26
»Oh mein Gott«, sagt er. Dann sieht er wieder auf das Bild.
»So hätte es mit uns weitergehen sollen. Du kannst deine Mitmenschen nicht nach Lust und Laune mies behandeln. So was gehört sich nicht. Das sagt selbst deine Mutter.«
»Du hast versprochen, meine Familie da herauszulassen.«
»Ich habe dir ein Geschenk aus ihrem Studio gekauft.«
Ich nehme den Rahmen mit dem Regattabild heraus und halte ihn hoch: Beweisstück A, damit er es in Ruhe ansehen kann. Danach gehe ich in die Hocke und lehne das Bild gegen die Wand.
»Was hast du ihr erzählt?«
»Ich habe ihr die Wahrheit erzählt, nämlich dass ich in Vegas den Mann geheiratet habe, den ich liebe, dass er aber gleich darauf kalte Füße bekam und seinen Eid ungeschehen machen wollte. Und damit nicht genug, er hat auch seiner Familie nichts von mir erzählt. Sie ist der Meinung, dass du das unbedingt tun solltest.«
»Lily. Es tut mir leid. Ich verstehe dich, wirklich. Ich habe dich verletzt. Du dachtest, wir würden heiraten und Kinder bekommen. Mach mich los. Dann können wir reden. Ganz in Ruhe. Versprochen.«
Zorn explodiert in meinem Körper, durchfährt meinen Geist. Wenn es etwas gibt, was ich an Nate schon immer gehasst habe, dann ist es sein selbstgefälliger Tonfall – als wäre er
absolut rational und vernünftig und ich eine Irre, ein verwirrtes Wesen. Das treibt mich unweigerlich zur Raserei. Ich bewahre nur mit größter Anstrengung die Fassung.
»Deine Bilanz an gehaltenen Versprechen ist nicht so toll, als dass ich dir glauben würde.«
»Ich muss auf die Toilette, und ich bin sicher, dass wir beide einen Kaffee vertragen könnten. Ich verspreche dir, Lily, dass dir nichts passieren wird, wenn du mich losmachst.«
Das aber kann ich nicht, so wie die Dinge liegen. Er wird mich hochkant aus der Wohnung werfen – bestenfalls. Was schlimmstenfalls passieren wird, will ich mir gar nicht ausmalen.
»Ich kann dich nicht sofort losmachen, aber mach dir bitte keine Sorgen. Ich habe einen Plan.«
Ich kann an seinen angespannten Gesichtsmuskeln ablesen, dass er extrem wütend ist, aber er schafft es ganz gut, seinen Zorn zu zügeln, während er garantiert insgeheim überlegt, wie er mich manipulieren könnte. Er wird so mit mir reden, wie man bewährtermaßen mit Flugzeugentführern redet – besänftigen und sich zum Schein verständnisvoll geben.
Ich hole einen Schraubenzieher und mein iPad heraus. Ich starte das heruntergeladene Video, lehne das Pad gegen die Wand und beginne an der Türklinke im Bad zu schrauben. Ich brauche mehrere Minuten, bis ich den goldenen Knauf mit dem Sperrriegel abgeschraubt und losgemacht habe.
»Was willst du denn damit?« Nates Stimme klingt gefasst.
»Ich treffe Vorbereitungen, damit ich dich losmachen kann.«
»Was? Willst du mich stattdessen hier drin einsperren? Du kannst dich nicht darauf verlassen, was irgendwelche Youtube-Amateure posten. Ich könnte hier drin wirklich festsitzen!«
Ich falle ihm ins Wort. »Das wirst du nicht. Aber du musst dafür kooperieren. Du wirst dir deine Freiheit verdienen müssen.«
»Lily! Das ist lachhaft, völlig absurd!«
Ich drehe mich lächelnd zu ihm um. »Genau: absurd! Geradezu grotesk! Willst du dich jetzt frei bewegen können oder nicht?«
Er antwortet nicht.
