20
Ich stecke fest.
Zum einen bin ich in einem Job gefangen, der meine innere Uhr verrücktspielen lässt. Das ist noch okay, wenn ich an zivilisierte Orte mit funktionierendem WLAN , anständigen Fitnessräumen und nicht allzu extremen Wetterausschlägen fliege, aber nicht, wenn ich auf einen wildfremden Kontinent verschleppt werde und geplagt von Jetlag die halbe Nacht wach liege. Trotzdem sehe ich nicht ein, warum ich kündigen sollte, nur um Nate das Leben einfacher zu machen.
Und zum anderen bin ich an einen Halb-Ehemann gefesselt.
Inzwischen sind sechs Wochen seit unserer Hochzeit vergangen, und wir sind immer noch verheiratet, wenigstens vor dem Gesetz. Zum Glück für mich liegen die Dinge nicht so einfach, wie Nate es sich vorgestellt hat, aber er arbeitet gemeinsam mit James verbissen daran, mich in die Wüste zu schicken. James Harrington schickt mir regelmäßig Mails mit Begriffen wie Anfechtbarkeit, Unzurechnungsfähigkeit , mangelnde Beurkundungsfähigkeit – womit offenbar nicht ich, sondern Nate während unserer Hochzeit gemeint sein soll –, Erklärung des Nicht-Vollzugs. Wie bitte? Ich soll für ihn lügen? Ich schreibe Nate eine Nachricht, ob er möchte, dass ich auf einem amtlichen Dokument lüge, doch er antwortet nicht.
Es kann bis zu drei Wochen dauern, die Ehe in Nevada annullieren zu lassen, falls wir gemeinsam dorthin reisen, und bis zu einem Jahr hier in England. Wie man sich denken kann, würde ich England den Vorzug geben. Mails über Mails werden verfasst. Ich fühle mich wie ein Kind in einem Sorgerechtsstreit.
Mein Leben beschränkt sich auf einen endlosen Kreislauf: Arbeiten und Nates Nachrichten ignorieren, so gut es nur irgendwie geht.
Mein Rückflug von Washington landet mit vierzig Minuten Verspätung an einem diesigen Morgen. Wir müssen über Heathrow kreisen, bis sich der Frühnebel halbwegs verzogen hat.
Diese Jahreszeit wird für mich immer mit dem Grauen vor einem neuen Schuljahr verbunden sein. Spürbar kühlere Luft – das letzte Ende des Sommers, in das sich schon herbstliche Frische mischt – weht mir zusammen mit einem intensiven Kerosingeruch entgegen, als meine Schuhe über die Metallstufen der Flugzeugtreppe weit draußen auf dem Rollfeld klappern. Die gesamte Crew versammelt sich vor den Turbinen am linken Flügel und wartet auf den Bus.
Die startenden Flugzeuge röhren über uns hinweg, kaum dass sie von der Startbahn abgehoben haben. In zwei Stunden treffe ich mich mit meiner Vorgesetzten, und wir sprechen über meine neue Rolle als Sicherheitsbotschafterin. Ich hätte den Termin auch auf morgen verschieben können, doch dann hätte ich dafür eigens nach Heathrow fahren müssen. Bald werde ich nur noch in Teilzeit fliegen, weil meine neue Aufgabe zum Teil ein Bürojob ist. Und ich feile inzwischen an einem brandneuen Aktionsplan. Allerdings kann ich, solange die Planungen noch in den Kinderschuhen stecken, nicht so viel dafür tun, dass meine Zeit damit ausgefüllt wäre. Die beste Nachricht ist, dass mein Wohnungskauf vorankommt und dass ich mit etwas Glück in wenigen Wochen in mein neues Zuhause ziehen werde.
Nachdem ich durch die Passkontrolle bin, meine Einnahmen aus den Duty-free-Verkäufen abgegeben und unkontrolliert den Zoll passiert habe, mache ich mich auf den Weg in Richtung Kantine, wo ich auf Amy warte. Gestern hat sie mich angerufen, ganz plötzlich nach Wochen ohne ein Lebenszeichen. Sie hat einen neuen Freund, zählt also eindeutig zu den Frauen, die glauben, dass sie keine Freundin brauchen, solange sie einen Mann haben. Sie wird es schon noch lernen.
