13
Ich warte achtundvierzig Stunden, bevor ich einen anonymen, aber ausführlichen Brief abschicke, in dem ich Katie als »wohlmeinender Mitmensch« von meinem »Verdacht« berichte. Diese Worte hab ich aus einer Fernsehsendung, in der sie den Empfänger augenscheinlich sehr beunruhigten.
Beinahe euphorisch nach meiner Intervention, drehe ich das Radio laut auf und mache mir gebratenen Reis mit Shrimps. Doch wie so oft mache ich zu viel, und der Anblick von Essen, das für zwei reichen würde, holt mich auf den Boden zurück. Es fehlt mir, für Nate zu kochen, er freute sich nach all dem Flugzeug- und Hotelessen immer über gute Hausmannskost. Ich drehe die Musik wieder leise und mümmele halbherzig meinen Reis, während ich am Laptop scrolle, suche, poste.
Wenn Nates Familie irgendwann in der Zukunft meine Vergangenheit ausforscht, sollen alle sehen, was für ein aufrechter Bürger ich bin. Die Menschen sehen nur, was sie sehen wollen, und in mir werden sie die perfekte Ehefrau für ihren geliebten Sohn und eine gütige, umsichtige Schwiegertochter sehen. Ich bin eine wahre Alleskönnerin. Mein erfundener und abwechslungsreicher Lebenslauf macht mich zur perfekten Kandidatin für diese Position: Ich backe, ich nähe, ich bastle. Ich werde jede Weihnachts-, Neujahrs- und Osterfeier ausrichten – jedes einzelne beschissene Fest. Ich will, dass Bella jede dieser Familienfeiern fürchtet – so wie ich jedes neue Schuljahr fürchten musste –, denn ich werde sie ganz subtil, nach und nach ihrer Familie entfremden.
Ich lese eine Mail von meiner Managerin. Im September werde ich endgültig dem Promotionteam der Fluglinie zugeteilt, was bedeutet, dass ich mir nicht allzu viel Zeit lassen kann, bis Nate und ich uns wieder vereinen. Mein Hauptvorteil ist das Überraschungsmoment, das darf ich auf keinen Fall gefährden.
Ich checke meine Spionage-App. Was Katie betrifft, ist bisher alles ruhig. Laut Dienstplan fliegt Nate in drei Wochen nach Las Vegas. Das könnte die perfekte Gelegenheit sein, mich auf seinen Flug zu schmuggeln, denn Las Vegas ist bei Crews ein unbeliebtes Ziel: ausgebuchte Flüge und aufgekratzte, schwer alkoholisierte Junggesellen- und Junggesellinnen-Abschiede. Ich gehe die Tauschangebote durch. Verdammt.
Bisher hat noch niemand einen Tauschantrag für genau diesen Flug gestellt. Ich werde die kommende Woche über regelmäßig nachsehen, notfalls muss ich eben selbst einen Antrag stellen. Aber im Idealfall will ich keine Spuren online hinterlassen, die darauf hindeuten, dass wir nicht rein zufällig auf demselben Flug eingesetzt wurden.
Damit habe ich alles erledigt, was ich tun kann, darum schalte ich den Fernseher ein und schaue mir ein Match in Wimbledon an. Das gibt mir etwas, worüber ich mit Barbara plaudern kann. Ich stelle mir vor, dass auch sie in diesem Moment vor dem Fernseher sitzt, einen Pimm’s in der einen Hand, ein Schälchen mit Erdbeeren und Sahne in der anderen. Das ist ihr alljährliches Ritual. Aber ich kann mich kaum konzentrieren, weil ich alle paar Minuten die Spionage-App auf Nachrichten von Katie an Nate oder umgekehrt checke, bis sie irgendwann einfriert und ich sie nicht mehr zum Laufen bringe. Das ist ärgerlich, so als hätte man mich meiner hellseherischen Fähigkeiten beraubt. Ich muss vorsichtiger sein, immerhin habe ich gelesen, dass die App Nates Akku leer saugen kann; und wenn das zu oft vorkommt, könnte er womöglich nach der Ursache forschen oder sein Handy gegen ein neueres tauschen.
