16
Ich schlafe nur ein paar Stunden, ich bin zu aufgekratzt. Danach liege ich auf dem Bett und durchlebe noch einmal den vergangenen Abend. Jede einzelne Geste, jeder einzelne Satz, jedes Wort geht mir durch den Kopf. Und jedes Mal gelange ich zu demselben Schluss: Nate ist formbar und reif, wieder zu dem Mann zurechtgebogen zu werden, den ich von früher kenne.
Noch gestern Abend, zwanzig Minuten, nachdem ich gegangen war, hat er mehrere Panoramabilder vom Balkon des Clubs gepostet. Die Internetverbindung in meinem Hotelzimmer ist unendlich langsam, was ziemlich frustriert, vor allem weil ich so meine Spionage-App nicht öffnen kann. Die Gruppe hat zwar vereinbart, dass wir uns heute Abend wieder in der Bar treffen, aber ich muss Nate vorher sehen. Allein. Und weil ich keine Möglichkeit habe, konkret herauszufinden, was er vorhat, ist der Fitnessraum die beste Option. Es ist entschieden zu heiß, um joggen zu gehen.
Nach dem Frühstück mache ich mich auf den Weg zum Gym. In der Ecke gibt es ein winziges Café, in dem ich Beobachtungsposten beziehen kann, ohne dass ich stundenlang vorgeben muss zu trainieren. Zwei Tassen Kaffee später sitze ich immer noch wie festgewachsen da. Ich habe die hiesige Zeitung gelesen und bin es allmählich leid, immer wieder nachzusehen, ob meine Spionage-App funktioniert (tut sie nicht). Schließlich greife ich zu dem Telefonapparat und wähle Nates Zimmernummer, allerdings habe ich fest vor aufzulegen, sobald er ans Telefon geht. Wenigstens wecke ich ihn so auf.
Es läutet. Und läutet. Verflucht. Er ist weggegangen.
Ich warte weitere zehn Minuten ab, falls er zufällig auf dem Weg hierher ist, und frage mich, ob er vielleicht so tief schläft, dass er nicht mal das Telefon hört. Oder aber – bei dem Gedanken sinkt mir das Herz in die Hose – er hat gar nicht in seinem Zimmer geschlafen. Er könnte jetzt, just in diesem Augenblick, in einem anderen Bett liegen. Dem von Joanna? Ich stehe auf, vielleicht etwas zu abrupt, denn der Mann, der am Tisch nebenan einen Smoothie trinkt, wirft mir einen schrägen Blick zu.
In meinem Zimmer gehe ich auf seine Facebook-Seite. Nichts. Meine Spionage-App verweigert immer noch den Dienst. Es besteht noch die Möglichkeit, dass Nate schwimmen gegangen ist. Es ist zwar nicht sein Lieblingssport, aber vielleicht hält er es mit einem Kater immer noch für besser, als überhaupt keinen Sport zu treiben.
Ich steige in meinen Badeanzug, tausche meine Sportsachen gegen ein Kleid, schnappe mir eine Tasche und mache mich auf den Weg ins Untergeschoss.
Durch die Scheibe spähe ich in den Poolbereich. Mehrere Gäste ziehen ihre Bahnen, und am flachen Ende spielen ein paar Kinder, aber keiner davon könnte Nate sein. Gerade als ich mich abwenden will, entdecke ich ihn. Er trägt eine schwarze Badehose und geht zu dem Whirlpool am anderen Ende.
Ich husche in den Umkleidebereich und ziehe mich eilig aus, bevor ich meine Sachen in ein Schließfach stopfe und dann den Schlüssel abziehe. Als ich in den Poolbereich trete, schlägt mir der Geruch nach Chlor und Putzmittel ins Gesicht. Verdutzt bleibe ich stehen, als mir aufgeht, dass der Whirlpool leer ist. Im Becken ist Nate auch nicht. Verflucht noch mal, ich muss mich getäuscht haben. Kurz bleibe ich verunsichert stehen, bis mir zwei Türen auffallen: Sauna und Dampfbad.
Ich tappe hinüber und ziehe die erste Tür auf.
Leer.
Ich schließe sie wieder und probiere es an der zweiten. Ein überwältigender Mentholgeruch wabert heraus, als ich eintrete.