»Hi«, sage ich lächelnd, als sie auf mich zukommt. Ich küsse sie einmal auf jede Wange und freue mich aufrichtig, sie zu sehen. Ich habe den Frischvermähltenblues.
»Hi«, sagt sie. »Holst du dir etwas zu essen?«
Ich schüttle den Kopf. Während sie zur Theke geht, um ein Panino zu bestellen, bleibt mir das Herz stehen, als ein blonder Pilot vorbeikommt. Allerdings ist es nicht Nate, er kann es nicht sein, denn ich habe mich vergewissert: Er ist in Antigua. Ich schaue mich verunsichert um. Ich fühle mich irgendwie unwohl. Ich richte meinen Blick auf das Rot und Blau eines Flugzeugs der Air France hinter den bodentiefen Fenstern.
Atme. Irgendwas stimmt nicht. Amy hat mich zwar ganz normal begrüßt, aber sie wirkt angespannt, sogar nervös. Irgendwas liegt in der Luft.
»Also, erzähl mir mehr über diesen mysteriösen neuen Mann«, sage ich, als sie mir gegenüber Platz nimmt.
»Da gibt es nicht viel zu erzählen. Ich habe ihn auf einem Lagos-Flug kennengelernt.« Sie beißt in ihr Panino.
»Also auch einer von uns?«
Sie sieht mich an. »Ja. Ein Pilot.«
»Und wie heißt er?«
»Rupert. Rupert Palmer.«
»Ach.« Ich schlucke. »Und ist er nett?«
»Sag du es mir.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Doch, das tust du. Du kennst einen seiner engsten Freunde. Und zwar sehr gut.«
Dieser verfluchte Nate mit seinem riesigen Gefolge an Freunden. »Wirklich?«
»Du hast uns in die Wohnung von seinem Freund mitgenommen. Stell dir vor, wie überrascht ich war, als wir ihn neulich Abend besuchten und mir aufging, dass ich schon mal in seiner Wohnung war.« Pause. »Mit dir.«
Ich erstarre.
»Ich habe dich nicht verraten, falls du dir deswegen Sorgen machst«, sagt sie, als müsste ich ihr dafür dankbar sein.
Wenn du nicht weißt, was du sagen sollst, sag nichts. Ich sehe Amy an.
»Ich schätze, demnach verbirgt sich hinter Nick Nate? Warum hast du gelogen?«
»Es war nicht direkt gelogen. Es ist kompliziert.«
»Das ist es ganz bestimmt. Also erzähl.«
»Es ist eine lange Geschichte, und eigentlich geht sie niemanden außer uns etwas an.«
»Hör zu, ich mag Rupert. Ich mag ihn wirklich sehr. Und ich will keine Geheimnisse vor ihm haben. Wenn es einen guten Grund gab, weshalb du uns damals zu Nate mitgenommen hast, dann gut. Aber du hast irgendwas in seinem Zimmer gesucht.«
Ich starre sie an, diese selbstgerechte Kuh. Warte nur ab, bis Rupert dich sitzenlässt und du dich an meiner Stelle wiederfindest.
»Du hattest einen Schlüssel, Juliette.«
»Inzwischen nicht mehr. Wenn du es genau wissen willst, wir waren erst vor Kurzem wieder für ein paar Wochen zusammen. Nate ist ein komplizierter Mensch.«
»Ach. Inwiefern kompliziert?«
Ich beuge mich vor und nehme ihre Hand. »Bitte erzähl keinem von diesem Abend. Du brauchst ihm überhaupt nichts zu sagen. Mit Nate und mir ist es endgültig vorbei, und so soll es auch bleiben. Falls du ihn je wieder siehst oder besuchst, dann erwähne mich einfach gar nicht.« Ich versuche, so zu klingen, als wäre ich den Tränen nahe.
»Okay. Entschuldige. Es war nur komisch, in eine Wohnung zu kommen, in der ich schon mal war, und dabei das Gefühl zu haben, dass ich es keinem erzählen darf. Ich fragte Nate, ob seine Fische gefüttert werden müssten, wenn er unterwegs ist, und er meinte, sie könnten wochenlang ohne Pflege auskommen.«
»Danke. Ich bin dir so dankbar für deinen Beistand.« Ich lächle schwach. Dennoch … ich traue ihr nicht. Eine echte Freundin hätte sofort für mich Partei ergriffen und mir schon von der Wohnung aus eine Nachricht geschickt, um sich meine Version der Geschichte anzuhören.