»Dachte ich mir. Unterbrich mich nicht, während ich arbeite. Jetzt
muss ich das Video noch mal neu starten.«
Er tritt gegen die Wandverkleidung. Ich sehe ihn böse an.
Den Sperrriegel auf die andere Seite der Tür umzusetzen ist gar nicht so einfach, wie es aussieht, doch nach zwei Anläufen habe ich es geschafft. Als letzten Schritt muss ich nun noch den Mechanismus blockieren. Ich schiebe einen fetten Pellet Fischfutter ins Schloss. Erledigt. Ich teste mein Werk. Es funktioniert! Jetzt kann ich ihn einsperren.
Nate reißt immer wieder an dem Heizungsrohr – als würde das Metall aus der Wand brechen, wenn er nur fest genug daran zieht.
Das Fenster im Bad geht zur Hausseite, nicht in Richtung Green. Ich sichere die Fensterschlösser und stecke die Schlüssel ein. In dem – hoffentlich – unwahrscheinlichen Fall, dass es ihm gelingt, jemanden durch das Milchglas hindurch auf sich aufmerksam zu machen, wird es nicht meine Schuld sein, dass das Schloss kaputtgegangen ist. Und was die Handschellen angeht – die kommen aus einem Sexshop. Da sollen die Leute ihre Fantasie spielen lassen.
Ich gehe in die Küche und dann zurück ins Bad, um ihm etwas zu essen zu bringen. Nichts, was er besonders gern mag, aber im Moment hat er keine liebevolle Zuwendung verdient. Während ich großzügig ein Päckchen Käsecracker und mehrere Äpfel auspacke, überrumpelt Nate mich und greift mit seinem freien Arm zu. Er bekommt mich am Bein zu fassen und reißt mich zu Boden. Ich klammere mich mit aller Kraft an der Badewanne fest, während er meine linke Wade festhält und versucht, mich zu sich heranzuziehen. Als ich mein Bein aus dem eisernen Griff losreißen will, krallt er sich noch fester. Ich trete rücksichtslos mit dem rechten Fuß nach ihm, aber Nate lässt nicht locker, also trete ich wie wild nach. Diesmal lässt er los und sackt schwer keuchend zurück.
Ich keuche ebenfalls, während ich meine Gedanken zu ordnen versuche. Mit größtmöglichem Abstand zu ihm beuge ich mich vor und
reiche ihm ein billiges Tablet, das ich kürzlich gekauft habe. Es enthält eine sehr persönliche Botschaft an ihn. Ich habe Stunden damit zugebracht, einen kleinen Film aufzunehmen, zu schneiden und zuletzt den passenden Titel zu finden: Der Anfang.
»Ich möchte, dass du dir das ansiehst, bitte.«
»Was ist das?« Er schaut auf den Bildschirm.
»Etwas sehr Wichtiges. Eine Botschaft von mir. An dich. Sie kommt aus tiefstem Herzen.«
Er zeigt keine Regung. Es ist genau diese Art von Verhalten, die mich zu solchen Maßnahmen gezwungen hat – seine absolute Null-Reaktion, wenn ich meine Gefühle auszudrücken versuche. Darum habe ich durchaus Hoffnung, dass meine Idee funktionieren könnte. Ich gehöre nicht zu den Menschen, die glauben, dass es genügt, ein Diätbuch zu kaufen,
um automatisch weniger zu essen und mehr Sport zu treiben, aber ich glaube sehr wohl, dass es hilft, offen zu sein und nach neuen Lösungswegen zu suchen.
Sehen wir den Tatsachen ins Auge, bis jetzt hat gar nichts funktioniert. Und mein alles überschattendes Problem ist, dass Nate glaubt,
er würde mich nicht lieben. Sobald er begreift, dass er es doch tut, sollte sich alles Weitere von selbst ergeben. Zum Beispiel werde ich Miles nicht länger in meinem Leben brauchen. Ich kann ihn – als beschädigte Ware – an Bella zurückgeben.
»Schatz. Ich wurde hierzu gezwungen. Das verstehst du doch, nicht wahr?«
Er starrt mich an.