Nach einiger Zeit läuft sie wieder, vielleicht hat Nate sein Handy neu gebootet. Ich zwinge mich, nur noch alle paar Stunden nachzuschauen. Dabei stelle ich fest, dass er eine Putzfrau eingestellt hat, die zweimal pro Woche kommen soll. Das sind vermutlich gute Neuigkeiten; falls ich mal irgendetwas vergessen sollte, wird er es auf die Putzfrau schieben.
Genauso erfreulich ist, dass es bis zu meinem nächsten Flug nach Delhi einige Tage später kaum Kontakt zwischen Katie und Nate gibt.
Während der Crew-Bus dahinrumpelt, streifen die schlecht zurückgebundenen Vorhänge bei jedem Schlagloch über mein Gesicht. Ich versuche, den fadenscheinigen Stoff mit einem Haargummi zu bündeln, um freien Blick nach draußen zu haben. Ich bin zum ersten Mal in Delhi, und ich finde die Stadt atemberaubend. Rikschas, Fahrräder und Kühe kämpfen um einen Platz auf der Straße, ohne dass sich irgendwer um das Hupen und Dröhnen der grellbunt dekorierten Lastwagen und Busse scheren würde, die gnadenlos auf alle anderen Verkehrsteilnehmer zuhalten. Die heiße, von der altersschwachen Klimaanlage kaum gekühlte Luft im Bus mischt sich mit dem durchdringenden Geruch nach Früchten und Kanalisation, gegen den wiederum der stechende Duft aus den weißen Plastik-Lufterfrischern vorn am Armaturenbrett anzukämpfen versucht.
Ich bin gespannt. Ich habe von einem Passagier erfahren, dass in unserem Hotel ein angesehener Wahrsager arbeitet, und da ich Geburtstag habe, werde ich mir eine Sitzung bei ihm schenken. Vor allem, weil ich immer wieder nachsehen muss, ob Nate mir einen Glückwunsch geschickt hat, auch wenn ich weiß, dass ich es mir sparen könnte – er würde nie ohne eine sanfte Erinnerung an so was denken. Aber wie so oft, kann ich einfach nicht aus meiner Haut.
Gleich beim Einchecken bitte ich die Frau am Empfang, einen Termin für mich zu vereinbaren.
»Ich werde sehen, was ich tun kann«, verspricht sie mir.
Keine Stunde später läutet das Telefon auf meinem Zimmer.
»Madam. Hier ist Reyansh. Ich habe gehört, Sie möchten mich sehen?«
Im ersten Moment bin ich verwirrt, dann habe ich die Verbindung gezogen und finde die Sprache wieder. »Ja, bitte.«
»Sie haben heute großes Glück. Wenn Sie gleich nach unten kommen können, hätte ich einen Termin frei.«
Die Zynikerin in mir vermutet, dass das große Glück wahrscheinlich nur ein Trick ist, dennoch bin ich neugierig und gespannt, darum stimme ich zu. Im Untergeschoss führt mich mein Weg zwischen Teppichläden und Schmuckgeschäften voller Gelbgold, Saphire und Smaragde hindurch, wobei ich höflich den von mehreren Ladeninhabern angebotenen Tee – chai
– ablehne und unbeirrt auf einen kleinen alten Mann zusteuere, der mich zu einer mit einem Vorhang abgeteilten Nische am Ende des breiten Ganges winkt. Hinter dem Vorhang wird mir ein Stuhl angeboten, auf dem ich mich niederlasse, während Reyansh mir gegenüber hinter einem großen hölzernen Schreibtisch Platz nimmt.
