12
Nach weiteren acht Intensiv-Fahrstunden bestehe ich an Nates Geburtstag – dem fünfzehnten Juni – meine Fahrprüfung. Endlich kann ich losziehen und mein Auto abholen. Als Geschenk für mich, nachdem ich Nate schlecht ein Geburtstagsgeschenk kaufen kann. Mit offenem Verdeck und Sonnenbrille fahre ich, wie Sophia Loren persönlich, vom Parkplatz des Autohauses.
Zwanzig Minuten später habe ich mich bereits hoffnungslos verfahren; die sprechende Straßenkarte ist plötzlich erloschen. Ich halte an einer Werkstatt und frage einen Mechaniker, wie man das Navigationssystem neu startet. Bevor ich wieder losfahre, rufe ich Amy an.
»Hi, hast du Lust, mit mir eine Runde in meinem neuen Auto zu drehen?«
Sie zögert. »Tut mir leid, aber ich kann nicht. Meine Mutter kommt mich besuchen und …«
»Dann vielleicht später?«
»Ich weiß nicht recht.«
Nachdem ich aufgelegt habe, beschleicht mich ein leises Unbehagen. Amy klang nicht wie sie selbst, sondern so, als wäre jemand bei ihr. Ich mag Amy, wirklich, aber manchmal kann sie recht egoistisch sein. Sie gehört zu den Menschen, die dich regelrecht mit Info zutexten, wenn du sie fragst, wie es ihnen geht. Also rufe ich die Maklerin an und frage, ob ich die Wohnungen, die man für mich zusammengestellt hat, früher als vereinbart besichtigen kann. Ich tippe Richmond
ins Navi und brause los.
Bald wird mir so richtig bewusst, dass ein Auto insofern unpraktisch ist, als man es irgendwo parken muss. Ich fahre durch die Straßen, hänge hinter Bussen und Fahrrädern fest, bis ich es schließlich irgendwo am Rand von Richmond abstellen kann. Ich schicke Amy eine Nachricht, dass sie mich anrufen soll, falls sie es sich anders überlegt.
Sie reagiert nicht.
Als ich der Maklerin in ihrem dunkelblauen Kostüm in das moderne Zweizimmer-Apartment folge, weiß
ich augenblicklich, dass dies das perfekte Heim für mich sein wird. Es fühlt sich schon jetzt wie meine Wohnung an. Aus dem Schlafzimmerfenster kann ich gerade einen Blick auf Nates Haustür erhaschen. Mit einem Fernglas werde ich genau beobachten können, wann er kommt und geht, was sehr praktisch sein könnte, selbst wenn wir später wieder zusammen sind.
Ich werde nie wieder einem Menschen vertrauen. Vertrauen ist Luxus.
Wieder zu Hause gebe ich, während ich Kaffeewasser heiß mache, telefonisch ein Angebot für das Apartment ab. Ich feile weiter an meinem Plan und google noch einmal Liebesfalle.
Ich brauche nur ein Foto von Nate einzuschicken – kein Problem –, meine Kreditkartennummer anzugeben und dazu Nates Aufenthaltsort zu einer bestimmten Zeit. Die schwierigste Frage ist die nach Nates Frauentypus. Ich würde gern sagen, so wie ich. Aber ehrlich gesagt: Ich weiß es nicht einmal. Ich habe braunes Haar – momentan blond – und bin mittelgroß. Ich habe die Bilder von Nates ehemaligen Freundinnen studiert, aber je länger ich darüber nachdenke, desto überzeugter bin ich, dass er keinen festen Frauentyp hat. Ich erkläre der Agentur, dass ich Diskretion und Klasse und keine sichtbaren Tattoos erwarte.
Ich habe Nate nicht viel nach seiner Vergangenheit befragt, während wir zusammen waren. Das war auch nicht nötig, ich habe ihn über die
Jahre ja immer im Auge behalten. Und außerdem habe ich viel von meiner persönlichen Geschichte ausgeschmückt – bis auf meine Herkunftsgegend, meine Schule und die Tatsache, dass ich nie den Durchbruch als Schauspielerin geschafft hatte. Ich brauchte eine Entschuldigung für die vielen Jobwechsel.
