23
Im achtundzwanzigsten Stock eines Hotelhochhauses mit berühmtem Ausblick auf die Rainbow Bridge warte ich auf Miles. Die Bar ist schummrig beleuchtet. Kleine Kerzen flackern auf den schiefergrauen Tischen und akzentuieren die Großstadtlichter vor den riesigen, bodentiefen Panoramafenstern. Das Rot, Weiß und Blau der Brückenbeleuchtung spiegelt sich auf den tanzenden Wellen. Das Geklimper eines Flügels liefert die diskrete Begleitmusik zu den Unterhaltungen der schick gekleideten Einheimischen, zwischen denen vereinzelte Grüppchen von Westlern sitzen.
Ich langweile mich.
Der Rest meiner Crew ist in eine Karaoke-Bar abgezogen, die ausgesprochen nett klang, und eine Kollegin, mit der man wahrscheinlich viel Spaß haben kann, ist mitgegangen. Wenn ich Zeit gehabt hätte, hätte ich mich gern angeschlossen. Ich brauche nach dem Bruch mit Amy eine Ersatzfreundin.
»Tut mir so, so leid«, sagt Miles, als er neben mir auftaucht. »Mein Termin hat länger gedauert.«
Es folgt eine peinliche Pause, in der er augenscheinlich überlegt, wie er mich begrüßen soll. Wir sind zwar weit weg von zu Hause, doch Miles wirkt für seine Verhältnisse extrem sensibel dafür, dass wir unter Menschen sind. Wir küssen uns hastig auf die Wangen, dann setzt er sich neben mich.
»Was möchtest du trinken?«, fragt er.
Ich greife nach der Cocktailkarte und studiere die englischen Bezeichnungen, die praktischerweise neben den japanischen
Schriftzeichen abgedruckt sind. Ich entscheide mich für einen Green Destiny: eine Mischung aus Wodka, Gurke, Kiwi und Apfelsaft. Miles nimmt eine Margarita.
»Mein Hotel ist ziemlich weit von hier«, eröffne ich ihm. »Es stört dich doch hoffentlich nicht, dass ich mir erlaubt habe, eine kleine Übernachtungstasche mitzubringen.«
Er rutscht kurz auf seinem Sitz herum. »Wahrscheinlich ist das nur vernünftig. Glaubst du, dass Nick sich melden wird?«
»Wohl kaum.« Ich lege meine Hand auf seine. »Keine Angst, wenn Bella anruft, verziehe ich mich. Ich schließe mich im Bad ein und halte mir die Ohren zu.«
Er lacht. »Wahrscheinlich wird sie nicht anrufen.«
»Hat sie sich viel vorgenommen, während du unterwegs bist?«
»Bella hat immer viel vor.«
Ich bleibe still, warte auf eine Ausführung, doch er beißt nicht an.
Miles lockert seine Krawatte und sinkt in die Polster.
Nach dem zweiten Drink nimmt er mich mit auf sein Zimmer. Sobald die Tür hinter uns zufällt, gehen wir uns an die Wäsche.
Ich genieße jede einzelne Sekunde, in der ich Bella mit ihm betrüge.
Miles ist eingeschlafen.
Das Zimmer riecht nach kaltem Rauch – ein extrem ungewohnter Geruch, seit das Rauchen in den meisten Hotels weltweit verboten wurde. Ich zwinge mich, mindestens zwanzig Minuten zu warten, ehe ich mich umsehe. Sein Tablet und Handy sind mit einem Passwort geschützt. Ich wage ein paar Versuche – mit Bellas Geburtstag und dann Miles’ Geburtstag, den ich aus seinem Pass habe –, aber ohne Erfolg. Dafür ist sein Aktenkoffer offen. Ich blättere in ein paar Geschäftsunterlagen, aber die sind öde. Seine Brieftasche enthält nichts von Interesse, außer einem Foto mit Eselsohr von ihr.
Ihr Lächeln hat sich nie verändert. Jedes Mal, wenn ich es sehe, muss ich an eine lächelnde Psychopathin denken.
