.«
Kevin nimmt ihren Rumpf. Ich halte ihre Beine fest, dann drehen wir sie auf die Seite und schieben die Arme in die korrekte Position. Sie schnarcht leise. Äußerst damenhaft.
»Gehen wir«, sagt er.
Ich dimme das Licht und lasse beim Hinausgehen ihre Keycard in meine Tasche gleiten. Die Tür klickt hinter uns zu.
Wir warten auf den Lift.
»Lust auf einen Absacker?«, fragt Kevin.
»Danke. Tut mir leid, aber ich bin wirklich k.o.«
»Schon okay.«
Der Lift kommt. An einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit vielleicht. Das ist noch eins der Probleme, die ich Nate zu verdanken habe. Kevin ist nett, und mal ehrlich, warum sollte nur Nate sich amüsieren dürfen? Aber leider bin ich nicht nur monogam, ich bin auch viel zu beschäftigt. Ich habe noch zu tun.
Kevins Zimmer liegt auf dem Stockwerk über meinem, darum verlässt er den Lift zuerst.
»Gute Nacht«, wünschen wir uns gleichzeitig.
Die Lifttüren gleiten zu. Auf meinem Stockwerk öffnen sie sich wieder, aber ich warte in der Kabine, bis sie sich wieder geschlossen haben. Dann drücke ich auf die Siebzehn. Als die Türen aufgehen, kontrolliere ich als Erstes, ob der Korridor leer ist. Eine Überwachungskamera entdecke ich nicht, also ziehe ich Katies Keycard aus meiner Tasche. Die LED am Schloss leuchtet grün, ein Klacken, und ich bin drin.
Sie schnarcht nicht mehr, aber ihr Atem geht schwer. Das Haar fällt ihr ins Gesicht. Ich schiebe es sanft zur Seite. Dann setze ich mich in den Sessel und schaue ihr zu. Ob Nate ihr manchmal zuschaut, wenn sie schläft? Ich habe ihm früher ständig zugeschaut. Er sah immer so verletzlich, so friedlich aus, alle Spuren von Sorge oder Angst waren wie weggebügelt. Ich hätte mich damals zu gern in seinen Kopf gegraben. Ich wollte wissen, was er denkt, immerzu.
Er sagte, seine Gedanken seien wie Spinnweben, nicht zu fassen. Tja, das war gelogen. Er konnte seine Gedanken immerhin so weit bündeln, dass er planen konnte, wie er mich loswird.
Als wäre ich ein Nichts.
Auch wenn es nur alte Wunden aufreißen wird, wenn ich durch seine Nachrichten an sie scrolle, stehe ich auf und nehme ihr Handy, aber es ist PIN -gesichert. Ich durchsuche ihre Handtasche, doch ihr Pass ist nicht darin, und schiebe die Schranktür auf, muss aber feststellen, dass der Safe abgeschlossen ist. Ich durchwühle noch mal ihre Tasche und finde einen Führerschein in ihrem Geldbeutel. Aber auch nachdem ich mehrere Variationen aus ihrem Geburtsdatum ins Handy – und in den Safe – eingetippt habe, bin ich keinen Schritt weiter.
Dann nehme ich mir das Bad vor, schaue mir an, was sie benutzt. Shampoo gegen sprödes Haar. Ich wette, das weiß Nate nicht, oder? Dass ihr Haar von Natur aus spröde ist. Ich gehe zu ihrem Koffer, er enthält hauptsächlich Anziehsachen, und dann krame ich in ihrer Flugtasche. Handbücher. Ein Thriller. Ein Reisebuch. Ich erkenne es wieder, weil ich es für Nate gekauft hatte. Fünfhundert Orte, die du vor deinem Tod gesehen haben musst.
Er hat ihr ein Buch von mir gegeben oder geliehen? Wie kann er es wagen?
Ich blättere darin. Der Mann hat keine Fantasie, nicht einen Funken. Sein Standardgeschenk ist Schokolade. Ich wette, er hat ihren Geburtstag vergessen – oder irgendwas anderes – und daraufhin beschlossen, ein Geschenk von mir weiterzugeben. Oder aber … sie hat es einfach aus seinem Regal gezogen. Ich starre sie an, wie sie so ruhig und friedlich, so völlig sorgenfrei daliegt, und dann gehe ich mit dem Buch an den Schreibtisch und greife zu einem Stift.