»Nicht wahr?«
Er nickt.
»Dann drück auf ›Play‹.«
Er zögert. »Wirst du mich dabei beobachten? Wie lang dauert es?«
Ich setze mich auf den Badewannenrand. »Lang genug. Ich warte ab, bis ich sicher bin, dass du wirklich zuschaust. Anders geht es leider nicht. Ich habe es so oft probiert, aber du willst
mir einfach nicht zuhören.«
Er drückt auf »Play«, und meine Stimme erfüllt das Bad. Sie klingt hier viel lauter als vorhin in meiner Wohnung. Nate stellt sie leiser, trotzdem kann ich jedes Wort verstehen. Ich schalte das Licht im Bad aus, um so etwas wie Kino-Atmosphäre zu schaffen. Ich beobachte, wie Nate mich beobachtet. Ich weiß, dass ich kurz winke, als ich »Hallo, Nate« in die Kamera sage. Fast hätte ich die Stelle herausgeschnitten, doch im Rückblick finde ich, dass ich dadurch freundlicher wirke. Ich wollte nicht mit einem strengen Tadel anfangen und ihn dadurch womöglich vor den Kopf stoßen. Schon vom ersten Moment der Planung an war mir klar, dass ich ganz langsam auf das zusteuern muss, was ich ihm sagen will. Über zwei Minuten und siebenundvierzig Sekunden hinweg erkläre ich ihm, was ich hier tue. Ich merke, wie ich in meine eigenen Worte hineingesogen werde, wie ich meinen eigenen Gefühlen zustimme. Seitlich an Nates Hals pulsiert eine Ader. Es gibt eine kurze Pause, bevor ich mit der Geschichte beginne.
»Es war einmal ein Mädchen, gerade fünfzehn Jahre alt, das sehr einsam war.«
Nate haut auf den »Pause«-Knopf. »Bitte sag mir nicht, dass ich mir hier ein Teenager-Märchen anhören muss. Scheiße noch mal, das kannst du mir nicht antun!« Er zerrt an der Handschelle. »Sag mir einfach, was dir im Kopf herumgeistert, und wir können das auch ohne dieses ganze Theater klären. Langsam werde ich ernsthaft sauer.«
Ich stehe auf. »Wie du willst.«
Als ich nach dem Tablet greifen will, drückt er eilig wieder auf »Play«. Offenbar geht er davon aus, dass das WLAN
funktioniert und er irgendwann Gelegenheit haben wird, einen Hilferuf abzuschicken.
»Sehr, sehr einsam. Sie hatte keine einzige Freundin, doch das war nicht ihre Schuld. Daran war ein anderes Mädchen schuld. Ein gemeines, verwöhntes Mädchen, das sich am Unglück anderer freute.
Das einsame Mädchen verbrachte Stunden allein mit seinen Gedanken und träumte dabei von einem anderen Leben. Einem Leben, in dem eines Tages irgendetwas – sie wusste nicht genau was, denn zu diesem Zeitpunkt waren ihre Vorstellungen noch schwammig, noch nicht geformt –, aber trotzdem irgendetwas Umwerfendes passieren würde, wodurch sich ihr Leben auf einen Schlag von Grund auf ändern würde, und zwar selbstverständlich zum Besseren. Dann, eines Tages, passierte wirklich etwas Umwerfendes. Und es veränderte ihr Leben, nur leider nicht zum Besseren. Und das Mädchen musste sehr schnell lernen, dass manche Dinge ganz anders ausgehen als erwartet.«
Nate seufzt theatralisch. »Wie lange geht das noch?«
»Es dauert mit jeder Minute länger. Hör gut zu, sonst fangen wir noch mal von vorn an.«
Meine Stimme setzt wieder ein. »Eines Tages traf sie auf ihren Märchenprinzen. Nicht gerade an einem Ort wie in ihren Träumen, einem exotischen Urlaubsort oder bei einer Galaveranstaltung in einem Luxushotel. Sondern auf einem einfachen Schulball. Und das Mädchen trug ein Kleid; das schönste, das sie je getragen hatte. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie sich wirklich begehrenswert. Sie hatte das Gefühl, endlich einmal leuchten zu können. Doch der Zauber dieses Kleides verflog schnell, denn das Mädchen wurde trotzdem übersehen. Von den Jungen auf dem Ball. Von den gemeinen Mädchen. Willst du wissen, welche Farbe ihr Kleid hatte?«
Hier folgt eine bewusste Pause von zwei Minuten, in der er Gelegenheit hat, sich zu erinnern. Seine Chance, sich reinzuwaschen. Nicht völlig, das wird er natürlich niemals können – doch immerhin wäre es ein winziger Schritt in die richtige Richtung.
