22
Wie vereinbart treffe ich Nate am nächsten Tag vor seinem Haus.
»Du überraschst mich immer wieder aufs Neue«, sagt er, während er sich auf den Beifahrersitz meines Wagens sinken lässt. »Wann hast du Auto fahren gelernt?«
»Vor Kurzem.«
»Wird das für mich eine Fahrt ins Blaue, oder wärst du so gütig, mir einen Hinweis zu geben?«
»Das ist zu kompliziert zu erklären. Du musst mir schon vertrauen.«
Nate verschränkt die Arme wie ein trotziges Kind und schaut aus dem Fenster.
Ich folge den Schildern zur M3 und fahre Richtung Süden. Jeder meiner Gesprächsversuche wird mit einem Grunzen oder Schulterzucken abgewehrt, darum wähle ich Guns N’Roses als Musik. Als Erstes läuft »Paradise City«, der Song, der auf dem Weg zu unserer Trauung lief.
Wir kommen an der Autobahnraststätte vorbei und brauchen dann noch mal anderthalb Stunden durch den New Forest bis zu meinem alten Dorf. Ich passiere die alte rote Telefonzelle, die eisern an ihrem Platz auf der kleinen Rasenfläche steht. Gleich gegenüber halte ich an, direkt vor Sweet Pea Cottage. Die Fenster zieren keine Vorhänge, was umso mehr auffällt, als der Efeu fehlt. Er wurde gnadenlos abgehackt, nackt und entblößt steht das Haus nun da. Die Hecken wurden gestutzt und sind niedriger, als ich sie je gesehen habe. Ganz eindeutig haben die neuen Eigentümer nichts zu verbergen, wahrscheinlich wollen sie sich ins Dorfleben einbringen. Viel Glück dabei.
Ich zeige auf das Haus. »Hier habe ich früher gewohnt.«
Er wirft einen kurzen Blick auf das Grundstück und dreht sich dann wieder mir zu. »Bitte sag jetzt nicht, dass du mich hierhergeschleppt hast, um in alten Erinnerungen zu schwelgen. Wenn du denkst, dass ich meine Meinung ändern werde, wenn ich dich erst besser kennengelernt habe, dann vergiss es. Ich war mit diesem Treffen nur einverstanden, weil du versprochen hast, dass du kooperieren würdest, wenn ich dich anhöre.«
»Ich will dir was zeigen. Komm mit.«
Ich öffne die Autotür, steige aus und strecke mich. Nate steigt ebenfalls aus und bleibt mit dem Gesicht zum Cottage stehen. Ich frage mich, was er wohl denkt und ob er sich vorzustellen versucht, wie ich damals hier gewohnt habe. In dem vergeblichen Versuch, mich gegen den bitterkalten Wind abzuschirmen, lege ich einen Schal um und knöpfe die Jacke zu.
»Hier entlang«, sage ich und überquere die Straße.
Nate folgt mir den schmalen Weg entlang, der am Cottage vorbei nach hinten führt. Sprödes braunes Laub, winzige Zweige und Abfall – ein Schokoladepapier und ein Pizza-Flyer – umtanzen unsere Knöchel, als der Wind auffrischt. Durch ein paar Lücken im Holzzaun kann ich immer wieder einen Blick in den Garten werfen. Der Dschungel wurde teilweise gerodet; die Mitte des Grundstücks sieht aus, als hätten Riesenmaulwürfe eine Party veranstaltet.
Das alte Grundstück hinter Sweet Pea Cottage gibt es nicht mehr. Nach dem Verkauf wurde es gedrittelt, und um eine kleine Sackgasse herum wurden drei Neubauten errichtet. Die Gärten liegen offen da, es gibt keine Zäune oder andere Grundstücksbegrenzungen. Ich bleibe vor dem mittleren Haus stehen. In der Einfahrt steht ein Kombi mit einem gelben Baby-an-Bord-Sticker auf der Heckscheibe, aber zu sehen ist niemand.