Auf die letzte Seite schreibe ich eine verspätete Widmung:
Meinem geliebten Nate. Ich werde dich ewig lieben. Kann es kaum erwarten, mit dir die Welt zu erobern. E XXX
Bestenfalls hat Nate das Buch nur kurz durchgeblättert. Bestimmt ist ihm nicht aufgefallen, ob ich etwas hineingeschrieben hatte oder nicht.
Geschieht ihm recht.
Ich lege es zurück. Hoffentlich wird sie höllisch eifersüchtig, wenn sie irgendwann über meine Worte stolpert und so mit einem Beweis aus Nates romantischer Vergangenheit konfrontiert wird. Schließlich wühle ich noch mal in ihrer Handtasche und speichere ihre Adresse zusammen mit anderen nützlichen Informationen in meinem Handy. Mehr kann ich im Moment nicht tun, darum lasse ich die Keycard auf ihrem Nachttisch liegen und verschwinde.
In meinem eigenen Zimmer browse ich im Internet nach guten Ideen. Ich brauche einen besseren Zugang zu Nates Welt. Ich entdecke eine App, mit der man sämtliche Nachrichten und Aktivitäten tracken kann. Der Traum aller verstoßenen Geliebten. Ich wette, der Erfinder war in einer ähnlichen Situation wie ich, denn Not macht bekanntlich erfinderisch. Vermarktet wird sie als Diebstahlsicherung oder als praktisches Tool , um Teenager oder senile Eltern im Auge zu behalten. Es gibt eine Warnung, dass es streng verboten ist, die App auf einem fremden Handy zu installieren, aber die werde ich ignorieren.
Jetzt brauche ich nur noch Zugang zu seinem Handy. So wie ich aus den Bewertungskommentaren herauslesen kann, haben die meisten Leute, die diese App ohne Erlaubnis des Handybesitzers installiert haben, es heimlich getan, während der Partner schlief oder unter der Dusche war. Dazu müsste ich mich mitten in der Nacht in Nates Wohnung schleichen, wenn er zu Hause ist, oder mich in seiner Wohnung verstecken, bis er unter die Dusche geht.
Alles andere als ideale Optionen.
Frisch wie der junge Morgen taucht Katie zum Crew-Treffen auf. In meiner Gegenwart erwähnt sie den gestrigen Abend mit keinem Wort, genauso wenig wie ich – oder Kevin. Wahrscheinlich nimmt sie an, dass sie einfach nichts verträgt, und das ist ihr peinlich.
Die Pillen werden mir nützlicher sein, als ich ursprünglich dachte.
Den ganzen Heimflug über grübele ich über meine Möglichkeiten nach, justiere im Kopf meine nächsten Schritte. Als wir in Heathrow aufsetzen, dämmert mir der perfekte Plan.
Beim Joggen nimmt Nate sein Handy nie mit. Für ihn sind das die einzigen Momente, in denen er ganz von der Welt abgeschnitten sein kann. Ich muss also nur zu ihm fahren und abwarten, bis er laufen geht; dann die App installieren, bevor er zurückkommt.
Ganz einfach.
An meinem ersten arbeitsfreien Tag habe ich zwei Intensiv-Fahrstunden, um mich auf die bevorstehende praktische Prüfung vorzubereiten. Ich konzentriere mich nach besten Kräften darauf, alles richtig zu machen, trotzdem ist es frustrierend, dass mir die Kontrolle über die anderen Fahrer abgeht, die uns rücksichtslos überholen oder sich an der Ampel vordrängeln.
Am nächsten Morgen nehme ich in aller Frühe einen Zug, damit ich gleich zur Stelle bin, wenn Nate zum Laufen aufbricht. Allerdings fühle ich mich jetzt, wo der Sommer näher rückt, viel weniger geschützt. Das Licht ist nicht mein Freund. Ich habe leise Bedenken, dass er mich sehen könnte, wenn er zufällig aus dem Fenster blickt. Ich brauche eine bessere Tarnung.
Ich setze mich auf eine Bank. Tauben picken auf den kahlen Flecken rund um meine Füße herum. Ich scheuche sie weg.