Amy ist keine Freundin.
»Ich muss los«, sage ich. »Ich habe einen wichtigen Termin bei meiner Managerin.«
Wir verabschieden uns, ich gehe zu Lorraines Büro und nehme davor Platz. In meinem Kopf wüten Zorn und Hass. Bella. Nate. Amy. Die Welt ist voller Verräter, jeder denkt nur an sich selbst. Es gibt keine Loyalität. Wenn sich überhaupt jemand für mich interessiert, dann nur, um kurzfristig die Leere in seinem Leben auszufüllen. Amy ist genauso ein Judas wie Bella.
Ich hasse es, vor Büros warten zu müssen. Das weckt Erinnerungen an damals, als ich zwei Tage nach der Feier vor dem Büro der Rektorin warten musste.
Es war ein Albtraum.
Als wäre es nicht schlimm genug, völlig ignoriert zu werden, nachdem ich das erste Mal mit einem Mann geschlafen hatte, ging ich während der Freistunde am Nachmittag zur Apotheke, um mir die Pille danach zu besorgen. Ich hatte mir – anfangs – einzureden versucht, dass schon nichts passiert war. Aber als mir der Gedanke, dass in mir ein echtes Baby wachsen könnte, immer mehr zusetzte, wurde mir klar, dass ich etwas unternehmen musste. Ich konnte nicht riskieren, zur Schulschwester zu gehen; ich hätte die Fragen, das Verhör, die Bloßstellung einfach nicht ertragen. Doch ich machte einen Fehler, einen ausgesprochen dummen Fehler. Offenbar war ich so aufgeregt, so verletzt, dass ich nicht mehr klar denken konnte, denn anders kann ich mir nicht erklären, wie ich die Schachtel in den Abfallkorb unseres Schlafsaals werfen konnte. Natürlich hat sie dort jemand entdeckt – und wie nicht anders zu erwarten, war es Bella. Sie hatte schnell alle »Verdächtigen« eliminiert, bis nur noch ich übrig war.
Vor der Rektorin stritt ich alles ab. Ich stritt es gegenüber jedem ab. Aber das nutzte nichts. Und danach begriff ich, wie sehr ich mich geirrt hatte, wenn ich bis dahin geglaubt hatte, dass es mir schlecht ging. Nichts verbreitet sich so schnell und gut wie schlechte Neuigkeiten. Nichts außer grausamen Gerüchten. Ich versuchte, alles auszublenden, alles zu ignorieren. Die Beleidigungen, das Kichern, die widerwärtigen Zettel in meinem Pult, die Fotos von Frauen, deren Körper in Magazinen verunglimpft worden waren und die sie ausgeschnitten hatten, nur um deren Gesichter mit einem Foto von mir zu überkleben. Ich rief mir immer wieder ins Gedächtnis, dass ich schon so lange durchgehalten, die Einsamkeit schon so lange ertragen hatte und bald erlöst wäre. Aber es war schwer. Eines Tages hielt ich es nicht mehr aus und schrie meine Mitschülerinnen an, mich in Ruhe zu lassen.
Hinterher war ich stolz, weil ich endlich für mich eingestanden war. Doch meine Genugtuung war von kurzer Dauer, denn gegen jemanden wie Bella konnte ich unmöglich gewinnen. Mädchen wie sie können über Mädchen wie mich bestimmen. Wer mit uns befreundet sein darf, wer mit uns spricht oder nicht, sogar wie die Lehrer uns sehen. Und das setzte mir mehr und mehr zu. Aber eines konnte ich mir noch schwerer eingestehen: Nur ein Wort von Bella, trotz alledem, und ich wäre ihr, natürlich, auf ewig dankbar gewesen.
Ich hätte Bella alles verziehen, um ein Teil ihrer Welt zu werden. Einfach alles.