Einmal fragte er mich, wie gut ich Bella gekannt hatte.
»Jeder kannte Bella«, antwortete ich, »aber ich hatte nicht viel mit ihr zu tun«, bevor ich schnell das Thema wechselte. Ich konnte ihm kaum die Wahrheit sagen – dass ich damals eine Einzelgängerin gewesen war, die manövrierunfähig auf hoher See trieb und nur darauf wartete, alles auf eine Karte zu setzen. Auf ihn.
Ich konnte auch nicht zugeben, dass ich praktisch keine Freundinnen hatte. Deswegen ist Amy so wichtig – jedes Mädchen braucht eine Busenfreundin, und Amy wird mich gut aussehen lassen.
Nate wird meine Freundschaft mit ihr bestimmt gutheißen. Und sie wird der lebende Beweis sein, dass ich sozial keine totale Aussätzige bin.
Am Tag vor der
Party
rufe ich in der Personalverwaltung an, denn ich kann kaum auf zwei Kontinenten gleichzeitig sein.
»Personalnummer?«
»959840. Ich muss mich für meinen Flug nach Perth heute Abend krankmelden.«
Ich höre eine Tastatur klappern. »Handelt es sich um einen Arbeitsunfall? Brauchen Sie Unterstützung von Ihrem Manager?«
»Nein. Danke. Ich rufe wieder an, sobald es mir besser geht«, verspreche ich, die Stimme verstellt, sodass ich sehr krank klinge. Lächelnd beende ich den Anruf.
Wie schön, dass mein Job so anonym ist. Wenn ich mich in meinen vorherigen Jobs krankgemeldet habe, musste ich regelmäßig
geheuchelte Fürsorgebekundungen über mich ergehen lassen, obwohl meine Kollegen in Wahrheit nur sauer waren, dass sie für mich einspringen mussten.
Dreihundert Gäste werden zu der Party morgen Abend erwartet. Eine perfekte Anzahl. Der Abend steht unter dem Motto James Bond. Katie geht in einem chinesischen blauen Seidenkleid, wie es die Doppelagentin Miss Taro in Dr. No
trug. Sie wird eine dunkle Perücke aufsetzen müssen. Nate geht als James Bond. Nie im Leben würde er sich für eine halbwegs interessante Figur entscheiden, wie den Beißer. Bella hält ihr Kostüm geheim; als würde das irgendwen interessieren. In der Schule hielt sie es bei Partys oder Schulaufführungen genauso. Ich google Bondgirls
und habe einen starken Verdacht, als was sie sich verkleiden wird, denn ein Girl wird als »Ikone« beschrieben. Mein Kleid ist von schlichter Eleganz, ähnlich jenem der KGB
-Agentin in Der Spion, der mich liebte.
Einen Catsuit kann ich kaum anziehen; ich muss mich mit unauffälliger Eleganz unter die Gäste mischen.
Ich checke Nates Nachrichten. Ich liebe meine Spionage-App, wenn sie nicht gerade zickt: Es ist fast, als könnte ich hellsehen. Wie geplant, wird Nate heute Abend im Hotel übernachten.
So wie ich auch.
Das Landhotel liegt auf einem riesigen Grundstück mitsamt Heckenlabyrinth, eigenem See und Golfkurs. Uralte Eichen säumen die lange, leicht kurvige Auffahrt. Während ich vor den Temposchwellern abbremse, muss ich an meine alte Schule denken. Mir wird leicht übel, als der ehrwürdige Bau vor mir auftaucht. Dahinter tut sich ein Spalt in den Wolken auf, durch den sich die schwache Abendsonne bohrt. An der Rezeption ist nichts los, wahrscheinlich die Ruhe vor dem Partysturm, da die meisten Gäste wohl morgen eintreffen werden. Ich checke ein, verweigere die angebotene Hilfe beim Koffertragen und
nehme die Treppe nach oben, was meiner Einschätzung nach sicherer ist, als in einer Aufzugkabine gefangen zu sein.