Ich warte und warte, doch er taucht nicht auf. Jede Minute dröhnt ein Flugzeug über uns hinweg.
Vor Frust könnte ich gegen den Baum neben meiner Bank treten. Ich weiß, dass er zu Hause ist. Ich wette, Katie ist bei ihm. Wenn ich bei ihm war, ging er trotzdem immer joggen.
Ich spaziere vor zur Hauptstraße. Und dann schlendere ich am Fluss entlang, falls ich ihn dort irgendwo sehe, aber auch dabei habe ich kein Glück.
Ist er vielleicht nach Peterborough gefahren? Unwahrscheinlich, aber wie kann ich es überprüfen?
Das ist das Problem. Genau darum brauche ich Zugriff auf sein Handy.
Enttäuscht fahre ich wieder nach Hause.
Nate hat noch zwei Tage frei, und das heißt, dass mir nichts anderes übrig bleibt, als jeden verfluchten Morgen zu ihm zu fahren und zu warten.
Beharrlichkeit zahlt sich immer aus. Sie ist nie vergeblich, niemals.
Am nächsten Tag geht Nate tatsächlich joggen. Ich hocke hinter einem Baum, wo ich mir zum Schein die Schuhe binde, und beobachte ihn. Ich wünschte, ich könnte ihm zum Dank für sein Entgegenkommen fröhlich zuwinken; er hat keine Ahnung, wie sehr unsere Wiedervereinigung auf Teamwork beruht.
Ich schaue auf mein Handy. Falls er seine übliche Runde läuft, habe ich etwa vierzig Minuten. Die Wetterbedingungen spielen mir in die Hand; sonnig, aber nicht zu heiß. Ich jogge ohne zu zögern auf sein Haus zu, so als hätte ich jedes Recht, in diese Richtung zu laufen. Als ich mich dem Eingang nähere, schlage ich meine Kapuze hoch und setze die Sonnenbrille auf. Ich kenne seine Nachbarn nicht so gut, aber wozu sollte ich unnötig ein Risiko eingehen. Ich laufe nach oben in Nates Stockwerk und schließe, so leise ich kann, die Wohnungstür auf.
Dann bleibe ich stehen und warte ab.
Kein Geräusch.
Ich schleiche zum Schlafzimmer und zum Bad. Beide sind leer. Dass weder Katie noch ein weibliches Äquivalent hier sind, lässt mein Herz leichter schlagen. Ich gehe zur Küche. Nates Handy liegt auf dem Tisch neben einem Kaffeebecher mit dem Aufdruck I NY . So einen hat er auch für mich gekauft. Ich hebe ihn an den Mund. Er ist nicht mehr warm, aber auch nicht kalt, daraus schließe ich, dass Nate heute Morgen daraus getrunken hat. Es ist ein intimes, belohnendes Gefühl. Aber ich darf mich nicht ablenken lassen. Ich tippe Nates PIN ein.
Die Zahlen verschwinden, ich muss die PIN erneut eingeben. Sie war nicht korrekt. Verfluchter Dreck!
Ich tippe sie noch mal ein, dieses Mal wird sie akzeptiert. Puh. Ich muss mich konzentrieren und wachsam bleiben. Die App wird heruntergeladen. Mittendrin stockt der Download, genau wie mein Herz: Der Bildschirm friert ein, das Smartphone ist abgestürzt. Ich schalte sein Handy aus, zum Glück hat es einen Ein-Aus-Schalter am Rand. Dann warte ich kurz ab, drücke den Knopf noch mal und starte das Smartphone neu. Beim zweiten Versuch wird die App ganz geladen. Ich scrolle nach unten, verstecke den Icon und lege das Handy dann an seinen Platz zurück. Ich muss noch ein spezielles Konto einrichten, über das ich die Daten abrufen kann, aber das kann ich erst zu Hause machen. In den nächsten achtundvierzig Stunden kann ich die App gratis ausprobieren.
Ich schaue kurz aus dem Fenster. Weit und breit kein zurückkehrender Nate zu sehen.
Ich kann nicht anders. Ich mache einen schnellen Rundgang durch die Wohnung.