»Bitte. Können Sie mir kurz ein Schmuckstück überlassen oder etwas anderes, das Ihnen viel bedeutet?«
Ich reiche ihm einen Eternityring. Er hat nicht viel gekostet, aber ich mag ihn, weil er eine Replik jener Art von Ring ist, die ich eines Tages von Nate geschenkt bekommen möchte. Reyansh studiert ihn ausgiebig in seiner Handfläche und beginnt dann, so rasant zu sprechen, dass ich mich anstrengen muss, wenn ich alles verstehen will.
Doch als ich – eine Stunde später – wieder gehe, sickert die Essenz dessen, was er mir eröffnet hat, langsam in mein Bewusstsein. Ich warte schon viele Jahre auf jemanden, dabei liebt mich der fragliche Mann wirklich. Einem Teil von mir ist es gleichgültig, ob Reyansh das wahrhaftig »gesehen« oder »empfunden« hat, es stimmt mich auf jeden
Fall hoffnungsvoll und optimistisch. Jeder braucht ab und zu frischen Antrieb, ich bin da nicht anders, und darum bereue ich die 5000 Rupien auch nicht, die ich dafür bezahlt habe.
Später treffe ich mich mit dem Rest der Crew in einem vegetarischen Restaurant in der Nähe und probiere ein Blumenkohlcurry. Nach dem Essen lädt uns der Kapitän auf ein paar Drinks in sein Zimmer ein, denn im Restaurant wurde kein Alkohol ausgeschenkt.
Mehrere Biere später bricht ein Streit zwischen zwei Stewards aus, die Bilder ihrer jeweiligen Lover ausgetauscht haben und entdecken mussten, dass sie denselben Typen daten. Beide kauern in einer Ecke der Suite und rufen wutentbrannt den Betreffenden an – Sebastian –, der aber gerade in Dubai weilt und sein Handy ausgeschaltet hat. Ich kann mir vorstellen, dass er es eine ganze Weile so halten wird, wenn er erst die giftspritzenden Nachrichten auf seiner Mailbox abgehört hat.
Die Frau neben mir zieht ein Gesicht. »Wir glauben doch alle, unser Sebastian, Tim, Dave, Jane, wie auch immer, wäre was Besonderes«,
sagt sie.
Das Übelkeitsgefühl, das fast permanent in meiner Magengrube liegt wie ein giftgespickter Ball, rumort in meinem Inneren. Mir war immer klar, dass Nate bei jedem Flug den verschiedensten Versuchungen ausgesetzt ist, doch ich hatte mich immer bemüht, diesen Gedanken in meinem Kopf keinen Raum zu lassen.
»Es muss doch auch anständige Männer geben, oder?«, frage ich. »Sind nicht viele von uns verheiratet und haben Kinder?«
Sie sieht mich an, als würde sie nicht recht schlau aus mir. »Erzähl mir nicht, dass du Flugbegleiterin geworden bist, weil du einen Piloten heiraten willst!«
Ich schüttele den Kopf, als wäre ich noch gar nicht auf diesen Gedanken gekommen.
»Natürlich gibt es Erfolgsgeschichten. Aber es ist schwer. Lass dir einen Rat geben und geh nur mit jemandem aus, der einen Job am Boden hat. Wobei da wohlgemerkt ganz andere Probleme auftauchen, denn nicht jeder hat Verständnis dafür, wenn du das dritte Weihnachten hintereinander arbeiten musst.«
Ich blende mich aus und konzentriere mich auf die positiven Neuigkeiten, die Reyansh mir vorhin eröffnet hat.
Rund um mich werden Pläne geschmiedet, am nächsten Tag das Taj Mahal zu besichtigen. Ich will nicht mit. Nicht genug, dass man ewig lang fahren muss, auch der Gedanke, vor einem Gebäude zu stehen, das als Zeugnis der Liebe dienen sollte und dessen Bau über zwanzig Jahre dauerte, ist mehr, als ich ertragen kann. Denn genau das will ich: dass Nate mich so liebt.
Auf dem Rückflug herrscht Hochbetrieb.