Das Zimmer ist schäbig und das Blumendekor deprimierend altmodisch. Auf den Kissen ruhen kleine, mit violetten Seidenbändern verschlossene Säckchen mit einer Lavendel-Duftmischung, die einen süßlichen Geruch verbreiten; der überwältigende Gestank lässt mich beinahe würgen. Ich will ein Fenster aufreißen, doch das lässt sich nur eine Handbreit öffnen. Ich atme frische Luft durch den Spalt, danach wühle ich in meiner Handtasche nach meinem Parfüm und versprühe es großzügig im Raum. Ich halte die Lavendel-Säckchen, die wohl als Einschlafhilfe fungieren sollen, durch den Fensterspalt und schaue zu, wie sie auf Nimmerwiedersehen von einem Busch verschluckt werden. Die verstörende Erinnerung, die dieser Duft wachruft, kann ich einfach nicht ertragen.
Ich rufe in der Liebesfallen-Agentur an.
»Ist die Frau, die meinen Freund überprüfen soll, schon im Hotel?«, frage ich. Ich sollte wie eine verzweifelte, verunsicherte Geliebte klingen, aber das ist mir egal.
»Ja, aber bitte machen Sie sich keine unnötigen Sorgen. Die meisten Männer sind ihren Partnerinnen treu. Gewöhnlich stellt sich heraus, dass es keinen Grund zur Beunruhigung gibt.«
»Wirklich?« Wie schade.
Ich sinke aufs Bett.
Nates Handy bleibt still. Keine Nachrichten, keine Facebook-Meldungen, nichts. Offensichtlich ist er beschäftigt.
Einatmen. Ausatmen.
Ich hätte nicht schon heute Abend herkommen sollen, ich hätte bis morgen warten sollen. Jetzt sitze ich in diesem Zimmer fest und kann mir nur ausmalen, welches Flirt-Szenario sich unten entfalten mag. Ich wäge meine Möglichkeiten ab: Ich könnte
in die Bar gehen, aber dort wird es sicherlich nicht so voll sein, dass ich mich unauffällig unter die
Gäste mischen könnte. Ich könnte auch etwas vom Room Service bestellen oder versuchen, einen Film anzuschauen. Aber beides sagt mir nicht besonders zu.
Ich muss hier raus.
Die Abenddämmerung liegt in der Luft, als ich zum Parkplatz gehe. Ich drücke die Fernentriegelung und rutsche auf den Fahrersitz. Ohne eine klare Vorstellung, wohin ich will, kurve ich über schmale Straßen, die von riesigen Mammutbäumen und halb verblühten Rhododendronbüschen mit herabhängenden Blättern gesäumt sind. Ich komme an mehreren alten Cottages mit Viehgattern an den Zufahrten vorbei, bevor sich die Landstraße in offenes Heideland mit Flecken von Erika schlängelt und immer wieder Schilder vor Ponys warnen oder zu langsamer Fahrt ermahnen. Die Ponys stehen in Grüppchen von zwei oder drei Tieren unter dem Blätterdach der Eichen am Straßenrand. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, mindestens ein, zwei Stunden herumzufahren, um mich abzulenken, doch schon nach wenigen Minuten muss ich das Fernlicht einschalten. Statt weiter, offener Flächen lässt die Dunkelheit den Wald einschrumpfen, und ich fühle mich abgeschnitten – und irgendwelchen, für mich unsichtbaren Gefahren ausgeliefert.
Bald stehe ich wieder auf dem Hotelparkplatz. Ich schalte den Motor aus, sitze in der Dunkelheit und starre auf das strahlend helle Gebäude. Ein Taxi fährt vor, ein Pärchen kommt aus dem Hotel und schreitet die Treppe hinunter. Ein übergewichtiger Mann im Abendanzug tritt auf eine Zigarette vor die Tür.
Ich rühre mich nicht. Ich traue mir nicht.