Schließlich muss ich selbst das Schweigen brechen. »Beantworte die Frage!«, befehle ich ihm.
»Gelb? Pink? Lila? Scheiße, woher soll ich das wissen, und was interessiert mich das?«
»Es sollte dich interessieren«, antworte ich leise. »Selbst wenn es dunkel war, das muss ich dir zugestehen.«
Ich sehe ihm tief in die Augen, als könnte ich ihn so zwingen, sich an alles zu erinnern. Zu dem zu stehen, was er getan hat.
Ich versuche es nicht zum ersten Mal. Ab und zu, wenn wir miteinander im Bett waren, starrte ich ihm in die Augen und stellte mir vor, ich könnte mich in seine Seele bohren und die Erinnerung gewaltsam herausreißen. Ich versuchte stumm, sie seinem Geist erneut einzuimpfen. Doch genau wie jetzt flackerte sein Blick nicht einmal. Kein einziges Mal.
Seine verständnislose Miene beweist, dass er mich verraten hat. Ein weiteres Mal.
»Das Kleid war rot. Seither hat sie nie wieder Rot getragen.«
Seine Augen werden größer, und er fasst das Tablet fester. Ich nehme an, ganz langsam, wie in Zeitlupe, fällt der Groschen.
»Das Mädchen schlich sich von der Feier, hin zu ihrem liebsten Fleck. Eine Stelle am Bach. Es war eine versteckte Ecke, wohin die ›angesagten‹ Mädchen ab und zu zum Rauchen gingen, aber meist war dort kein Mensch. Sie wusste, dass sie dort sicher wäre, denn alle waren viel zu sehr damit beschäftigt, sich auf der Party in Szene zu setzen. Selbst als es dunkel wurde, kehrte sie nicht zurück. Denn es war zwar nicht Vollmond, doch es war hell genug, um etwas zu sehen. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie Alkohol getrunken und fühlte sich nun ein bisschen losgelöst und abgehoben. Dann setzte sich jemand zu ihr. Er kannte sich an der Schule nicht aus, also musste eines der beliebten Mädchen ihm den Weg verraten haben. Wahrscheinlich seine Schwester. Er zündete sich eine Zigarette an, und hinter der Flamme leuchtete sein Gesicht bernsteingelb auf. Er sah gut aus. Sie hatte zwar schon Bilder von ihm gesehen, doch in Fleisch und Blut war er noch schöner. Er zog mit der freien Hand seine Schuhe und Strümpfe aus und tauchte die Zehen ins Wasser. Dann bot er ihr die Zigarette an, und weil
sie ihm nicht gestehen wollte, dass sie noch nie geraucht hatte, nahm sie in einem kindischen Versuch, weltgewandt zu wirken, einen winzigen Zug. Heute ist die Vorstellung, dass er einmal geraucht hat, geradezu befremdlich, denn inzwischen ist er militanter Nichtraucher; einer der Menschen, die mit der Hand den Rauch wegwedeln, wenn in ihrer Nähe eine Zigarette angezündet wird.«
Ich merke, dass ich die Luft anhalte, während Nate aufsieht und mich anstarrt. Auf seinem Gesicht steht nacktes Entsetzen.
Endlich.
Meine Stimme fährt fort. Nates Blick senkt sich wieder auf den Bildschirm.