Seine rechteckige Flugtasche mit den goldenen Verschlüssen liegt aufgeklappt da. Ich werfe einen Blick hinein. Dokumente, Handbücher, Flugpläne, Karten. Langweilig. Sein Koffer ist zu. Ich hebe ihn an; er ist leer. Sein Portemonnaie liegt daneben. Ich klappe es auf. Quittungen. Restaurant-, Hotel- und Barrechnungen. Ich überfliege sie. Weißwein, hm. Ein Sea Breeze. Ein Cosmopolitan. Frauendrinks, alle im On the Rocks Restaurant in Kapstadt getrunken. Vielleicht hat Katie doch Grund, sich Sorgen zu machen. Ich sehe seinen Pass und seinen Fluglinienausweis neben einem Haufen ausländischer Münzen auf dem Nachttisch liegen. Ich blättere kurz durch den Pass. Das habe ich schon unzählige Male getan; ich wollte schon damals alles über ihn wissen. Mit meinem Handy schieße ich ein paar Fotos, um meine Sammlung auf den aktuellen Stand zu bringen. Nate gehört zu den wenigen Leuten in meinem Bekanntenkreis, die ein anständiges Passbild haben.
Ich ziehe die Schranktür auf. Nichts Weibliches, genauso wenig im Bad. Ich schaue aufs Handy. Scheiße. Schon fünfunddreißig Minuten vorbei. Ich ziehe eine Flasche von seinem Lieblings-Rotwein aus meinem Rucksack und schiebe sie schnell in sein Weinregal, schließlich hat er bald Geburtstag. Dann gehe ich zur Wohnungstür und winke im Vorbeigehen Rainbow zu. Der Fisch platzt wahrscheinlich fast vor Empörung.
Gerade als ich die Treppe hinuntergehe, höre ich, wie unten die Eingangstür zuschlägt.
Ich warte ab.
Ich höre Schritte auf der Treppe. Dann Stimmen.
»Alles klar so weit?«
»Ja, danke, und selbst?«
Mist.
Nates Stimme. Bei einem freundlichen Wortwechsel mit einem Nachbarn.
»Gut, danke. Mein Knie spielt zurzeit nicht so mit …«
Ich kann mich nirgendwo verstecken. Denk nach. Ich laufe wieder hoch in den dritten Stock und drücke auf den Liftknopf. Er erwacht rumpelnd aus dem Tiefschlaf, er ist uralt. Hoffentlich geht er nicht ausgerechnet jetzt kaputt (so wie das eine Mal, als ich noch bei Nate wohnte. Der Techniker, der ihn reparieren kam, meinte, dass der Aufzug wahrscheinlich bald ersetzt werden müsste, selbst wenn die Eigentümer ihn regelmäßig warten ließen). Die Anzeige leuchtet auf. Erdgeschoss. Zweiter Stock.
Die Stimmen verstummen.
Schritte.
Scheiße, Scheiße, Scheiße.
Die Aufzugtüren gehen auf. Ich trete ein und ramme den Finger auf das E. Die Türen schließen sich bebend. Ich halte die ganze Fahrt nach unten die Luft an, bis der Aufzug stehen bleibt. Dann schlage ich die Kapuze wieder hoch und setze die Sonnenbrille auf. Ich trete mit einem Fuß aus der Kabine und sehe mich um.
Alles leer.
Ohne mich noch einmal umzudrehen, flüchte ich aus der Haustür, jogge über den Weg zur Straße und laufe los.
Zu Hause schwebe ich wie auf Wolken.
Ich hab’s geschafft!
Ich habe vollen und totalen Zugang zu Nates Welt. Es ist wie die beste Realityshow aller Zeiten. Ich analysiere alles nach Herzenslust, auch wenn es ein bisschen länger dauert als erwartet, an die Informationen zu kommen.
Ich kann sogar den Verlauf in seinem Browser einsehen. Er hat Katie zu Bellas und Miles Verlobungsfeier im nächsten Monat, am letzten Junisamstag, in einem Fünfsternehotel am Rand des New Forest eingeladen. Zu Bellas Dreißigstem mit ihren Promifreunden hat er es nicht geschafft – er ist auf keinem einzigen Bild zu sehen –, aber natürlich hat Bella für ihre Verlobungsfeier ein Datum ausgewählt, das ihrem vergötterten Bruder entgegenkommt.