Eine blonde Frau stöckelt die Treppe herab und steigt in ein weiteres wartendes Taxi. Ich setze mich auf. Ich konnte nur einen kurzen Blick auf sie erhaschen, aber sie war gut gebaut, hatte langes, welliges Haar und trug ganz eindeutig Highheels. Das muss
die Frau von der Agentur sein, denn ich wüsste nicht, weshalb sonst jemand zu dieser Zeit allein
und in Abendrobe das Hotel verlassen sollte.
Mit frisch erwachter Entschlossenheit starte ich den Motor und folge dem Taxi aus der Einfahrt. Es biegt rechts ab. Immer darauf bedacht, nicht zu dicht aufzufahren, folge ich. Wie vermutet fährt es den sanften Hügel abwärts in Richtung Bahnhof. Ich stelle den Wagen auf dem kleinen Parkplatz neben einem Geländewagen ab. Von meinem Platz aus kann ich sehen, wie der Fahrer in einem E-Reader oder Tablet liest und der Bildschirm sein Gesicht beleuchtet.
Froh, dass ich Turnschuhe trage, steige ich aus und gehe zu dem Eingang aus roten Ziegeln. Die Frau steht allein auf dem Bahnsteig. Ich schaue zur Anzeigetafel auf; in sieben Minuten geht ein Zug nach London. Sie lehnt in sicherem Abstand von der gelben Bahnsteigmarkierung an einem weißen Pfeiler und tippt auf ihrem Smartphone. Ich setze mich auf eine kalte Metallbank und schaue mich um. Es gibt nicht viel zu sehen: einen Verkaufsautomaten, eine Informationstafel und, natürlich, eine Überwachungskamera. Ich muss wissen, ob sie Nates Gesellschaft genossen hat. Ich könnte in der Agentur anrufen, aber es ist schon spät. Und selbst wenn dort jemand ans Telefon geht, wird man mich vermutlich mit dem Versprechen eines »ausführlichen Berichts in Kürze« abspeisen.
Ich gehe zu ihr. Sie wirkt leicht verunsichert, als ich mich ihr nähere.
»Verzeihen Sie, wissen Sie, wie lang der Zug bis Waterloo Station braucht?« Etwas Besseres fällt mir gerade nicht ein.
»Knapp zwei Stunden.«
»Ach. Wie ärgerlich. Ich wollte eigentlich einen früheren Zug nehmen.«
»Ich auch.« Sie lächelt. »Sie haben Glück. Das ist der letzte Zug heute Abend.«
Ihre großen braunen Augen sind schwer geschminkt, und sie trägt Lipgloss. Ich kann mir vorstellen, dass Nate sie attraktiv findet, und merke, wie mich heiße Eifersucht durchbohrt, die mir so vertraut ist.
»Haben Sie was Nettes unternommen? Ich war nur zu Besuch bei meiner Tante.«
Eine laute Ansage von Band unterbricht uns: »Auf Gleis eins fährt ein …« In der Ferne tauchen weiße Lichter auf, die genau auf uns zuhalten.
»War nett mit Ihnen«, sagt sie und stellt damit klar, dass sie auf keinen Fall die ganze Fahrt bis nach London mit mir plaudern will.
»Gleichfalls«, erwidere ich.
Das Gleis vibriert, als der Zug sich nähert.
In gewisser Hinsicht ist mir klar,
dass es nicht der Fehler der Frau ist, wenn Nate sich von ihr verführen lässt. Aber in diesem Augenblick repräsentiert sie für mich jede andere
Frau. Jede Katie, jede ihrer Vorgängerinnen und alle ihre Nachfolgerinnen. Ich versuche, tief Luft zu holen, um mich zu beruhigen, aber meine Lungen sind wie zusammengepresst, und meine Kehle ist wie zugeschnürt. Ich gelange einfach nicht an den sicheren Ort in meinem Kopf. Als der Zug in den Bahnhof einfährt, mache ich einen Schritt nach vorn. Hinter mir wird die Tür zum Warteraum aufgestoßen. Der Fahrer des Geländewagens, neben dem ich geparkt habe, erscheint auf dem Bahnsteig.