Im Dampf sehe ich Nate vornübergebeugt, den Kopf in die Hände gestützt, auf einer Holzbank sitzen. Er schaut nicht auf.
Ich lege mein Handtuch auf die Bank gegenüber, setze mich still hin und spüre, wie die Hitze von den Beinen langsam durch meinen Körper höher steigt. Ich atme tief ein. Zurückgelehnt schließe ich die Augen und bin dankbar für die zusätzlichen Sekunden, um mich wieder zu fassen. Die Tür geht auf. Ich reiße die Augen auf und will Nate schon hinterhereilen, doch stattdessen tritt eine Frau ein. Nate setzt sich auf. Ich kann erkennen, wie sich seine Augen dem dampfigen Halbdunkel anpassen und dann groß werden, als er mich sieht.
»Lily?«
»Mein Gott, Nate. Hast du mich erschreckt!«
Die Frau sieht mich böse an.
»Verzeihung«, flüstere ich.
Ich lächle Nate zu, und er grinst zurück. Ich schlage »Gehen wir?« vor, indem ich mit einem fragenden Blick zur Tür hin nicke. Er steht auf, und ich folge ihm hinaus in die vergleichsweise kühle Luft des Poolbereichs.
Nachdem ich das Handtuch an einen nahen Haken gehängt habe, stelle ich mich kurz unter die Dusche, wo ich das Wasser zum Abkühlen auf Lauwarm drehe. Nate wartet geduldig, und während er duscht, klettere ich in den Whirlpool, in dem Gott sei Dank sonst niemand liegt. Ich lege mich zurück und schließe die Augen, als wäre ich so gechillt, dass es für mich überhaupt keinen Unterschied macht, ob er sich zu mir setzt oder nicht.
Er tut es. Er setzt sich direkt neben mich. Nicht zu dicht, aber auch nicht zu weit weg.
»Ich dachte, das Fitnessstudio wäre eher dein Fall?«, sage ich.
»Ist es auch. Aber heute bin ich mit so einem Höllenschädel aufgewacht – dem schlimmsten seit Ewigkeiten –, dass mir Training zu anstrengend war. Ich dachte, das hier«, er deutet auf den Poolbereich, »würde helfen.«
»Und hat es?«
»Ein wenig.«
»Du brauchst einen Katerdrink. Nichts anderes hilft bei einem richtig schlimmen Kater. Komm später mit mir ins Venetian. Ich will einen Ausflug machen.«
»Ich weiß nicht. Ich glaube, ich sollte es heute lieber vorsichtig angehen, schließlich müssen wir morgen fliegen.«
»Sei kein Langweiler.« Ich stupse ihn mit dem Ellbogen. »Komm schon. In deinem Zimmer kannst du überall auf der Welt hocken. Wenn du nicht mitkommst, muss ich Alex oder einen der anderen fragen, aber mit dir wäre es bestimmt am lustigsten. Warst du schon mal dort?«
Er schüttelt den Kopf.
»Damit steht es fest. Ich habe für dich entschieden. Gegen fünf komme ich zu dir. Mir reicht es hier drin, ich verschwinde ins Spa.« Ich stehe auf. »Bis später.«
»Alles klar.«
Eine Hand fest um die Minileiter, steige ich die Stufen hoch. »Und zieh was Ordentliches an«, ermahne ich ihn über meine Schulter.
Das Handtuch über meinem Arm – es ist zu nass, um es mir umzulegen –, balanciere ich am Rand des Pools entlang und stoße dann die schwere Tür zur Damenumkleide auf, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Ich dusche – noch mal – und trage eine dünne Schicht Lotion auf. Es ist eine von Nates Lieblingsmarken, er hat immer betont, wie gut sie riecht, wenn ich sie aufgelegt hatte.