Als die erste Mahlzeit serviert wird, verschluckt sich ein kleines Mädchen auf einem Gangplatz. Ich schlage ihr automatisch auf den Rücken, und Gott sei Dank löst sich daraufhin ein Brotstück, trotzdem setzt mir ihr Heulen zu. Ihre Mutter reagiert trotz meiner Beruhigungsversuche so panisch, dass ich irgendwann weg muss. Ich verschwinde in die Galley, um ein paar Flaschen Wasser zu holen, und versuche, den Aufruhr und Lärm aus der Kabine auszublenden. Hoffnungsvoll schaue ich auf die Uhr, aber bis Heathrow sind es noch mehrere Stunden.
Schließlich endet der Service ohne weitere Störungen. Nachdem die Galley endlich aufgeräumt ist, lasse ich mich in meinen Sitz fallen und trinke einen schwarzen Kaffee.
Ich starre aus dem Fenster in die weite Leere und denke nicht länger darüber nach, was ich verloren habe, sondern darüber, wie viel ich erreicht habe.
Meine Sitzung bei Reyansh hat mir zumindest wieder vor Augen geführt, dass ich mich nicht ablenken lassen darf. Und dass ich meinen Glauben an ein Happy End bewahren muss.
Wir landen am Nachmittag in brütender Hitze.
Nates Flug aus Lusaka soll in zwei Stunden eintreffen. Ich checke die Ankunftszeit, er hat neunzig Minuten Verspätung. Noch besser.
Auf der Flughafentoilette schlüpfe ich aus meiner Uniform, dann fahre ich nach Richmond. Ich schaffe es, nur zwei Straßen weiter einen freien Parkplatz zu finden. Trotz der Hitze trabe ich langsam zu seinem Haus. Mein Jogging-Outfit ist die beste Sommerverkleidung, denn so kann ich mit gutem Grund etwas mit einer Kapuze tragen – die ich notfalls hochschlagen kann. Als ich zum Hauseingang gehe, stoße ich mit jemandem zusammen. Es ist eine ältere, mir unbekannte Frau.
»Tut mir leid«, beteuert sie.
»Mir auch! Muss in Zukunft besser aufpassen, wohin ich gehe«, murmele ich, während ich weitergehe, ohne mich umzudrehen.
Hoffentlich hat sie nur irgendeinen von Nates Nachbarn besucht.
Nachdenklich setze ich mich auf sein Sofa. Katie und Nate haben gestern miteinander telefoniert und ich daher keine Ahnung, was sie besprochen haben. Erst haben sie dreiundzwanzig Minuten gesprochen, dann noch mal siebzehn. Darauf folgte eine Textnachricht von ihr an ihn, in der sie bekräftigte, dass sie morgen Abend bei ihm übernachten will. Das kann wahrscheinlich nur bedeuten, dass er ihr Misstrauen ausräumen konnte und sie jetzt einen neuerlichen Schubs braucht.
Nach längerem Überlegen habe ich mich auf vier mögliche Objekte beschränkt: einen Haargummi, eine violette Kerze mit Rosenduft, ein altes Foto und eine rosa Zahnbürste. Was davon und wohin damit? Zu viele Hinweise wären auffällig, gleichzeitig müssen es Dinge sein, die
glaubhaft irgendwann irgendwer zurückgelassen haben kann, und zwar an einem Fleck, wo sie Katie auffallen müssen.
Wie sich herausstellt, ist das schwieriger, als ich dachte, doch zuletzt beschließe ich, die Kerze auf den Kamin zu stellen – falls sie Nate überhaupt auffällt, wird er hoffentlich annehmen, dass seine neue Putzfrau die Kerze in irgendeinem Schrank gefunden und beschlossen hat, sie herauszuholen. Ich werfe kurz einen Blick aus dem Fenster; keine Anzeichen von Nate. Den Haargummi lasse ich halb unter dem Bett auf dem Boden liegen, auf der Seite, auf der Nate nicht schläft, und dann nehme ich die Zahnbürste aus ihrer Verpackung und verstecke sie im Medizinschrank.