»Sie unterhielten sich eine Weile, und allmählich bekam sie trotz ihrer Nervosität das Gefühl, dass sie vielleicht doch nicht so fett und hässlich war. Als er fertig geraucht hatte, bohrte er den Zigarettenstummel in den Boden, und das Licht erlosch. Der Junge küsste das Mädchen, vielleicht küssten sie sich auch beide gleichzeitig. Für sie war es der erste Kuss ihres Lebens. Sie glaubte, damit würde sie augenblicklich in den innersten Kreis aufsteigen. Die anderen Mädchen erzählten ständig von irgendwelchen Wochenendpartys; von den Jungen, die sie geküsst hatten und mehr. Doch dann wurden seine Küsse immer heftiger, und die Dinge überstürzten sich. Sie wollte nicht, dass er aufhörte, denn es war schön, ausnahmsweise nicht einsam zu sein. Und bald gelangte sie an einen Punkt, an dem sie das Gefühl hatte, nicht mehr Nein sagen zu können und zu wollen. Aber sie wusste auch nicht, wie sie die Sache verlangsamen könnte – oder sie hatte nicht das Selbstbewusstsein dazu. Sie trug immer noch ihr Kleid, was sie leicht verwirrend fand – selbst als er ihr half, den Rock hochzuschieben und seine Hand unter ihren rechten Schenkel glitt und ihr Höschen nach unten zerrte. Sie hatte immer angenommen, dass man aus irgendeinem Grund nackt dafür sein sollte. Sie schaute zu, wie er seine Hose nach unten zog, und dann legte er sich auf sie. Es tat nicht besonders weh,
aber es fühlte sich falsch an, denn es war überhaupt nicht romantisch, so wie es in den Filmen und Büchern beschrieben wurde; stattdessen war es eher so, wie man ›es‹ ihnen im Biologieunterricht beigebracht hatte.«
Nate stoppt den Film. »Scheiße, Lily! Warum hast du nie was gesagt? Das ist doch Irrsinn.«
Ich antworte nicht. Alle Antworten liegen vor ihm, ich habe zahllose Stunden Arbeit darauf verwandt, uns dorthin
zu versetzen, meine Gedanken und Gefühle in jenem Augenblick wach werden zu lassen. Ich deute auf den Bildschirm. Er senkt den Blick und startet den Film wieder. Der Bildschirm strahlt in der Dunkelheit. Ich strecke die Beine aus. Allmählich tut mir der Rücken weh, und auch wenn ich selbst diese Worte gesprochen habe – auch wenn ich diese Aufnahme endlos bearbeitet habe –, ist mir die Situation peinlich. Mein Gefühlsgemisch setzt mir selbst zu, denn einerseits erinnere ich mich noch an die naive Hoffnung, an die ich mich damals klammerte, andererseits empfinde ich jetzt das genaue Gegenteil. Und die folgende Passage ist besonders schmerzhaft.
»Damals, genau dort, schenkte das Mädchen diesem Jungen ihr Herz. Es war einfach so. Ihr Schicksal war besiegelt. Er war ein Teil von ihr und umgekehrt. Er hatte keine Zigaretten mehr. Er fragte sie, ob sie eine hätte. Sie hatte keine, aber sie wünschte sich so sehr, sie hätte welche. Sie wünscht es sich bis heute – denn in diesem Fall wäre er länger geblieben. Sie hätten miteinander gesprochen, und alles wäre anders gekommen. Sie wären in Verbindung geblieben, und irgendwann hätte er begriffen, dass er sie ebenfalls liebte. Aber es kam anders, nicht wahr, Nate?«
Ich habe eine bewusste Pause eingefügt, als »Gesprächszeit«.
»Und?«, bohre ich nach.
»Lily. Das ist echt ernst. Okay. Ich hab’s begriffen. Deine Schocktaktik hat gewirkt. Du willst eine richtige Entschuldigung, und die sollst du
auch bekommen. Es tut mir leid. Wirklich, wirklich leid. Mach mich los, und ich verspreche dir – du hast mein Wort, das schwöre ich –, dass wir reden können und du mir alles erzählen oder alles mit mir besprechen kannst, was du willst.« Er klingt, als wäre er den Tränen nahe.