Ich gehe durch zum Spa-Empfang und sitze gleich darauf mit einem Becher Kräutertee in einem bequemen Lehnsessel im kühlen, ruhigen Wartebereich. Ich fühle mich, als könnte ich sofort einnicken und stundenlang schlafen. Dann werde ich aufgerufen. Dieselbe Stylistin wie gestern wäscht und fönt mir die Haare, was mir nur entgegenkommt, weil ich so nicht noch mal erklären muss, was mir vorschwebt. Ich bitte die Visagistin, die mein Make-up auflegt, um etwas mehr Dramatik rund um meine Augen, um wesentlich dunklere Farben und einen wimpernverlängernden Mascara. Als sie fertig ist, kann ich kaum den Blick vom Spiegel wenden. Ich sehe völlig verändert aus. Glücklich, selbstbewusst und energisch.
Wie jemand, der Nates andere Hälfte sein könnte. Yin und Yang.
Ich bin so begeistert, dass ich, während ich die Behandlungen auf meine Zimmerrechnung schreiben lasse, ein überaus großzügiges Trinkgeld gebe.
Um vier bin ich wieder auf meinem Zimmer, womit mir noch genau eine Stunde bleibt. Ich überzeuge mich doppelt, dass die von mir bestellte Limousine wirklich um Viertel nach fünf kommt, und schicke Alex eine Nachricht, dass ich es heute Abend nicht in die Bar schaffe.
Ich ziehe mich aus, lege dann eine neue schwarze Dessous-Kombi an, bevor ich mein blaues Kleid aus dem Schrank nehme. Ich reiße die Kunststoff-Schutzhülle auf und streife es behutsam vom Bügel, um es dann über meinen Kopf zu ziehen. Der Reißverschluss will nicht so recht, aber ich setze mich durch.
Ich klappe meine Schmuckschatulle auf und wähle schlichte silberne Ohrringe, die Babs mir letzte Weihnachten geschenkt hat. Über mein Handgelenk schiebe ich einen einfachen silbernen Armreif, den ich mir vor Ewigkeiten von Amy geliehen habe. Ich tupfe Parfüm hinter meine Ohren und sprühe dann eine kleine Wolke in die Luft, durch die ich hindurchgehe. Schließlich probiere ich zwei Paar Schuhe an, eines mit hohen, das andere mit nicht ganz so hohen Absätzen. Nach langem Überlegen entscheide ich mich für das niedrigere Paar. Es sind schwarze, hinten offene Pumps, die elegant wirken, ohne dass gleich ins Auge springt, wie viel Mühe ich mir gegeben habe.
Nach einem letzten prüfenden Blick in den Spiegel hole ich tief Luft.
Es ist so weit.
Ich nehme meine Handtasche, eine schlichte schwarze mit meinem Pass, einer Kreditkarte, etwas Geld und einem Lippenstift sowie ein paar anderen Sachen, die ganz nützlich werden könnten, und mache mich auf den Weg zu den Aufzügen. Während ich warte und beobachte, wie die roten Anzeigelichter Stockwerk für Stockwerk aufleuchten und erlöschen, senkt sich eine tiefe Ruhe über mich.
Der Lift pingt. Ich trete ein.
Nate ist noch nicht fertig. Er macht mir im Hotelbademantel auf, und sein Haar ist nass.
»Entschuldige. Bin eingeschlafen.«
»Soll ich dir was zum Anziehen aussuchen?« Sowie die Worte aus meinem Mund sind, bedauere ich sie.
»Nein, es geht schon. Ich hab’s gleich.« Er verschwindet ins Bad und zieht die Tür hinter sich zu.
Ich setze mich aufs Bett und schiebe die Hände unter die Schenkel, weil ich auf keinen Fall in seinen Sachen herumstöbern will, und das ist nur gut so, denn Nate braucht nur wenige Minuten. Als er wieder auftaucht, hat er das blaue Hemd an, das er immer trägt, wenn er nicht direkt von Heathrow startet, sondern erst als Passagier zu einem Einsatzort geflogen wird.
Ich schaue zu, wie er sich vorbeugt, eine Schublade aufzieht und ein Paar schwarze Socken herausholt. Mir will nicht in den Kopf, warum ich auf meinen Flügen meinen Koffer auspacken soll. Schließlich bin ich nicht wochenlang in Ferien, und ich muss alles nur wieder einpacken – manchmal schon vierundzwanzig Stunden später. Außerdem riskiere ich dadurch, irgendwas zu vergessen. Er setzt sich neben mich; ich spüre, wie die Matratze unter seinem Gewicht einsinkt. Als er die Socken übergestreift hat, steht er wieder auf, geht vor dem Spiegel über dem Schreibtisch in die Hocke, fährt sich mit der Hand durchs Haar, schiebt die Brieftasche in die hintere Hosentasche und dreht sich zuletzt zu mir um.