»Ich hatte einen Bruder.«
Nate sieht mich an, dann wieder geradeaus. »Was hat dieses Haus damit zu tun?«
»Nichts. Dieses Haus stand damals noch nicht. Aber genau hier hatte er einen Unfall. Früher war hier ein verfallenes altes Bauernhaus, das einem Pärchen gehörte. Sie hatten davon geträumt, Ferienwohnungen daraus zu machen, aber bei der Renovierung ging ihnen das Geld aus. Ein paar Jahre hangelten sie sich noch durch, aber offenbar war das Grundstück im Unterhalt zu teuer, und der Pool wurde nie fertiggestellt. Es war nur eine Betonschüssel, aber wir Kinder wurden magnetisch davon angezogen, auch wenn sich am tiefen Ende schleimiges, trübes Regenwasser sammelte und an den Seitenwänden Moos wuchs.« Ich muss lächeln, weil plötzlich eine Erinnerung aufsteigt. »Wir dachten uns Geschichten über eine ›Teichwelt‹ mit lauter Fröschen und Libellen in den Hauptrollen aus.«
»Ist er ertrunken?«
Ich nicke.
»Wie alt war er?«
»Es war kurz nach seinem vierten Geburtstag.«
»Das tut mir leid. Wie ist es passiert?«
Ich schaudere. »Es ist eisigkalt hier. Ganz anders als damals, an dem Tag, als es passiert ist. Es war Sommer …«
Offenbar versinke ich länger in jener Zeit
, als mir bewusst ist, denn irgendwann bohrt Nate nach.
»Und?«
»Meine Mum litt unter … Stimmungsschwankungen. Und wenn sie wieder mal in Trauer versank, musste ich William nach draußen bringen. Bis es vorbei war. Bis sie sich wieder im Griff hatte.«
»Du warst bestimmt nicht besonders alt?«
»Zehn.«
»Dann war das, was passiert ist, nicht deine Schuld.«
Es war
meine Schuld.
»Er konnte so lächeln«, fahre ich statt einer Antwort fort, »dass ich mich manchmal richtig gern um ihn gekümmert habe. Er konnte mich glücklich machen, selbst wenn ich sauer war, weil ich auf ihn aufpassen musste. William Florian Jasmin.« Ich lächle. »Aber er war auch verwöhnt. Meine Mutter hat ihn verhätschelt, in dem durchsichtigen Versuch, ihr Versagen als Mutter zu kompensieren. Er konnte richtig eklig werden, wenn er seinen Kopf durchsetzen wollte – manchmal war das nicht auszuhalten.«
»Sieht aus, als hätte eure Mutter ein Faible für Blumennamen gehabt.« Er verstummt kurz. »Aber wie traurig. Was für eine Tragödie für euch alle.«
»Sie hat mir mal erzählt, in ihrer frühesten Erinnerung wäre sie mit ihrer Mutter beim Blumenpflücken gewesen. Offenbar war sie auch ziemlich kapriziös.« Wieder schaudere ich.
»Warum hast du mir erzählt, du wärst ein Einzelkind?«
»Was hätte ich denn sonst erzählen sollen?« Ich halte kurz inne. »Mir reicht es. Lass uns fahren.«
Auf dem Weg zurück zum Auto schildere ich ihm das traurige Ende in der Kurzfassung, die ich bisher allen erzählt habe. »Er rutschte aus und fiel in den Pool. Es ging alles ganz schnell. Ich hatte gar keine Zeit, irgendwas zu unternehmen.«
Nate beugt sich zu mir und drückt meine Hand, als ich den Sicherheitsgurt einklicke. Wie gut, dass ich auf meinen Instinkt gehört und ihn hierhergebracht habe.
Über schmale Nebenstraßen fahre ich zum sechs Meilen entfernten Friedhof. Ab und zu kommen wir an zurückgesetzten Farmen vorbei, und mir dringt der unverkennbare Gestank von Dung in die Nase. Mehrere Minuten hängen wir hinter einem Traktor fest, der eine Heuballenpresse angehängt hat und uns bei jedem Schlagloch mit Strohhalmen besprenkelt. Ich bin ziemlich frustriert, denn immer wenn ich ihn überholen will, taucht ein Auto auf der Gegenspur auf.