Doch vorerst waren meine Möglichkeiten beschränkt. Ich hätte gern mit der Hausmutter über alles gesprochen, doch so oft ich auch vor ihrer Tür wartete, nie brachte ich den Mut auf anzuklopfen. Ich hatte Angst, dass sie für Bella Partei ergreifen oder meine Sorgen mit ihrer Standardphrase abtun würde: »Schlaf dich richtig aus, morgen früh sieht die Welt schon wieder ganz anders aus.«
Stattdessen überlegte ich mir, wie ich ihnen allen das Maul stopfen und Bella für alles bezahlen lassen könnte.
»Juliette?« Lorraine steht in der Tür zu ihrem Büro. Sie winkt mich herein. »Danke, dass Sie gekommen sind«, sagt sie zwischen zwei Bissen von ihrem Sandwich. »Entschuldigung, ich hatte keine Zeit zum Mittagessen.«
»Bitte beachten Sie mich gar nicht«, sage ich. Tut sonst auch niemand.
»Ich möchte mit Ihnen den Trainingsplan durchgehen.« Sie tippt mit dem Zeigefinger ihrer freien Hand auf der Tastatur herum. »Wobei …« Sie zögert. »Es gab in jüngster Zeit ein paar Beschwerden über Ihr Verhalten an Bord. Ungeduldig. Wenig motiviert . Gibt es etwas in Ihrem Privatleben, das sich nachteilig auf Ihre Arbeit auswirkt?« Lorraine legt das Sandwich beiseite und sieht mich an.
»Mein Freund hat mir einen Antrag gemacht. Doch als es ernst wurde, ging alles den Bach runter. Kalte Füße.«
»Das tut mir leid. Danke, dass Sie so ehrlich waren. In diesem Fall will ich diese Kommentare übersehen, vorausgesetzt, wir bekommen keine weiteren …«
Lorraines Stimme verschwindet im Hintergrund, nur einzelne Wörter dringen bis zu mir durch. »Probezeit … Verantwortung … Vertraulichkeit …«
Meine neue Aufgabe kommt gerade rechtzeitig. Wenn ich erst in einer Vertrauensposition bin, habe ich Zugriff auf mehr Informationen.
Und Wissen bringt Macht.
Vierzehn Tage später müssen Amy und ich wieder ins Trainingszentrum. Sie lässt sich auf andere Flugzeuge umschulen, weil sie auf Kurzstrecken- und Inlandsflüge wechselt. Wahrscheinlich hat es damit zu tun, dass sie dann im selben Bereich arbeitet wie Rupert.
Wenn sich unsere Pausen überschneiden, treffen wir uns in der Kantine und plaudern etwas, doch Amy wirkt reserviert. Sie verschweigt mir etwas. Das merke ich daran, wie sie zögert, bevor sie meine Fragen beantwortet.
Am dritten Tag endet mein Vormittagsprogramm früher als geplant. Obwohl ich keinen Hunger habe, gehe ich in die Kantine. Ich sitze hier in der Falle, denn das Trainingszentrum liegt mitten im Nirgendwo, direkt neben einer Zufahrtsstraße. Ich entdecke Amy, doch sie ist nicht allein. Neben ihr sitzt Rupert. Er hat die Hand auf ihrem Knie.
Ich beobachte sie aus der Ferne, während ich meinen Kaffee bezahle, dann gehe ich direkt auf sie zu.
Amy schreckt zusammen, als ich an ihren Tisch trete. »Hi! Juliette!« Sie wird rot.
»Hi«, begrüßt mich auch Rupert. »Ich habe gehört, du nennst dich jetzt Juliette, nicht mehr Lily?«
Ich setze mich ihnen gegenüber. »Mir war nach einer Veränderung. Viele Kollegen verwenden einen anderen Namen.«
»Ja, aber die meisten tun es, weil ihr echter Name schwer auszusprechen ist und sie es satt haben, falsch angesprochen zu werden«, bemerkt Amy spitz.
Ich ignoriere sie und lächle Rupert an. »Was machst du hier?«
»Ich bin im Simulator«, sagt er. Routinetraining für Piloten. Rupert sieht kurz auf sein Handy. »Tja, ich muss wieder in die Tretmühle. War nett, dich wieder mal zu sehen … Juliette.«
»Gleichfalls«, antworte ich lächelnd.