»Du hast es immer noch nicht begriffen. Ich will nicht nur eine Entschuldigung. Ich will, dass du verstehst.
Du musst wirklich begreifen, was du damals getan hast.«
»Oh doch, ich habe es begriffen. Ich hab’s kapiert. Wir waren jung. Ich dachte … also, ganz ehrlich, ich weiß nicht, was ich damals dachte, aber ganz bestimmt habe ich nicht allzu weit in die Zukunft gedacht.« Er hält inne. »Ich hatte das nicht geplant. Du weißt selbst, dass es einfach passiert ist. Du warst so hübsch und …«
»War ich das wirklich? Woher weißt du das? Es war dunkel.«
»Ich wusste nicht, wer du warst.«
»Und das macht alles gut?«
»Nein, aber Herrgott noch mal, du interpretierst zu viel in die Sache hinein und machst jetzt ein Riesending daraus.«
»Ein Riesending?« Ich bin überrascht über die eisige Ruhe in meiner Stimme, denn innerlich stehe ich kurz vor der Explosion. Ich klammere mich am Badewannenrand fest. »Ein Riesending?«
Meine Stimme vom Tablet lässt uns beide zusammenfahren.
»Wie gesagt, dazu kam es nicht, oder? Du bist geflüchtet. Du hast mich allein in der Dunkelheit zurückgelassen. Ich kam dir nach, aber du warst viel, viel zu beschäftigt, um auch nur Notiz von mir zu nehmen. Du hast mich dort liegen lassen und dich einen Scheiß für mich interessiert. Und das tat weh. Es tut immer noch weh. Weil dich andere Menschen nicht interessieren. Du glaubst, du kannst sie nach Lust und Laune benutzen und danach wegwerfen. Als wäre ich ein Nichts. Als wäre ich bedeutungslos. Als wäre das mit uns bedeutungslos. Und du hast dich kein bisschen geändert. Selbst nachdem wir geheiratet hatten, glaubtest du, du müsstest zu deinem Freund James laufen, um mich
loszuwerden. Schon wieder.«
Nate drückt »Stop« und lässt das Tablet auf den Boden fallen.
»Ich kann das nicht mehr anhören. Warum hast du nichts gesagt, als wir letztes Jahr zusammen waren?«
Mir wurde damals klar, dass er nie die entscheidenden Verbindungen gezogen hatte, aber das will ich nicht zugeben. »Ich dachte, das Thema sei für dich, na ja, vielleicht nicht direkt tabu, aber extrem unangenehm. Ich nahm an, dein Schweigen würde bedeuten, dass du dich für dein Verhalten schämst und es wettmachen wolltest, indem du mir der beste Freund und später Ehemann sein würdest, den es überhaupt geben kann.«
»Hör zu, Lily, ich hab’s kapiert.«
»Nein, Nate, das hast du nicht. Das hast du absolut überhaupt nicht. Nicht alles dreht sich um dich, es ist an der Zeit, dass du das lernst. Als du letztes Jahr in das Hotel kamst, in dem ich arbeitete, als wir damals wieder ein Paar wurden, da war es so, als wäre es uns so bestimmt. Schicksal. Das habe ich – nein, haben wir – damals selbst gesagt. Erinnerst du dich nicht?«
Er schüttelt den Kopf.
Ich hatte Nate sehr wohl
gesagt, dass uns das Schicksal zusammengeführt hatte, aber für mich behalten, dass ich dem Schicksal einen kräftigen Schubs gegeben hatte.
Es hatte keinen Sinn, ein »zufälliges Treffen« zu organisieren, solange Nate abgelenkt und damit beschäftigt war, seine Traumkarriere zu verfolgen und seinen Pilotenschein zu machen. Damals ließ ich ihn in Ruhe. Ließ ihm Zeit, sich mit den falschen Frauen zu treffen. Mir war klar, dass er keinesfalls vor Ende zwanzig zur Ruhe kommen würde. Das tun Männer wie Nate nie. Sie wollen sich austoben.