Außerdem stoße ich auf eine Liste in Bellas unverkennbarer Handschrift; schon bei dem Anblick wird mir flau. Bella kringelt und schwingt ihre Großbuchstaben in barocken Schnörkeln. Unter ihren Wünschen (oder Befehlen) – zum Beispiel, dass Miles die Flitterwochen zu organisieren hat – hat Bella mehrere mögliche Locations für ihre Hochzeitsfeier aufgelistet. Momentan favorisiert sie eine Villa im italienischen Stil in einem privaten Park nahe dem Haus ihrer Eltern, dazu hat sie nach Präferenz geordnet mehrere Hotels benannt.
Ich hole mein Handy heraus und mache Fotos von allem, dann setze ich mich aufs Bett und starre die Wand an. Ich kann einfach nicht abschalten. Wenn Bella hier wäre, würde sie wahrscheinlich tief und fest schlafen – ohne eine Sorge in der Welt, von ihren dämlichen Hochzeitsplänen mal abgesehen. Ich überlege, wie ich ihre kostbaren Arrangements durcheinanderbringen könnte. Dieses Glück steht ihr einfach nicht zu. Karma ist definitiv ein Mythos, wenn jemand, der es so wenig verdient hat wie Bella, auf dem Silbertablett ein glückliches Eheleben beschert bekommt, während Menschen wie ich sich Tag für Tag abstrampeln müssen.
Manchmal frage ich mich, was passieren wird, wenn Bella und ich uns wiederbegegnen. Ich male mir aus, was sie dann sagen wird und was ich sage. Die Situationen wechseln zwar, doch jedes Mal gehe ich als Siegerin daraus hervor. Ich bin diejenige, die endlich Gehör bekommt. Ich habe Skifahren, Tennis und Reiten gelernt. Ich habe all die Orte besucht, die sie gern aufsucht, ich habe dafür gesorgt, dass ich die meisten Menschen kenne, mit denen sie sich vernetzt – wenn nicht persönlich, so doch wenigstens über die sozialen Medien. Ich bin bereit, ein Teil ihrer Welt zu werden, sodass sie
mit mir
befreundet sein will und nicht andersherum.
Miles wälzt sich im Schlaf. Ich sollte etwas für Bella in seinem Koffer
hinterlassen, ein kleines Andenken, das ihr etwas zum Grübeln gibt, wenn er das nächste Mal auf Dienstreise geht. Etwas, das sie neurotisch reagieren lässt, weniger selbstsicher und ein bisschen demütiger, sodass Miles den Respekt vor ihr verliert. Es muss subtil sein – Miles darf nicht ahnen, dass ich etwas damit zu tun habe. Ich sprühe etwas Parfüm in die Innenverkleidung seines Koffers und hoffe, als ich den Deckel schließe, dass der Duft seine Sachen durchdringt. Ideal wäre es, wenn Bella seinen Koffer auspackt, aber das bezweifle ich.
Ich gehe ins Bad. Ich werfe einen kurzen Blick in seinen ledernen Kulturbeutel. Es liegt kaum etwas darin: Deo, Lippenbalsam, Haargel, Nagelschere. Ich setze mich auf den Badewannenrand, studiere die japanische Toilettenarmatur und versuche zu ergründen, was die Bilder auf den verschiedenen Knöpfen bedeuten sollen. Nach weiterem Abwägen schleiche ich zurück ins Zimmer und öffne den Schrank. Ich taste seine Jackentaschen ab. Leer. Ich durchsuche meine Handtasche, finde aber nichts, was ich zurücklassen könnte, ohne dass Miles mich verdächtigen würde. Das Parfüm wird genügen müssen.
Vorerst.
Dafür mache ich ein Foto von Miles und erstarre, als der Blitz losgeht, aber er rührt sich nicht mal.
Ich lege mich ins Bett, ganz an den Rand, und verfolge, wie die rot beleuchteten Ziffern auf der Nachttischuhr wechseln.
Ich male mir aus, dass Nate seine Haltung mir gegenüber ändert, was mir wiederum erlauben würde, ihn wieder zu lieben statt zu hassen. Wir könnten ganz von vorn beginnen und diesmal alles richtigmachen: daten, uns verlieben, ein kompletter Neuanfang. Meine Träume werden komplexer, verästeln sich immer weiter, bis ich merke, wie ich wegdrifte.
Ein Wecker reißt mich aus dem Schlaf. Ich beuge mich über die
Bettkante und schaue auf mein Handy; es ist sieben Uhr morgens Tokioter Zeit.