Nate hat ein paar Fotos an seiner Kühlschranktür hängen, und jetzt platziere ich eines, das ich vor Ewigkeiten abgehängt habe, versteckt unter all den anderen. Darauf steht er vor einem japanischen Tempel und hat seine Arme um zwei Frauen gelegt. Er sieht glücklich aus, darum hatte ich das Foto auch mitgenommen. Als wir zusammen waren, hasste ich es, weil es mich an seine Kolleginnen erinnerte. Auf die Rückseite hat jemand geschrieben:
Geile Zeit
XXX
Es ist nicht Nates Handschrift.
Ich schaue im Weinregal nach. Seinen Geburtstagswein hat er noch nicht angerührt.
Zu Hause beschließe ich, das Risiko einzugehen und meine Anfrage für Las Vegas im Austausch für einen Flug nach San Diego online zu stellen. Nach nicht einmal einer Stunde ist der Tausch abgewickelt. Jetzt, wo das Datum für unsere Wiedervereinigung feststeht, muss ich alles dafür vorbereiten und fange online damit an. Doch sobald ich zu suchen
anfange, spüre ich ein nervöses Kribbeln. Bei bestimmten Sucharten besteht immer ein Risiko, und ich will nicht, dass irgendwas davon später zu mir zurückverfolgt werden kann. Darum bremse ich mich. Vielleicht sollte ich einen öffentlichen Computer verwenden, wie in einer Bibliothek, aber dennoch … Wenn ich online bestelle, was ich brauche, muss es auch geliefert werden, und das stellt mich vor ganz eigene Probleme.
Darüber denke ich nach, während ich durch meine Accounts scrolle und mehrmals bei beliebigen Posts »Gefällt mir« drücke, ohne dass ich auch nur einen davon richtig wahrnehmen würde, bis ich an einem Post meines Freundes Michele Bianchi aus längst vergangenen Statistenzeiten hängen bleibe. Er spielt nicht mehr den Tierarzt-Assistenten in einer Fernsehserie, sondern hat eine Rolle in einer bekannten Show im Westend ergattert. Michele hatte wenig Angst, gegen Gesetze zu verstoßen, wenn es um Drogenkonsum oder den Kauf von elektronischen Geräten ging, die aus dubiosen Quellen stammten. Er könnte mir jetzt ganz nützlich sein.
Ich schicke ihm eine private Nachricht und frage ihn, ob er Lust auf einen Kaffee mit mir hätte.
Er ist online und antwortet schon wenige Sekunden später.
Perfektes Timing – langweile mich sowieso zwischen den Proben. Bin gespannt, was es bei dir Neues gibt. Morgen? PS: Bin pleite, zwinker-zwinker, darum möglichst was Billiges und Fröhliches.
Ich antworte mit einem Smiley, dem Versprechen, ihm einen Kuchen zu seinem Kaffee zu spendieren, und einem gut gelaunten Ciao Bello! X
Es ist schön, Michele wiederzusehen. Ich entdecke ihn, bevor er mich sieht. Er sitzt auf einem Hocker am Fenster des Cafés. Ich winke ihm
durch die Scheibe zu, und er grinst mit seinen perfekten weißen Zähnen zurück. Wir geben uns Begrüßungsküsschen auf beide Wangen, dann drückt er mich fest an sich.
In seiner Nähe bin ich gelöst und entspannt wie bei einem großen Bruder. Ein schönes Gefühl. Zwischen uns gab es nie irgendwelche romantischen Gefühle, bei ihm fühlte ich mich einfach immer … sicher.
Es ist so schön, sich auszutauschen, dass ich warte, bis wir unseren Kaffee ausgetrunken haben, bevor ich meine Bitte ausspreche.
»Es gibt also nichts umsonst im Leben, nicht mal Kuchen?«, fragt er und verschränkt die Arme. »Wozu sollte eine gutaussehende Frau wie du eine Vergewaltigungsdroge brauchen?«
»Nenn sie nicht so. Ich hab’s dir doch erklärt; sie hat meiner Freundin durch eine schwierige Zeit geholfen. Beim Schlafen. Ich bin total am Ende. Am Ende.