Nate schweigt die gesamte Fahrt über.
Der Friedhof ist von einer hohen Steinmauer umgeben. Das schwarze, schmiedeeiserne Tor steht offen, ich fahre hindurch, werde aber plötzlich unschlüssig. Vielleicht war das doch keine so gute Idee, denn es ist mein erster Besuch seit der Beerdigung. Ich parke, rühre mich aber nicht vom Fleck, bis Nate seine Tür öffnet. Das Klicken der entriegelten Tür holt mich abrupt in die Gegenwart zurück.
Ich weiß die genaue Stelle nicht mehr. Zu viele Jahre habe ich mich bemüht, die Erinnerungen auszublenden. Wir gehen zwischen schiefen Grabsteinen, Bäumen und einer Mischung aus frischen und verwelkten Blumen die Wege ab, bis sich unsere Hartnäckigkeit auszahlt und uns an sein Grab führt. Es liegt am Rand des Friedhofs neben einer Eibenhecke.
William Florian Jasmin 1996 –2000.
Schweigend stehen wir vor dem Stein.
Ich liebe dich bis zum Mond und zurück.
Die Inschrift habe ich ausgesucht.
Der Wind weht durch die Äste über uns, und Laub fegt über meine Stiefel. Ich höre Geflüster. Wenn ich an Geister glauben würde, würde ich ihm Hallo sagen.
»Warum hast du mir das nie erzählt?«
»Dafür waren wir nicht lang genug zusammen.«
Schweigend fahren wir beide vom Dorf weg und folgen den Hauptstraßen in Richtung London.
Nate schaut aus dem Fenster, scheinbar in Gedanken versunken.
»Denkst du manchmal an deine Schulzeit zurück?«, frage ich.
»Inwiefern?«
»Warst du gern in der Schule?«
»Alles in allem schon.«
»Ich nicht.«
»Na ja, in deinem Leben ist damals eine Menge passiert. Das ist verständlich, schätze ich.«
»Hast du dich zum Rauchen rausgeschlichen? Oder heimlich Alkohol reingeschmuggelt? Partys gefeiert?«
Er sieht mich an. »Nur die offiziellen Sachen – bei Abschlussfeiern, so was. Und ich war natürlich auf den Sommer- und Winterbällen. Irgendwann hat jeder angefangen zu rauchen und zu trinken. Warum?«
»Hat mich einfach interessiert.« Ich mache eine kurze Pause. »Wenn ich hier bin, werden bei mir immer alte Erinnerungen wach. Hattest du viele Freundinnen?«
»Nicht besonders viele.«
Ich sehe ihn an – warte ab, ob er noch mehr sagt –, doch er schaut wieder aus dem Fenster und zieht sich in seine Gedanken zurück.
So wie ich mich in meine.
An einer Raststätte halte ich zum Mittagessen.
Wir stehen in einer langen Schlange, und ich starre durch die Thekenscheibe auf Sandwichs, Muffins und Kuchen mit Kürbisglasur und Spinnen- oder Hexendekoration. Mir wird übel, wenn ich nur an Essen denke, trotzdem nehme ich ein Tütchen Chips zu meinem Kaffee. Weil das Restaurant gesteckt voll ist, müssen wir uns einen Tisch mit einem älteren Paar teilen.
Als sie ihren Kaffee ausgetrunken haben und gehen, isst Nate erst einmal sein Schinkensandwich mit Senf auf, bevor er einen Vorstoß wagt. »Das muss furchtbar für dich und deine Familie gewesen sein.«
»Es war wirklich
schwer.« Ich suche nach den richtigen Worten.