Ich mache mir Kaffee und trinke ihn gedankenversunken. Ebenso gedankenversunken starre ich auf meine Pinnwand, in der Hoffnung auf eine Eingebung, bevor ich online gehe und willkürlich Worte wie Rache und fremdgehender Partner eingebe. Ich ignoriere die lächerlichen Posts, in denen Mord, öffentliches An-den-Pranger-Stellen auf Reklametafeln oder der Verkauf des gesamten Besitzes des untreuen Partners auf dem Flohmarkt empfohlen wird. Nichtsdestoweniger erweist sich das Internet erneut als wahrer Freund und beweist seine Loyalität, indem es mir mehrere Möglichkeiten anbietet. Mein Geist kehrt immer wieder zum selben Wort zurück: Sexfalle. Damit zusammenhängende Ideen kommen mir in den Sinn, doch ich verwerfe jede einzelne als zu riskant. Und doch habe ich das Gefühl, dass eine greifbare Lösung in Reichweite ist, wenn ich nur lang genug nachdenke.
In gewisser Hinsicht soll es so ablaufen wie bei »Zwei zum Preis von einem«: Ich werde hoffentlich auch negativ auf Bellas Abend einwirken können, wenn ich der Party einen Ablauf diktiere, der eher nach meinem Geschmack ist. Nate hält mit seinen Gefühlen nicht hinter dem Berg, wenn er schlecht gelaunt ist.
Ich kehre an meine Pinnwand zurück. Die Fotos sind aufgeteilt in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Nates junges Ich grinst mich an. Er trägt Shorts und T-Shirt und sieht glücklich aus. Bella hatte ein Familienfoto auf ihrem Nachttisch stehen. Schon damals hatte er diesen wissenden Blick, strahlte er jene unverhohlene Selbstsicherheit aus.
Meine Vergangenheitsbilder von Bella habe ich aus den Schuljahrbüchern ausgeschnitten, denn sie war in jedem mehrfach vertreten, ob es nun um Schauspiel, Kochen, akademische Leistungen oder Sport ging. Obwohl sie sich beim Reiten, Hockey und Tennis hervortat, lag ihre wahre Stärke im Schwimmen. Sie war völlig fassungslos, als sie mein peinliches Geheimnis aufdeckte – dass ich nicht schwimmen konnte.
»Aber ich dachte, das lernt jeder als Kind?«, meinte sie in dem ironischen Tonfall, den sie immer häufiger gebrauchte, wenn sie mit mir sprach.
Ich musste immer eine Viertelstunde vor allen anderen im Schwimmbad erscheinen, wo man mir Einzelunterricht erteilte, und während des Unterrichts musste ich wie ein Baby im Nichtschwimmerbereich bleiben. Als ich einmal aus den miefigen, feuchten Umkleiden kam, war das Becken menschenleer – bis auf Bella, die sich nie um irgendwelche Regeln scherte, weil sie selbstverständlich nicht für sie galten. Ich setzte mich auf eine Bank am Rand und wartete auf Miss Gibbons, aber die blieb unsichtbar, während die Uhr eine Minute nach der anderen abzählte.
Bella sah mich. »Komm rein, ich pass auf dich auf«, winkte sie mich ins Becken.
Ich wollte Nein sagen, aber niemand sagte Nein zu Bella. Also stieg ich langsam die Leiter hinab und ließ mich widerstrebend am flachen Ende ins Wasser sinken. Ich schauderte. Ein ganzer Film von Erinnerungen lief in meinem Kopf ab, erst ganz langsam, dann immer schneller, bis sich alles überstürzte. Aufgestachelt von Bella, nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und wagte mich immer weiter zum tiefen Ende vor. Wasser schoss mir in die Nase, brannte mir in der Kehle. Ich reckte den Kopf hoch und sah Bella. Ihr dunkelblauer Schwimmanzug blitzte kurz neben mir auf, dann spürte ich, wie sich unsere Gliedmaßen verhakten und wir beide nach unten sanken.
Ich zwang mich, die Augen zu öffnen, und sah in Todesangst den Beckenrand in meinem Blickfeld auftauchen. Ich streckte den Arm aus und hielt mich mit aller Kraft daran fest.