Ich dachte, dass Nick und ich …« Ich verstumme, als würde ich gleich weinen müssen.
»Kannst du dir nicht einfach Schlaftabletten besorgen, von einem Arzt oder so? Ich weiß nicht recht.«
»Ich zahle auch, und zwar gut. Es ist nur dieses eine Mal, Ehrenwort. Meine Freundin hat darauf geschworen. Und … ich bin verzweifelt.«
»Woher weiß ich, dass du damit nichts Dummes anstellst?«
»Ich will nur schlafen können. Dieser neue Job ist ganz schön aufreibend. Wirklich.«
Er verspricht mir nichts, aber wir vereinbaren, uns in zwei Tagen am selben Ort wiederzutreffen.
Noch am gleichen Abend rufe ich, während Katie bei Nate ist, nach Mitternacht dreimal mit unterdrückter Nummer auf seinem Handy an.
Bei den ersten beiden Anrufen geht Nate ans Telefon.
Beim dritten Versuch lande ich direkt auf der Mailbox.
Mein nächstes Treffen mit Michele verläuft erfolgreich, wenn auch
nicht ohne weitere Ermahnungen – und in den nächsten Tagen scheint es zwischen Katie und Nate nicht allzu gut zu laufen.
Ihre Nachrichten an ihn deuten auf Bedürftigkeit hin, ihr Vertrauen in Nate hat mindestens einen Kratzer abbekommen:
Was soll das werden? Hört sich an, als würdest du dich anderswo umtun.
Keine Küsse mehr.
Er hingegen klingt abwehrend, braucht länger, ist zurückhaltend:
Ich war nicht besonders lang aus. Nur was trinken mit den Jungs.
Dann wird es still zwischen beiden. Nate ist kein Mann, der sich lang mit Problemen herumschlägt.
Am Abend vor meinem Flug nach Vegas herrscht Funkstille zwischen den beiden. Ich gestatte mir die leise Hoffnung, dass es zu Ende ist.
Zwei Stunden vor dem Abflug trete ich in den Besprechungsraum und nehme mir einen Ausdruck des Crew-Briefings; ich habe ganz vergessen, es auf mein Handy zu laden.
»Hallo miteinander. Wir fangen direkt mit der Vorstellung und den Arbeitspositionen an«, sagt der verantwortliche Kabinenchef. »Ein paar von euch sind vielleicht schon mit mir geflogen, aber noch mal für alle: Nennt mich Stuart – nicht David, wie auf der Crew-Liste steht.«
Ich werfe ein, dass ich meinen mittleren Namen verwende.
»Wir besprechen heute ein Feuerszenario. Juliette, was tun Sie
zuerst, wenn Sie ein Feuer entdecken?«
Wir werden unterbrochen, weil der Kapitän die Tür öffnet.
»Morgen, alle zusammen. Ich bin Barry Fitzgerald. Auf dem Atlantik könnte es ein bisschen holprig werden. Bitte seien Sie besonders aufmerksam, wenn Sie die Safety-Checks durchführen, die Terrorwarnstufe wurde von ›erheblich‹ auf ›ernst‹ angehoben. Irgendwelche Fragen?«
Ich hebe die Hand. »Könnte ich während der Landung im Cockpit sitzen, bitte?«
Er sieht Stuart/David an, der völlig desinteressiert wirkt; wie man hört, arbeitet er nur noch auf seine Pensionierung hin. Er nickt knapp.
Der Kapitän verschwindet, und das Briefing wird fortgesetzt. Ich bin so aufgekratzt, dass ich mich nur mit Mühe auf die Fragen zu medizinischen Notfällen und Sicherheitsproblemen konzentrieren kann, aber ich zwinge mich, immer mitzudenken und korrekt zu reagieren.
Was für ein Desaster, wenn ich aus dem Team für diesen Flug geworfen würde, nur weil ich eine Routinefrage falsch beantworte.