»Verheerend.«
Er beugt sich über den Tisch und nimmt meine beiden Hände. »Haben sich deine Eltern deswegen getrennt?«
»Wahrscheinlich wäre das irgendwann sowieso passiert – mein Vater war viel unterwegs –, aber vielleicht hat die Trauer es beschleunigt. Meine Mutter hat immer gern getrunken, schon davor.« Ich stocke kurz, weil mir aufgeht, dass ich dadurch weniger attraktiv wirken könnte. »Es ist nicht vererblich«, ergänze ich, obwohl er sicher kaum etwas darüber weiß. »Ich habe viel über das Thema gelesen.«
Ich ziehe meine Hand unter seiner heraus. Seine Bemühungen, Mitgefühl zu zeigen, sind mir merkwürdig unangenehm. Ich weiß, dass Nate Schwierigkeiten
mit seinen Eltern hat. Seine Mutter kann recht kühl sein, sein Vater ist ungeduldig; er hat Nate und Bella immer wieder erklärt, dass es »keine Option ist, Zweitbester zu sein«. Allerdings vergleicht Nate wahrscheinlich in diesem Moment seine Schwierigkeiten mit meinen und kommt zu dem Schluss, dass er im Grunde keine hatte oder hat.
Absolut keine.
»Tut mir leid, dass dir das alles widerfahren ist. Hattest du Beistand? Betreuung? Irgendwas in der Art?«
Ich schüttle den Kopf.
»Die Sache ist nur, mir will immer noch nicht einleuchten, was das mit unserem Dilemma zu tun haben soll.«
Sein Tonfall wird weicher. Jetzt geht es los, und sein nächster Satz bestätigt meine Befürchtungen.
»Auch wenn ich das mit deinem Bruder weiß …«, er hält kurz inne und sammelt zweifellos alles an Takt, was er aufbringen kann, »… also, ändert es nichts daran, was getan werden muss.«
»Wir haben uns so gut verstanden. Warum bist du in Vegas mit mir losgezogen, wenn du mich nicht mehr in deiner Nähe erträgst?«
»Lily, ich mag
dich. Du bist attraktiv und kannst ausgesprochen
witzig sein. Aber mit jemandem einen Abend zu verbringen ist was anderes, als einen Bund fürs Leben zu schließen. Darum fühlt sich das, was sich zwischen uns abgespielt hat, so falsch an.« Er legt eine Pause ein, als würde er genau überlegen, wie er das Folgende am besten ausdrückt.
»Ich weiß, was du sagen willst«, komme ich ihm zuvor, »aber warum
willst du uns keine Chance geben?«
Er öffnet den Mund zu einer Antwort, aber ich gebiete ihm mit erhobener Hand Einhalt.
»Ich bin noch nicht fertig. Ich habe eine Wohnung in der Nähe von deiner gekauft und werde bald einziehen. Ich bitte dich nur um sechs Wochen. Sechs Wochen mit dir zusammen – meinetwegen nur als Freunde. Lass uns alles ganz langsam angehen. Wenn du danach noch genauso empfindest, werde ich dich endgültig freigeben, und du wirst gar nicht merken, dass wir Nachbarn sind, darauf gebe ich dir mein Wort.«
Er antwortet nicht.
»Und?«
»Du machst Witze, richtig?«
»Nein.«
»Warum in meiner Nähe? Du könntest überall leben. Überall.
Wieso nicht in Nizza, Barcelona, Amsterdam, Dublin? Das tun viele Kollegen. Du solltest ausnutzen, dass du einen Job hast, der dir so tolle Möglichkeiten eröffnet.«
»Warum lebst du
nicht im Ausland?«
»Weil ich mich entschieden habe, in Richmond zu leben. Ich. Allein. Das hat nichts mit dir oder sonst jemandem zu tun. Du hättest wirklich nicht ausgerechnet in meine Nachbarschaft ziehen müssen.«
»Sechs Wochen, mehr will ich gar nicht.«
»Und was dann? Dann ziehst du einfach wieder weg?«
»Also, das weiß ich nicht, ich könnte dabei viel Geld verlieren. Mal
sehen. Aber ich kann dir versprechen, dass ich dich dann in Frieden lasse.«
»Kann ich das schriftlich haben?« Er klingt nicht so, als würde er das ironisch meinen.