Miles setzt sich auf, streckt sich und verschwindet im Bad. Als ich höre, wie die Dusche angeht, folge ich ihm und stelle mich zu ihm. Er hat nichts dagegen. Nate könnte sich in Sachen Enthusiasmus einiges von ihm abschauen.
Nachdem wir beide angezogen und fertig sind, gehen wir durch den Korridor zur Executive Lounge, wo es Frühstück gibt.
Die meiste Zeit ist Miles damit beschäftigt, auf seinem Handy herumzutippen.
»Und was sollen wir heute unternehmen?«, frage ich und spieße mit der Gabel ein Melonenstückchen auf.
»Wie meinst du das?«
»Na ja, ich dachte, wir könnten in den Kaiserpalast gehen oder …«
»Ich muss arbeiten«, unterbricht er mich. »Du doch bestimmt auch?«
»Ja, natürlich, aber ich habe ein paar Stunden Zeit. Also, was meinst du?«
Er sieht mich an. »Ich bin nicht zum Sightseeing hier, außerdem war ich hier schon mal mit …« Er verstummt.
»Schon okay, du kannst ihren Namen ruhig aussprechen«, ermutige ich ihn.
»Juliette, bitte entschuldige, aber ich bin beschäftigt. Ich habe heute einen Termin nach dem anderen.«
»Na gut. Und wie sieht es mit Abendessen aus?«
»Da habe ich leider auch keine Zeit. Ich bin mit meinem Kunden zum Essen verabredet.«
»Könnte ich dir nicht Gesellschaft leisten? Als Kollegin?«
»Das wäre keine gute Idee.«
»Aber morgen fliege ich schon zurück.«
»Dann müssen wir uns ein andermal – zu Hause – treffen. Sag nur Ort
und Zeit, und keine zehn Pferde werden mich abhalten können.« Sein Lächeln wirkt gezwungen.
»Dann mache ich mich jetzt auf den Weg.«
Er schaut auf sein Handy.
Ich fühle mich abgewiesen und stehe auf.
»Entschuldige, Juliette. Aber das hier duldet keinen Aufschub.«
»Natürlich, ich verstehe.«
Er steht auf und küsst mich auf die Wange.
Bevor ich aus dem Raum gehe, drehe ich mich noch einmal um, doch er sieht mir nicht nach. Er starrt schon wieder auf sein Handy.
Auf dem zwölfstündigen Flug nach Hause, der scheinbar endlos dauert, koche ich vor mich hin. Ich liege in einer der unteren Kojen, verstecke mich vor der Welt und liste im Schein meiner Taschenlampe auf, inwiefern Nate und Miles sich gleichen.
Als ich die Haustür aufschließe, muss ich einen Haufen von Post, Pizzaflyern und Werbesendungen zur Seite schieben. Ich bücke mich und hebe alles auf. Offenbar sind die Nachbarn von unten nicht da, denn sonst legen sie alles, was an mich adressiert ist, in einem ordentlichen Stapel auf der untersten Treppenstufe ab. Auch nachdem ich meine Koffer nach oben geschleppt habe, kann ich mich nicht ausruhen, denn ich muss noch warten, bis mein Bett geliefert wird.
Es wird am Spätvormittag gebracht, und die Möbelpacker helfen mir sogar, den kleinen Doppelbettrahmen aufzubauen. Als sie gegangen sind, kämpfe ich mit einem flaschengrünen Bettbezug, den ich neulich von Nate mitgenommen habe – nicht sein Lieblingsset –, ziehe zwei identische Kissenbezüge auf und schüttele sie, bevor ich sie auf meine neue Schlafstatt fallen lasse.
Allmählich sieht das Apartment mehr nach mir aus. Die kahlen
Wände brauchen Bilder, und so suche ich unter meinen Lieblingsbildern jene von Nate aus, die ich rahmen lassen möchte.
Der folgende Tag ist ein Donnerstag, einer der Tage, an denen Nates Mutter in ihrem Studio ist.
Es ist leicht zu finden. Ich parke in einer nahen Allee und trete durch die Glastür ein.
Sie ist da, allein, und sitzt hinter einem schlichten Schreibtisch. Sie sieht älter aus als auf den Fotos, aber sie strahlt eine Eleganz und Unnahbarkeit aus, die ich noch von früher kenne, als ich sie ab und zu an unserer Schule sah. Den Rücken durchgestreckt, sitzt sie auf einem kleinen Hocker und liest in einer Zeitschrift. Ihre Brille ist farblich auf das dunkelblaue Oberteil abgestimmt. Einen kurzen Moment habe ich das Gefühl, dass sie wenig Ähnlichkeit mit ihrer Tochter hat – und viel mehr mit ihrem Sohn –, doch dann öffnet sie den Mund. Und selbst mit geschlossenen Augen würde ich sofort erkennen, dass die beiden verwandt sind.