»Wie sehe ich aus?«
»Gut.« Ich schaue auf die Uhr. »Ich habe einen Wagen bestellt.« Damit stehe ich auf.
Er starrt mich an, als würde er mich erst jetzt richtig sehen. »Wow. Du siehst … unglaublich aus.«
»Danke.« Ich deute auf den Ausweis, der auf dem Schreibtisch liegt. »Vergiss den da nicht, sonst könntest du den Abend als Abstinenzler verbringen müssen.« Ich bin schon auf dem Weg zur Tür.
»Ist das für ihn okay? Du weißt schon. Ähm. Ich hab vergessen, wie dein Freund heißt …«
Ich bleibe stehen und drehe mich zu ihm um. »Matt. Ich habe ihm noch nichts von dir erzählt. Warum auch? Wir stehen noch ganz am Anfang, wir sehen uns erst seit Kurzem. Bestimmt hat er damit kein Problem.«
»Solange du sicher bist?«
Ich zucke mit den Schultern. »Er ist ein toller Typ. Ich glaube, ihr beide würdet euch gut verstehen. Mach dir keine Sorgen.«
Im Lift hoffe ich, dass uns unten niemand über den Weg läuft. Ich will nicht, dass in letzter Sekunde irgendwelche unerbetenen Mitläufer zu uns stoßen. Ich lenke mich ab, indem ich zum Schein mein Handy kontrolliere. Während wir auf den Ausgang zusteuern, handle ich aus einem Impuls heraus, weil es sich einfach richtig anfühlt: Ich hake mich bei Nate ein. Wir gehen einfach weiter, als wäre es die natürlichste Sache der Welt. Er protestiert nicht – im Gegenteil, er lächelt mich sogar kurz an.
Ein Portier hält uns die Tür auf und wünscht uns einen »wunderschönen Abend«.
»Den werden wir haben«, antworte ich, während wir die Stufen hinunter zu einer wartenden schwarzen Limo gehen.
»Was ist das denn?« Nate sieht mich fragend an.
»Die kostet kaum mehr als ein Taxi, darum dachte ich, wir könnten genauso gut stilvoll beim Venetian vorfahren. Sie hatten ein Sonderangebot. Wenn wir wollen, kann uns der Fahrer später durch die Stadt fahren. Ich weiß nicht, wie du dazu stehst, aber ich würde gern mehr von Vegas sehen.«
»Guten Abend, mein Name ist Jackson«, begrüßt uns der uniformierte Chauffeur und hält uns den Schlag auf.
»Danke«, sage ich und steige als Erste ein.
Wie bestellt, warten eine Flasche Champagner und zwei Gläser auf uns. Ich schenke ein Glas voll, reiche es Nate, und gieße dann auch mir etwas ein.
»Ich glaube nicht, dass der Champagner im Angebot eingeschlossen war«, kommentiert er und nimmt einen Schluck.
»Natürlich nicht.« Ich lache. »Aber ich konnte nicht widerstehen, als sie ihn als Zusatzleistung angeboten haben. Du musst allerdings schnell trinken, es ist nicht weit zum Venetian. Prost!«
Ich lasse mich in die Polster sinken, und Nate tut es mir nach, woraufhin Jackson sich umdreht und meint, wir sollten uns »besser anschnallen.«
Als wir von dem 08/15-Hotel wegfahren, in dem unsere Crew untergebracht ist, und in den Lärm und die gleißenden Lichter des frühen Abends eintauchen, bin ich einen Moment unkonzentriert und rutsche in Nates Richtung. Sofort setze ich mich wieder zurecht. In meiner Brust erglüht eine kaum zu zügelnde Begeisterung, als wir auf unser Ziel zusteuern, das ich sorgfältig ausgewählt habe. Es wird unter den zehn romantischsten Hotels in Vegas gelistet.
Nate steht die Nacht seines Lebens bevor.