Das Flugzeug setzt zurück. Die Außenwelt schrumpft auf die Größe der Flugzeugkabine zusammen. Eine Miniwelt, in der wir eingepfercht und für die nächsten zehn Stunden und fünfundvierzig Minuten völlig von der Außenwelt abgeschottet sind.
Wir stellen uns in die Warteschlange vor der Rollbahn und rücken langsam vor. Ich sitze fest angeschnallt auf meinem Jumpseat und schaue aus dem Fenster in den verhangenen Sommertag. Es fängt an zu nieseln, kleine Tropfen benetzen die Fenster. Das Flugzeug biegt auf die Startbahn, kurz wird es still. Dann dröhnen die Turbinen, und ich spüre den kraftvollen Schub. Die Gurte liegen straff an meinem Körper. Mein Magen hebt sich mit dem Flugzeug. Wir werden kurz gerüttelt und
geschüttelt, als wir durch die Wolken brechen, dann wird es ruhig.
Ich atme tief ein und beschwöre mein Stewardessen-Ich herauf.
Während ich die Trolleys befülle, gehe ich noch einmal meinen Plan durch. Es ist so weit. Dies ist der Tag, an dem mein Leben neu beginnt. Ich schiebe mich durch den Vorhang vor der Galley.
»Möchten Sie roten oder weißen Wein zum Essen?« Ich lächle.
Schon nach den ersten sechs Reihen ist das Hühnchen-Gericht aus. Mehrere Gäste behaupten, Vegetarier zu sein, als sie erfahren müssen, dass es nur noch Lasagne gibt – mit verschränkten Armen und verkniffenem Mund.
Nur mit größtem Widerwillen leiere ich meinen Spruch herunter: »Vegetarische Mahlzeiten können Sie vorab online bestellen«, aber die Beschwerden nehmen kein Ende.
»Warum gibt es nie genug Auswahl?«
»Das war schon auf dem letzten Flug so und auf dem vorletzten genauso.«
»Bei anderen Fluggesellschaften passiert so was nie.«
Ich versuche, etwas von begrenztem Platz zu erzählen, begreife aber, dass ich damit nur Zeit vergeude. Ich gehe neben einem besonders mürrischen Paar in die Hocke – der Optik nach Schnäppchenjäger, die den ganzen Urlaub mit Meckern verbringen werden – und flüstere verschwörerisch: »Nehmen Sie auf dem Rückflug keinen Mittelplatz. Wir servieren immer von den jeweiligen Enden der Kabine aus, von vorn nach hinten, und die in der Mitte sitzen, haben oft keine Wahlmöglichkeit mehr.«
Beide strahlen. »Danke«, flüstern sie zurück.
Der Mann nimmt seine Lasagne ohne weitere Beschwerden entgegen. Die Frau will nicht so schnell nachgeben und nimmt mir das Tablett nur unter der Bedingung ab, dass ich ihr noch ein Brötchen und einen »anständigen Wein aus der First Class« bringe. Ich schenke ein Fläschchen Roten für die Economy in ein Glas aus der Business und
bringe es ihr. Sie nimmt einen Schluck und nickt wohlwollend, obwohl sie den Wein vorhin noch abgelehnt hat.
Als der Service endlich erledigt ist, sinke ich auf einen harten Crew-Sitz und picke in einem Hummersalat aus der Galley für die First Class herum, doch ich bringe kaum einen Bissen hinunter.
Während des Services für den Nachmittagstee fühle ich mich schwach und wie in Watte gepackt. Ich bin so dicht davor. Ich darf es einfach nicht verpatzen. Alles, was mich von Nate trennt, ist die stählerne Tür zum Cockpit.