Ich sehe nicht weg, als Rupert Amy auf die Wange küsst. Sie schaut ihm nach, bis er verschwunden ist, und kann mir, als sie sich mir wieder zuwendet, kaum in die Augen sehen. Schlampe. Sie hat mit ihm über mich geredet. Ich weiß gar nicht, warum ich überhaupt mit ihr befreundet sein wollte. Ihre Augen stehen zu weit auseinander, und ihr Lächeln hat etwas Feixendes. Wie konnte ich sie nur so falsch einschätzen? Wie konnte ich mir eine weitere Bella zur Freundin nehmen?
»Wann bist du heute fertig?«, frage ich.
»Um fünf. Aber wir machen heute nur noch Tür-Übungen, da ist hoffentlich früher Schluss.«
»Ach, schade, ich bin frühestens um sechs fertig. Sonst hätten wir was trinken gehen können.«
»Ja. Wirklich schade«, lügt sie, ohne dass sie sich auch nur die Mühe machen würde, Bedauern zu heucheln.
Sie schaut auf ihre Uhr. Ich öffne meine Tasche und hole mein Handy heraus. Es hat sich in der kleinen Reißverschlusstasche verhakt, in der ich meine Schlüssel, die Tabletten und meinen Pass verstaue. Ich reiße fester daran, und dabei fällt etwas klappernd auf den Tisch. Es blitzt gelb auf. Homer-Simpson-gelb. Scheiße. Ich knalle die Hand darauf, aber Amy sieht mich schon fassungslos an.
»Ist das meiner?«, fragt sie.
»Der da?« Ich strecke ihr die Hand mit dem Schlüssel hin. »Glaube ich nicht. Aber ehrlich gesagt, weiß ich gar nicht, wofür er ist.«
»Das ist meiner. Unser Ersatzschlüssel ist verschwunden. Hannah dachte, ich hätte ihn eingesteckt und umgekehrt.«
»Glaubst du wirklich? Du kannst ihn gern mitnehmen und ausprobieren. Falls er nicht passt, gibst du ihn mir wieder, wahrscheinlich ist mir nur gerade entfallen, wofür er ist.«
»Das ist mein Schlüssel.«
»Meinetwegen. Wenn du meinst.«
»Wie kommt er in deine Tasche?«
Ich sehe ihr in die Augen. »Keine Ahnung.«
»Du warst das«, haucht sie. »Du warst in unserer Wohnung. Wenn ich nicht da war.«
»Mach dich nicht lächerlich«, sage ich. »Das ist nur ein Schlüssel!«
»Ja, aber du steckst gern fremde Schlüssel ein, richtig? Und gehst heimlich in anderer Leute Wohnungen.«
»Dein Tonfall gefällt mir nicht.«
»Ich könnte zur Polizei gehen.«
Ich begreife nicht, wieso die Menschen immer glauben, sie müssten nur »zur Polizei gehen«, und sofort würde sich jedes Problem wie durch Zauberhand lösen. Und zwar ausschließlich in ihrem Sinn.
»Und ihnen was erzählen? Dass ich einen Schlüssel für die Wohnung meines Ehemannes hatte und dass dein Schlüssel – wie du behauptest – in meiner Tasche lag? Wir sind Freundinnen, Amy. Freundinnen.«
»Ehemann?«
»Ja. Nate und ich haben geheiratet. Nachdem in deinem Kopf nur noch für dich und deinen Rupert Platz ist und sonst für gar nichts mehr, hast du deine Freundinnen völlig vernachlässigt. Also lauf doch zur Polizei.« Ich stehe auf. »Mach dich nur lächerlich. Nate hat mir vor ein paar Monaten einen Antrag gemacht, und ich habe ja gesagt. Und jetzt versuche ich wiedergutzumachen, was ich damit angerichtet habe. Früh gefreit, ausgiebig gereut. Wie ich schon gesagt habe, ist Nate ein komplizierter Mensch. Du kennst ihn kein bisschen.«
Für wen hält sie sich eigentlich?
Die ganze Heimfahrt über koche ich vor Wut. Ich muss mich anstrengen, vernünftig zu fahren, am liebsten würde ich einfach das Gaspedal durchdrücken. Zweimal werde ich angehupt, einmal muss ich scharf bremsen, weil ich vergessen habe, vor einem Kreisverkehr das Tempo zu drosseln.