Im Zug sehe ich ein paar Köpfe, beim Lesen, über einen Bildschirm gebeugt, dösend. Kurz frage ich mich, ob ich einsteigen und morgen wieder herfahren sollte – aber auch das wäre witzlos. Ich habe schon einen ganzen Abend vergeudet. Die Frau drückt auf den Türöffner und steigt ein. Ich schaue zu, wie sie sich für einen Fensterplatz entscheidet. Ein paar Schritte neben mir begrüßt der Mann einen älteren Herrn, nimmt seine kleine Reisetasche und führt ihn am Arm zum Ausgang.
Der Zug fährt wieder an, und ich merke, wie mich das vermutliche Lockvögelchen verdutzt ansieht, als es mich wie angewurzelt auf dem Bahnsteig stehen sieht. Ein paar Sekunden bleibe ich irgendwie verloren stehen, bis ich mich in die Erkenntnis füge, dass ich am besten in mein einsames Hotelzimmer zurückkehre und mich schlafen lege.
Am folgenden Morgen liege ich im Bett und starre an die Decke. Mein Handy läutet.
»Juliette? Juliette Price?«
»Am Apparat.«
»Hier ist Stacy. Von der Agentur.«
Ich setze mich auf. »Hallo?«
»Sie haben sich gewünscht, neben der E-Mail auch gern einen mündlichen Bericht zu erhalten?«
»Ja, richtig.«
»Ich fürchte, ich habe nicht so gute Neuigkeiten. Haben Sie eine Freundin oder eine andere Vertraute in der Nähe, die Ihnen Beistand geben kann?«
In meinen Adern kribbeln Hoffnung und Spannung. »Kein Problem. Erzählen Sie es mir einfach. Bitte.«
»Nun, wie Sie wissen, verleiten unsere Mädchen niemanden zu …«
»Ja, ja, ja, ich weiß«, unterbreche ich sie ungeduldig. »Jetzt sagen Sie schon. Was hat Nate getan?«
»Er wollte ihre Kontaktdaten. Genau gesagt ihre Telefonnummer. Und sie hat sie ihm nicht von sich aus angeboten. Er hat danach gefragt.«
»Sonst noch was?«
»Nein.«
»Und Ihrer Erfahrung nach bedeutet das was?«
»Dass Sie ihn im Auge behalten sollten.«
»Wie hieß sie?«
»Miranda.«
»Ist sie blond?«
»Ja, aber ich würde empfehlen, kein großes Aufheben um dieses Detail zu machen. Unser ausführlicher Bericht wird in Kürze bei Ihnen eintreffen.«
»Okay. Danke.«
Mit frisch erwachter Zielstrebigkeit steige ich aus dem Bett.
Ich verlasse das Hotel, fahre in ein nahes Dorf, wo ich mich in ein Café setze und ausarbeite, wie ich diese pikante Information am besten an Katie weiterleite.
Am Spätnachmittag schiebe ich den Kopf durch mein Kleid, lege eine dicke Schicht Make-up auf und ziehe eine Perücke über. Ich habe vor Kurzem in den Vereinigten Staaten blaue Kontaktlinsen gekauft, die allerdings höllisch schwer einzusetzen sind. Blinzelnd stochere ich in meinen Augen herum, aber ich gebe nicht auf, bis ich es geschafft habe; eine Brille würde zu sehr nach Verkleidung aussehen. Hinterher trage ich den Mascara neu auf.
Ich bin jetzt blauäugig und habe langes, gewelltes, dunkelbraunes Haar. Ich lächle mich im Spiegel an.
Ich bin bereit.
Ich warte, bis die Party eine Stunde im Gang ist, bevor ich elegant und mit hoch erhobenem Kopf die Treppe hinunterschreite und in den Ballsaal trete, als hätte ich jedes Recht, dort zu sein.
Was ich auch habe.
Ich lasse mir von einem vorbeikommenden Kellner ein Glas Champagner geben und gleite dann durch die Menge. Meine Augen tasten die Gäste ab. Noch habe ich niemanden entdeckt, den ich kenne, trotzdem fühle ich mich nackt. Ich verziehe mich in eine Ecke und nippe an meinem Glas. Gerahmte Bilder von Bellas und Miles’ Liebesbeziehung schmücken die Wände – beim Skifahren in Whistler, an Bord einer Jacht in Monaco, in einer Gondel in Venedig. Ich nehme einer Kellnerin ein Kanapee ab, um irgendwas zu tun zu haben, und beiße in Blini mit Lachs, die allerdings ekelhaft fettig schmecken. Mir wird übel.