»Wenn du mir nicht vertraust …«
Als würde ich das tun.
Nate hilft beim Umzug in meine neue Wohnung. Auch wenn ich das Gefühl habe, dass er dabei vor allem mich und mein neues Heim im Auge behalten will – ein merkwürdiger Rollentausch –, nutze ich sein Angebot. Immerhin hat er mir auch nur zu gern geholfen, damals nach Reading zu ziehen.
Nachdem ich die Schuhschachtel ausgeräumt habe und die Agentur die Wohnung abgenommen hat, überreiche ich mit einem tief empfundenen Lächeln die Schlüssel. Wir beladen unsere beiden Autos, und ich verlasse ohne einen Blick zurück den Ort, an dem ich nie leben wollte.
Nate folgt mir zu meiner neuen Wohnung. Sie liegt schräg links von seiner, nicht mal eine Minute zu Fuß entfernt. Ich halte mit dem Wagen direkt davor und schalte die Warnblinkanlage ein, während Nate meine Habseligkeiten aus dem kleinen Kofferraum und vom Rücksitz wuchtet. Obwohl es zwei Stockwerke bis unters Dach sind, arbeitet er klaglos und ist überhaupt ausgesprochen hilfsbereit.
Der Job ist in nicht einmal zwei Stunden erledigt. Vielleicht hasse ich Nate doch nicht so sehr, wie ich dachte.
Auch wenn das Apartment winzig ist, muss ich Möbel kaufen. Ein Bett – zurzeit schlafe ich auf einer Luftmatratze –, einen Tisch, ein paar Stühle und ein Sofa. Außerdem brauche ich noch diverse Küchenutensilien. Dafür ist die Wohnung bereits geschmackvoll mit einem cremefarbenen, weichen Teppichboden ausgelegt, und die
Küche ist mit Waschmaschine und Geschirrspüler ausgestattet.
Wir bestellen Sushi, setzen uns auf den Boden und essen mit unseren Stäbchen aus dem Karton. Es ist, als wäre nie irgendwas Schlimmes zwischen uns vorgefallen. Unser Zusammensein wirkt vollkommen natürlich, und ich bin optimistischer als je zuvor. Dennoch gibt es noch einen Punkt, den ich ansprechen sollte. Er soll schließlich zuerst meine Version hören.
»Dein Freund Rupert ist mit einer Kollegin zusammen, mit der ich damals im Training war. Offenbar war sie neulich mit ihm bei dir.«
»Wie heißt sie?«
»Amy.«
»Ach ja, ich erinnere mich.«
»Sie ist ein bisschen labil. Sie hat ganz merkwürdig reagiert, als ich dich erwähnte. Meinte, sie würde es eigenartig finden, dass ich nie zuvor von dir gesprochen hätte – obwohl wir zu der Zeit gar nicht zusammen waren. Wieso hätte ich das also tun sollen?«
Er zuckt mit den Achseln. »Mir kam sie ganz normal vor.«
»Kein Wunder. Wer gibt schon zu, dass er ein bisschen durchgedreht ist? Niemand, den ich kenne. Jedenfalls hoffe ich, dass Rupert bald merkt, wie sie wirklich ist.«
»Rupert kann auf sich selbst aufpassen, da bin ich sicher.«
Ich gebe etwas Wasabi in die Sojasoße und rühre um, bevor ich ein Lachssushi hineinstippe.
Schweigen breitet sich aus.
Nate kommt mir nun doch ein wenig angespannt vor, so als würde er mir hier nur etwas vorspielen. Ich stelle ihn auf die Probe. »Hast du deiner Familie erzählt, dass du verheiratet bist?«
Er sieht mich an, als wäre ich wahnsinnig. »Nein. Meine Mum wäre außer sich.«
»Und wenn sie mich kennenlernen würde?«
»Nein.«
Ich lasse das Thema fallen.