Mein Puls beschleunigt sich.
»Guten Morgen.« Sie sieht von ihrer Zeitschrift auf, einer Kunstbroschüre, wie ich feststelle. »Ich stehe zu Ihrer Verfügung, falls Sie Fragen haben.«
»Danke«, antworte ich lächelnd. »Ich bin schon mehrmals hier vorbeigefahren, und jedes Mal ist mir dabei Ihr Schaufenster aufgefallen. Ich wollte schon längst mal hereingeschaut haben. Und heute habe ich mir vorgenommen, mir die Zeit dafür zu nehmen.«
Ich schlendere durch den Raum. Ich verstehe nicht viel von Kunst oder Fotografie, aber ich habe mir aus dem Internet ein paar nützliche Tipps geholt, bevor ich losgefahren bin. Offenbar hören es Fotografen gern, wenn man anerkennt, wie viel Arbeit in den Bildern steckt, oder ganz allgemein das Motiv lobt.
Ich bekunde mein Interesse an einem der teureren Bilder – einem Schwarz-Weiß-Foto von einer Regatta.
»Das hier gefällt mir besonders gut. Die verstreuten dreieckigen weißen Segel sind mir gleich ins Auge gestochen. Wo wurde es aufgenommen?«
Sie strahlt. »Letztes Jahr in der Bucht. Das ist der Ausblick von unserem Wohnzimmerfenster.«
Das hatte ich fast vermutet. »Ich möchte meinen Ehemann damit überraschen.«
»Ich hoffe, es gefällt ihm genauso gut. Segelt er?«, fragt sie, während sie das Bild einpackt.
»Nicht oft. Aber er hatte auch kaum Zeit dafür. Wir sind erst ein paar Monate verheiratet. Er hat es so eilig, dass wir in Vegas geheiratet haben, nur weil er nicht warten wollte.«
»Wie spannend.«
»Es war ganz eindeutig der schönste Tag in meinem Leben. Das einzige Problem dabei ist, dass er nicht weiß, wie er es seiner Familie erzählen soll.«
Sie sieht aus, als wäre sie es nicht gewohnt, dass Fremde ihr so intime Dinge beichten.
Ich könnte es ihr erzählen. Ich könnte ihr hier und jetzt erzählen, wer ich bin. Mit einem einzigen Satz könnte ich Nate zwingen, sich zu mir zu bekennen. Ich könnte ihr schildern, wie brutal ihr Sohn mir das Herz gebrochen hat, und ihr den Beweis zeigen, dass ich nicht fantasiere; dass ihr Sohn mich geheiratet und dann rücksichtslos seine Meinung geändert hat. Ich könnte ihr berichten, was er mir alles über sie erzählt hat, etwa, dass sie seinen Namen ausgesucht hat, weil er ihr so gut gefiel, obwohl Nate Julian geheißen hätte, wäre es nach ihrem Mann gegangen.
»Das ist sicher nicht einfach für Sie«, sagt Margaret. »Und was ist mit Ihren Eltern?«
»Die leben leider nicht mehr.«
»Oh«, sagt sie und überreicht mir das verpackte Bild. Zweifellos sonnt sie sich insgeheim in dem Wissen, dass ihr eigenes Leben frei von derart geschmacklosen Problemen ist.
»Er sollte es ihnen unbedingt sagen«, ergänzt sie, während ich schon auf dem Weg zur Tür bin. »Viel Glück!«
Sie hat recht; das sollte er.
Draußen schreibe ich ihm eine Nachricht.
Ich glaube, deine Mutter wäre begeistert, das von uns zu hören. Ich habe sie eben kennengelernt. Sie ist bezaubernd. Ich habe richtige Gewissensbisse, weil ich ihr nicht sagen konnte, dass ihre Schwiegertochter vor ihr steht.
Sekunden später läutet mein Telefon. Erstaunlich, wie schnell Nate auf eine Nachricht reagieren kann, wenn es ihm wichtig ist.
Ich schalte mein Handy aus.