Ich zucke zusammen, als seine Stimme die Kabine erfüllt. »Meine Damen und Herren, hier spricht Ihr Kopilot Nathan Goldsmith. Wir haben noch etwa eine Stunde bis zur Landung im sonnigen Las Vegas bei glühenden achtunddreißig Grad Celsius. Trotzdem könnte aufgrund starker Winde die Landung ein bisschen holprig werden.«
Ich bleibe reglos stehen, versuche, mich innerlich von dem Chaos in der Galley zu lösen, schließe die Augen und verliere mich kurz in der Erinnerung an seine Umarmung, an sein Lächeln. Doch eine unerbetene Erinnerung drängt sich dazwischen – an seinen Wutausbruch, als ich nicht ausziehen wollte. Und noch eine, als ich seinen Pass versteckte, damit er nicht arbeiten gehen konnte und gezwungen war, mit mir zu reden.
Das war Vergangenheit, dies ist Gegenwart.
Damals war ich ein anderer Mensch, seine Zurückweisung machte mich unzurechnungsfähig. Inzwischen habe ich ihm seinen Wunsch erfüllt und ihm Freiraum gelassen. Das wird er mir doch – garantiert – hoch anrechnen. Wir hatten auch viele glückliche Momente. Er liebte meinen Humor.
Dann kommt die Standarddurchsage vor der Landung. Ich sichere die Kabine und muss immer wieder Passagiere ermahnen, ihre Gurte anzulegen. Sobald wir unter die Wolken tauchen, beginnt das Flugzeug zu wackeln und zu schaukeln. »Cabin crew, seats for landing.«
Es ist so weit.
Der Kollege, der den Posten an meiner Tür übernimmt, erscheint. Ich danke ihm, gehe nach vorn und steige die Treppe hoch. Plötzlich sackt das Flugzeug so stark ab, dass ich mich am Handlauf festhalten muss. Die Turbinen heulen auf. Auf dem Oberdeck gehe ich langsam und nervös wie eine Braut an allen Businessclass-Passagieren vorbei nach vorn. Um ein Haar schreie ich auf, als ich an einer alten Dame vorbeikomme und sie mich unversehens am Arm packt.
»Verzeihen Sie«, sagt sie und lässt mich wieder los. »Aber wissen Sie, ob diese Turbulenzen noch schlimmer werden? Ich hab ein wenig Flugangst.«
»Das ist gleich vorbei«, beruhige ich und gehe weiter, wobei ich ein paar Haarsträhnen zurechtzupfe, um mein Gesicht wenigstens teilweise zu verbergen.
Ich stehe vor der Cockpittür und gebe den Code ins Tastenfeld ein. Ich winke in die Kamera. Der Summer ertönt, und das grüne Licht leuchtet auf. Ich drücke die Tür auf, schiebe mich durch den Spalt und schließe sie hinter mir. Dann gleite ich auf den Sitz hinter Nate. Er ist zu beschäftigt, um sich umzudrehen, wir sind schon fast im Endanflug. Der Kapitän deutet auf einen Kopfhörer. Ich setze ihn auf und lausche dem Funkverkehr mit dem Tower, während ich Nates Nacken studiere. Ich kann die Härchen an seinem Hals sehen.
Draußen wächst die Skyline von Vegas empor und begrüßt uns. Über dem ständigen Strom von Worten aus dem Tower ist ein konstantes Warnsignal zu hören. Die Automatenstimme zählt die Flughöhe herunter.
»One thousand feet. Five hundred.«
Im Cockpit ist das Schaukeln und Wackeln des Flugzeugs weniger zu spüren.
»One hundred feet. Fifty, forty, thirty, twenty, ten.«
Touchdown.
Mir wird die Brust weit, so stolz bin ich auf Nate.
Als wir abbremsen, setze ich die Kopfhörer wieder ab, während draußen die Turbinen leiser werden. Ich schaue zu, wie Kapitän Barry und Nate ihre Routineaufgaben und Checklisten abarbeiten.
Als wir von der Landebahn abbiegen, dreht sich Nate mit einem Lächeln auf dem Gesicht um.
Ich lächle ebenfalls.
Er erstarrt, als hätte er eine Tote gesehen, und wendet sich dann wieder seinen Instrumenten zu. Der Terminal kommt in Sicht. Welcome to McCarran International Airport.