Als Nate etwas von Gehen sagt, versuche ich nicht, ihn zu halten und stelle auch keine neuen Forderungen. Stattdessen danke ich ihm, verabschiede ihn gut gelaunt und lasse ihn ziehen. Ich weiß, dass er nur Zeit schindet, bis er sein »Es tut mir so leid, Lily, ich habe wirklich mein Bestes versucht« vorbringen kann. Darum werde ich ganz neu ansetzen.
Ich weiß, dass Nates Vater einen hohen Posten bei einer Bank hatte, inzwischen aber in den Vorruhestand gegangen ist und sich seither ausschließlich für Golf interessiert, während seine Mutter durch die feine Gesellschaft flattert, Tennis spielt oder schwimmt oder anderen Hobbys nachgeht. Daneben sitzt sie auch im Vorstand eines Vereins für Kunst und Kultur, der Fotografen stellt, die umsonst ihre Dienste anbieten, wie ich bei Google erfahre. Ich grabe ein bisschen tiefer. Anscheinend ist die Mutter von Nate und Bella – Margaret – ebenfalls eine passionierte Fotografin. Sie hat ein kleines Studio nahe ihrem Haus in Canford Cliff, einem exklusiven Teil von Poole, in den sie vor zehn Jahren gezogen sind. Geöffnet ist Montag- und Donnerstagvormittag.
Ich schaue ihr Haus auf Google Earth an. Ein Prachtbau mit atemberaubendem Blick auf die Bucht, das ist auf den ersten Blick zu erkennen. Ich zoome näher und entdecke eine weite Terrasse mit großem Gartentisch. Ich stelle mir vor, dass dort viele Familientreffen stattfinden. Ich meine vor mir zu sehen, wie Nate dort sitzt, den Ausblick genießt und Anekdoten von seinen jüngsten Reisen erzählt.
Ich schreibe Miles eine Nachricht.
Kann es nicht erwarten, dich wiederzusehen. X
Keine fünf Minuten später schreibt er zurück.
Nächsten Donnerstag? Gleicher Ort?
Wenn ich ohnehin in der Gegend sein werde, kann ich auch zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen und einen Abstecher machen, um Margarets Arbeiten zu bewundern. Und da ich offenbar gerade zum Planen aufgelegt bin, bestelle ich Möbel: ein Bett, ein kleines Sofa und mehrere Überwürfe und Kissen.
Ich werde mich hier richtig häuslich einrichten, zum ersten Mal in meinem Leben wirklich Wurzeln schlagen.
Am nächsten Morgen stehe ich früh auf und lege meine Uniform mit besonderer Sorgfalt an. Heute ist mein erster Arbeitstag in meiner neuen Teilzeitposition. Ich werde für das Mitarbeitermagazin fotografiert und muss blendend aussehen. Hoffentlich wird Nate durch dieses Foto bei jedem Arbeitsantritt daran erinnert, dass ich immer noch da bin.
Ich komme pünktlich und wende mich gleich an den Chef des Promotionteams, einen ernsten Mann, der auch als Flugbegleiter arbeitet, aber offensichtlich mit Machthunger gesegnet ist. Er hat seine lächerlich hohen Erwartungen nach Dringlichkeit sortiert, und man spürt sofort seinen verzweifelten Wunsch, seinen Job als Steward an den Nagel zu hängen, um vermeintlich größere und wichtigere Aufgaben zu übernehmen.
Abgesehen von mir – der Sicherheitsbotschafterin – sind noch drei weitere Angestellte hier, denen diverse Auszeichnungen verliehen wurden – für Spendenaktionen, Gesundheit und Teambildung.
Der Tag ist wenig lustig, sondern anstrengender als damals während der Ausbildung. Mit einer Neonjacke und Sicherheitsbrille ausstaffiert, werden der Fotograf und ich aufs Flugfeld geschickt und mit einem Bus in einen Hangar gekarrt. Ich muss über eine wacklige Eisentreppe in
das Flugzeug klettern, wo wir ständig den Wartungstechnikern aus dem Weg gehen müssen. Im Flugzeug soll ich neben diversen Gefahrenquellen posieren, die sich auftun können: ein Stück Teppich, das aus dem Boden ragt, ein Schild mit der Aufschrift »Kein Glas« an der Abfallpresse. Und ich muss den Handlauf an der Treppe zum Oberdeck korrekt
umfassen.