Endlich spürte ich, wie mich jemand aus dem Wasser zog. Miss Gibbons. Gleich darauf saß ich bibbernd am Rand und hustete dermaßen, dass ich schon dachte, ich müsste mich übergeben. Ich konnte kaum hören, wie Miss Gibbons mit mir schimpfte und Bella dankte.
Ich hatte zwar keinen Beweis, aber trotzdem den starken Verdacht, dass Bella mein Tagebuch gelesen hatte und mir Todesangst einjagen wollte. Ich hatte das Tagebuch mit der vorderen Umschlagseite nach oben in meinem Schreibtisch vorgefunden, dabei legte ich es grundsätzlich genau umgekehrt hinein. Meine Schuldgefühle wegen Will waren nun in der Welt, und ich hatte das grauenhafte Gefühl, dass meine Worte – Es war meine Schuld – falsch interpretiert worden waren, so als hätte Bella beschlossen, dass ich eine Art Mörderin wäre.
Ich konnte immer schwerer ignorieren, dass Bella für mich unerreichbar bleiben würde. Sie hatte mich satt, so wie manche Menschen irgendwann ihr Haustier satthaben. Ein zickiger Kommentar hier, ein gemeines Kichern da. Meine Schubladen im Schlafsaal wurden durchwühlt, mein Deo oder meine Zahnpasta verschwand. Ich versuchte, so zu tun, als wäre alles in bester Ordnung, versuchte, die Ohren steif zu halten, weil ich hoffte, dass ihre Clique irgendwann das Interesse an mir verlieren würde. Aber jetzt musste ich mich der Erkenntnis stellen, dass ich der falschen Freundin Treue geschworen hatte. Und deswegen kann ich bis heute kaum sagen, wen ich damals mehr hasste: sie oder mich.
In jener Nacht riss ich ein paar Seiten aus meinem Tagebuch in winzige Fetzen. In früheren Einträgen hatte ich detailliert beschrieben, wie ich mir meine Zukunft erträumte, wie sehr mich meine Mutter frustrierte und wie schwer es mir fiel, auf meinen lästigen kleinen Bruder aufzupassen. Und was mit Will passiert war. Der Stress und die Angst, dass Bella oder irgendwer sonst von dem schlimmsten Fehler meines Lebens erfahren haben konnten, noch dazu in meinen eigenen anklagenden Worten, brannte fast ständig wie Säure in meinem Magen.
Und das war nicht mal das Schlimmste, was sie mir antat.
Ich darf mich nicht ablenken lassen und muss mich ganz auf die Gegenwart konzentrieren, wenn Bella für die Vergangenheit bezahlen soll. Monat um Monat, Schritt um Schritt komme ich meinem Ziel näher.
Dasselbe gilt für meine Zukunft mit Nate. Darum ist es nur sinnig, dass Katie verschwinden muss. Ich verwerfe eine Idee nach der anderen, bis mir etwas einfällt, das funktionieren könnte, weil Nate schon am Abend vor Bellas Party im Hotel absteigen wird, um ein paar alte Schulfreunde zu treffen.
Eine tiefe innere Ruhe breitet sich in mir aus, während ich meinen Aktionsplan anpasse.
Jetzt, nachdem ich etwas Abstand zu allem gewonnen habe, frage ich mich manchmal, warum ich so beharrlich an Nate hänge. Und jedes Mal komme ich dabei zu dem Schluss, dass es mir entschieden schwerer fallen würde, wenn ich nicht hinter seine Fassade geblickt und einen Mann entdeckt hätte, der so nett, lustig, zärtlich und fürsorglich sein kann. Ich liebe ihn nun mal. Ich habe akzeptiert, dass ich unmöglich gegen mein Los ankämpfen kann. Und nachdem ich vorübergehend machtlos bin, scheint eine kleine Liebesfalle das geringste Übel zu sein, um Katie bei ihrem Abgang behilflich zu sein, denn nun wird sie mit eigenen Augen ansehen müssen, wie schwach und eitel Nate ist. Und gleichzeitig wird Nate eine wertvolle Lektion darin erhalten, wie es sich anfühlt, abserviert zu werden.