Meine Übelkeit verstärkt sich, als Bella in meinem Blickfeld auftaucht.
Sie steht am anderen Ende des Saals. Meine Prophezeiung hat sich erfüllt: Sie hat sich für Honey Ryder, gespielt von Ursula Andres, aus Dr. No
entschieden und sieht in ihrem weißen Bikini aus, als käme sie direkt von den Dreharbeiten. Bella ist im wahrsten Sinn des Wortes ein Blickfang.
Ich wende mich an eine ältere Frau neben mir. Sie starrt Bella unverhohlen an.
»Sind Sie eine Freundin von Bella oder von Miles?«, frage ich.
»Weder noch«, antwortet sie. »Mein Mann arbeitet mit Miles zusammen und …«
Ich lächle nickend, aber meine Beine schlottern. Ein roter Haarblitz. Katie. Sie geht allein in Richtung Bar. Nate kann ich nirgendwo sehen. Aber er muss hier irgendwo sein.
Ich entschuldige mich und arbeite mich an die Seite des Saales vor, weg von Bella. Ein Mann tritt mir auf die Zehen. Ich ignoriere den Schmerz und gehe weiter. Eine Band tritt auf die Bühne, und im nächsten Moment ist die Tanzfläche voll. Nach zwei Songs wird es leiser und das Licht weiter gedämpft. Bella betritt die Bühne, der Strahl eines Scheinwerfers beleuchtet sie von oben. Ich schaue zu. Sie winkt jemanden zu sich, der Voodoo-Priester aus Leben und Sterben lassen
stellt sich zu ihr. Ich erkenne ihn wieder: Miles.
Mein Magen verknotet sich, als ich Nate an einer Wand lehnen sehe, ein Glas Rotwein in der Hand und anscheinend völlig gedankenverloren. Katie stößt zu ihm. Sie sehen nicht besonders glücklich aus, aber andererseits auch nicht unglücklich. Katie nimmt ihm das Glas ab, stellt es auf einen Tisch und ihn auf die Tanzfläche. Ich schaue ihnen beim Herumhopsen zu und bleibe gleichzeitig wie festgewachsen auf meinem Fleck stehen.
Irgendwann schiebe auch ich mich auf die Tanzfläche und geselle mich zu einer Gruppe. Spiegel, Lichter, Dunkelheit. Als eine mitreißende Version von »The Man With The Golden Gun« aus den
Lautsprechern dröhnt, ziehen sich die Tänzer etwas zurück – bis auf Bella, die sich in einem eindeutig einstudierten Solo rekelt und windet. Hinterher jubeln und klatschen alle, nur ich würde am liebsten laut schreien. Hat hier denn keiner Augen im Kopf? Wenn das meine Feier wäre, wäre alles geschmackvoll und zurückhaltend. Ich würde keinen solchen Zirkus veranstalten. Mir wird kurz flau, als Bella in meine Richtung deutet; in einer grauenvollen Vision zieht sie mich auf die Bühne und stellt mich bloß. Vor mir löst sich eine Frau aus der Menge und geht zu ihr. Beide fallen sich quietschend in die Arme und tauschen Luftküsse aus.
Erst als ich ausatme, merke ich, dass ich die Luft angehalten habe.
Der Abend fühlt sich nicht wie ein Erfolg an. Bella amüsiert sich königlich, Nate und Katie nicht minder. Was für eine Zeitverschwendung. Ich verschwinde, aber nicht, bevor ich mein Geschenk aus der Tasche gezogen und es zu dem Berg auf dem Tisch in der Ecke gestellt habe. Meine absenderlose Gabe ist ein Ratgeber für Paare, wie sie ihre bröckelnde Beziehung kitten können.
Ich kann glückliche Paare nicht ausstehen.