Er hätte sich mit seinen Posts in den sozialen Medien zurückhalten
sollen. Mit seinen fröhlichen Angeberfotos, mit seinen unzähligen Schnappschüssen aus seinem ekelhaft perfekten Leben lieferte er mir alle möglichen wertvollen Informationen.
Wenn sich fliegendes Personal nur kurzfristig in London aufhält, wird es immer in demselben Flughafenhotel untergebracht. Ich musste mich also nur für den Job bewerben, abwarten und so viele Schichten wie möglich freiwillig übernehmen. Die Arbeitsbedingungen waren miserabel, trotzdem hatte sich der Einsatz gelohnt. Nach langen acht Monaten machte er sich mehr als bezahlt.
Unsere Welten prallten zusammen, und wir verliebten uns. Darum ist es so verflucht ärgerlich, dass so kurz vor dem Happy End alles den Bach runterging. Es ist, als würde man bei Mensch ärgere dich nicht!
genau vor dem Ziel rausgeschmissen.
Ich würde ihn dazu bringen, mich zu vergöttern, das hatte ich fest vor.
Mir war klar, dass er seine Taten bereuen würde, sobald er erst begriffen hatte, wer ich war. Er würde seinen Fehler wiedergutmachen. Erklären, dass alles ein Fehler gewesen war, dass ihn irgendwelche widrigen Umstände abgehalten hatten, Kontakt mit mir aufzunehmen. Darum hatte ich ihm, trotz Bella, ganz ehrlich erzählt, auf welche Schule ich gegangen war.
»Also, Schatz«, sage ich lächelnd zu Nate. »Was ich von dir will, ist ganz einfach. Du sollst dir diese Aufnahme mindestens dreimal ansehen.«
Er muss wirklich begreifen und akzeptieren, wie ich damals litt. Er muss von der E-Mail hören, die ich ihm später schickte und auf die er nie reagierte. Von der Pille danach. Von meiner Angst vor einer Geschlechtskrankheit, als ich in den Sommerferien schließlich meinen ganzen Mut zusammennahm und in eine Klinik ging. Ganz allein. Und wie tief er mich verletzt hatte.
»Ich habe schon kapiert, worum es dir geht. Lässt du mich wirklich frei, wenn ich mich auf deine Forderungen einlasse?«
»Vielleicht. Wenn du dich ganz und gar darauf einlässt. Aber wenn du weiterhin so einen Zirkus machst oder hier Krach schlägst, wird alles viel länger dauern. Du hast die Wahl.«
»Ich will kein Vielleicht. Hör zu, lass uns das bitte klären. Ich … es ist mitten in der Nacht.«
Ich ignoriere ihn, genau wie er mich so oft ignoriert hat. »Außerdem möchte ich, dass du noch mal die Fotos durchschaust und dir jedes einzelne davon ganz genau ansiehst, damit du dich erinnerst, wie glücklich wir waren. Ich werde dich später abfragen, um zu prüfen, wie gründlich du warst.«
»Ich habe doch gesagt, dass ich bereit bin, das alles zu klären.«
Ich lächle. »Und wie fühlt es sich an, ignoriert zu werden, Schatz?«
Er schweigt.
»Nicht besonders schön, oder?«, bohre ich nach.
Er antwortet nicht.
»Oder?«
»Nein, es ist nicht schön«, muss er zustimmen. »Ich schaue sie an, ich schaue alles an, also kannst du mich jetzt bitte losmachen?«
Ich hebe meinen Rucksack hoch, hole mein letztes Mitbringsel heraus – unser gerahmtes Hochzeitsbild – und stelle es aufs Fensterbrett. Dann werfe ich mir den Rucksack über eine Schulter und drehe mich um. Noch in der Tür hole ich den Schlüssel für die Handschellen heraus.