Im Center wird dann ein Teamfoto aufgenommen; lächelnd stehen wir Seite an Seite. Soweit ich feststellen kann, liegt der entscheidende Vorzug meiner neuen Rolle darin, dass wir einen Büroarbeitsplatz gestellt bekommen – auch wenn wir ihn teilen müssen. Von nun an kann ich auf möglicherweise vertrauliche Informationen über meine Kollegen zugreifen, denn mit meinem neuen Passwort stehen mir nun wesentlich mehr Bereiche unserer IT
offen. Abgesehen von regelmäßigen Treffen sollen wir eigenverantwortlich die Mitarbeiterzeitschrift ebenfalls regelmäßig mit positiven Meldungen versorgen, unsere Kollegen zu größerem Sicherheitsbewusstsein anhalten, ihr Gesundheitsbewusstsein und die gegenseitige Achtsamkeit fördern.
Der aufstiegsgeile Manager eröffnet uns, dass das Teamfoto aufs Cover kommt und das schlechteste – von mir – auf der dritten Seite landet. Es ist grauenvoll. Ich stehe im Cockpit, neben dem Sockel in der Mitte, und halte mit besorgter Miene eine leere Tasse hoch. Darunter kommt später die Bildunterschrift, besonders vorsichtig zu sein, wenn im Cockpit Getränke serviert werden. Der Artikel selbst wird sich um Technik und Statistiken drehen – irgendwas Ödes wie Defekte und neue Komponenten oder etwas in der Art.
Es ist so schön, in mein neues Heim zurückzukommen. Ich streife die Schuhe ab, schalte das Radio ein, suche einen Kanal, der nonstop Hits spielt, und hole vorübergehend meine Pinnwand aus ihrem Versteck,
um sie innen in einem Küchenschrank aufzustellen. Solange Nate mich ab und zu besuchen kommt, kann ich sie schlecht irgendwo sichtbar aufhängen. Auch wenn er nicht so regelmäßig auftaucht, wie ich es gern hätte, beweist er zumindest guten Willen. Das muss ich ihm lassen.
Daneben habe ich noch einen Karton, der nicht ins Blickfeld geraten darf; der mit meinen privatesten Besitztümern. Manche davon werde ich Nate irgendwann zeigen, wenn ich zu dem Schluss komme, dass er in der richtigen Verfassung ist.
Mein Handy vibriert. Miles.
Können wir unser Treffen verschieben? Arbeit
Muss einen Kunden in Tokio besuchen, bin eine Woche unterwegs.
Frustrierend. Man kann sich nett mit ihm unterhalten, ich habe die Stunden mit ihm genossen. Auch wenn Bella noch nichts ahnt, befriedigt mich die Affäre ungemein. Ich soll in drei Tagen nach Singapur fliegen. Ich checke die Tauschlisten. In meiner Position sind zwei Tokioflüge verfügbar, aber einer davon wird nur gegen einen Flug in die Staaten getauscht. Ich schreibe die andere Kollegin an.
Während ich auf ihre Antwort warte, schreibe ich Miles zurück.
Wahnsinn! So ein Zufall! Heute habe ich erfahren, dass ich auch nach Tokio muss. Ich soll ein neues Hotel prüfen. Ich melde mich, wenn alles klappt J
Das muss Schicksal sein.
Im selben Moment, in dem ich Miles’ begeisterte Antwort bekomme, trifft eine Mail ein, dass mein Tauschangebot akzeptiert wurde. Genau wie ich ihm geschrieben habe – das ist Schicksal. Ich freue mich darauf, länger mit ihm zusammen zu sein; sodass ich ihn – ganz unschuldig und
behutsam – ausforschen kann, wo Bellas Wunden und Ängste liegen.
Mit Geduld und Spucke fängt frau alles, was sie will.