Zu Hause hole ich meine Listen heraus. Zu blöd, dass ich nicht einen ganzen Satz Voodoo-Puppen gekauft habe, als ich Gelegenheit dazu hatte, aber wahrscheinlich könnte ich auch online Nachschub bestellen.
Bis zum Morgengrauen bin ich damit beschäftigt, die Aktionspläne für meine drei Erzfeinde anzupassen.
Am nächsten Morgen zwinge ich mich ins Trainingszentrum zurück, mein Kurs geht noch einen Tag. Amy hat noch zwei vor sich. Ich nehme mir vor, ihr den ganzen Vormittag aus dem Weg zu gehen, aber als sie in der Kantine so tut, als würde sie mich nicht sehen, flammt mein Zorn wieder auf.
Ich kann es auf den Tod nicht ausstehen, wenn man mich ignoriert. Glaubt sie vielleicht, ich würde sie am Pferdeschwanz ziehen? Das ist doch lächerlich.
Nach meinem Kurs werfe ich am Empfang einen Blick auf die Teilnehmerlisten. Amy hat heute erst eine Stunde nach mir Schluss. Ich gehe in Richtung Trainingsbereich und bete, dass der Code, den ich Brian und Dawn endlose Male eingeben sah, nicht geändert wurde.
Er ist noch gültig! Ich drehe mich kurz um.
Ich trete in den Trainingsbereich, als hätte ich jedes Recht, dort zu sein, und passiere dabei das Kurzstreckenmodell. Rufe erschallen, Amys Gruppe macht gerade Evakuierungsübungen.
Ich linse durch die Zugangstür am Heck einer Boeing 777. Sie wird mit einem Keil offen gehalten. Die Sitze in der Economy sind verlassen bis auf ein paar verstreute Habseligkeiten. Bestimmt drängen sich alle an den vorderen Ausgängen. Mit angehaltenem Atem trete ich ein. Ein Notalarm heult auf, im nächsten Moment wird er ausgeschaltet, und ich höre, wie eine Flugzeugtür aufgezerrt wird und die Crew Anweisungen brüllt.
Ich suche nach Amys Tasche; in der fünften, die ich aufmache, werde ich fündig. Ich schalte ihr Handy aus und stecke es ein.
Dann verschwinde ich wieder durch die Zugangstür und verstecke mich in einem Lagerraum zwischen Babywiegen, Sauerstoffflaschen, Rettungswesten und Notfallpacks.
Ich warte ab.
Zwanzig Minuten später kommt Amys Gruppe, angeführt von zwei Ausbildern, aus der Trainingsmaschine. Amy ist eine der letzten. Sie öffnet ihre Tasche, wühlt darin herum und stutzt. Ich wette, sie kann es kaum erwarten nachzuschauen, wie viele Nachrichten ihr wunderbarer Rupert heute geschickt hat. Sie dreht wieder um und geht noch mal ins Übungsmodell.
Ich zähle bis dreißig und gehe dann zur Zugangstür. Ich schaue mich um. Dann ziehe ich den Keil heraus, schließe die Tür und verschwinde, sobald die Tür mit einem Klicken ins Schloss gefallen ist. Auf dem Weg zwischen Kantine und Empfang lasse ich Amys Handy in einem toten Winkel der Überwachungskameras auf den Boden fallen. Ich melde mich am Eingang ab und spaziere über die Straße zum Parkplatz.
Während der Heimfahrt stelle ich mir vor, wie Amy allein in der Dunkelheit hockt. Alle Flugzeugtüren sind verriegelt. Ganz gleich, wann die Security sie finden wird – sobald man feststellt, dass sie sich nicht abgemeldet hat –, es wird auf jeden Fall viel zu früh sein, jedenfalls für meinen Geschmack. Aber hoffentlich wird Amy, während sie in dem gespenstischen Friedhof der Economy hockt, gefangen in dem Übungsflugzeug, in der es zum Zeitvertreib nur die Sicherheitsmappen für die Fluggäste gibt, endlich Zeit finden, sich Gedanken darüber zu machen, wie schäbig sie sich verhalten hat.
Ich finde einen Parkplatz direkt vor der Schuhschachtel.
Auf meinem Handy sind zwei verpasste Anrufe. Einer von meinem Makler, der andere vom Notar.
Es sind gute Nachrichten; ab Halloween werde ich Nates Nachbarin sein.