»Vergiss nicht, Nate. Es liegt ganz an dir. Du kannst früher oder später hier rauskommen.«
Ich werfe ihm die Schlüssel zu und ziehe die Tür hinter mir ins Schloss.
Zwei Minuten später hämmert er gegen die Tür. Es hallt durchs ganze Haus. Ich halte die Luft an. Er tritt mehrmals gegen das Holz, dann wird
es still.
»Nate, wenn du nicht aufhörst, gegen die Tür zu treten, machst du alles nur schlimmer. Von jetzt an lasse ich dich für jeden Versuch, aus dem Bad zu kommen, eine Stunde länger schmoren. Und wenn du den Film fertiggeschaut hast, gibt es noch eine Webseite, die ich mit einem Lesezeichen versehen habe. Da kannst du ganz genau nachlesen, welche Konsequenzen es hat, wenn man mit einem Mädchen unter sechzehn Sex hat. Vor allem, wenn man über achtzehn ist. Dein Führungszeugnis hätte für alle Zeiten einen sehr negativen Eintrag, wenn ich das der Polizei melde. Also, wenn du nicht gerade scharf darauf bist, dir einen neuen Beruf zu suchen, und zwar einen, den auch ein aktenkundiger Sexualstraftäter ausüben kann, dann würde ich vorschlagen, dass du jetzt Ruhe gibst und meine doch recht einfache Bitte erfüllst.«
Stille. Das hat ihn zum Schweigen gebracht.
Hoffentlich wird er sich nach dem ersten Anlauf, bei dem er etwas lustlos war, am Riemen reißen und die Sache etwas ernster nehmen. Ich lege mich mit einem Kissen aufs Sofa, um ein bisschen zu dösen. Obwohl ich immer wieder einnicke, verstören mich meine Träume, und ich schrecke immer wieder hoch. Als das erste Licht durch die Fenster fällt, stehe ich auf, weil mir der Rücken wehtut. Ich mache mir Kaffee, trinke ihn langsam, lasse die Wärme durch meine Finger dringen und den aufsteigenden Dampf über mein Gesicht streichen. Ich gähne. Dann gehe ich zum Bad und lausche an Nates Tür.
Wunderbare Stille.
Ich muss heute als zusätzliches Crew-Mitglied nach Rom fliegen, um zu überprüfen, ob in den Galleys die neuesten Sicherheitsbestimmungen umgesetzt werden. Erst wollte ich mich krankmelden, aber wenn ich es recht überlege, könnte ich genauso gut fliegen. Bis zum Spätnachmittag bin ich wieder zurück, bis dahin hat Nate reichlich Zeit zum Nachdenken. Gefängniswärterin ist ein reichlich öder Job, dazu gehört wirklich nicht viel.
Ich klopfe an die Tür. »Wie kommst du voran?«, rufe ich.
»Bin fast fertig«, brüllt er zurück.
»Lügner! Der ganze Film dauert fast zwei Stunden. Vergiss nicht, du musst ihn dreimal anschauen. Sonst verschwendest du nur deine Zeit, weil du den Test nicht bestehst.«
Er murmelt etwas Unverständliches.
Ich beschließe, ihm nichts von meinem Ausflug zu sagen; wozu soll ich ihn beunruhigen. Sein Handy lasse ich – ausgeschaltet – auf dem Couchtisch im Wohnzimmer liegen.
Überraschend munter mache ich mich auf den Heimweg. Es hat nicht stark geschneit; nur ein paar verstreute weiße Flecken sind geblieben. Ich lege meine Uniform an und zerreiße beim Anziehen das erste Paar Strumpfhosen, sodass ich ein neues Paar aus der Packung holen muss. Ich gebe ein Vermögen für Strumpfhosen aus. Nachdem ich meine ID
unter dem Namensschild an die Jacke geklemmt habe, packe ich meine flachen Schuhe in die Rolltasche.
Bevor ich losfahre, schaue ich noch einmal hoch zu Nates Wohnung. Von außen deutet nichts darauf hin, dass sich drinnen gerade etwas sehr Ungewöhnliches abspielt.