Hart am Wind

»He, Yves, pass auf, das Kleid ist nagelneu und war noch nicht auf Instagram.«

Marie blickte zu ihrer Tochter Isabelle, die mit einem Glas Lillet Rosé an Deck stand. Mit der anderen Hand hielt sie ihr Mobiltelefon weit von sich gestreckt, um eines der Fotos zu schießen, mit denen sie ihre täglich wachsende Follower-Schar begeisterte. Marie vermutete, dass ihr Neffe Yves das Boot deshalb so ruckartig manövrierte, damit sich der Inhalt des Glases auf das neue Kleid seiner Cousine ergießen würde. Schon lange hatte sie den Verdacht, dass er Isabelle ihren Erfolg in den sozialen Medien neidete. Nicht, dass er in diesem Bereich sonderlich aktiv gewesen wäre, aber Aufmerksamkeit, die jemand anderem als ihm zuteilwurde, bereitete ihm schlechte Laune. Das war schon immer so gewesen. Bei der Beerdigung seines Vaters, Maries älterem Bruder Antoine, hatte er vor allem deshalb so laut geschluchzt, weil niemand Notiz von ihm genommen hatte, dachte sie manchmal.

Seufzend rückte Marie den ausladenden Strohhut zurecht, den eine Windböe ihr beinahe vom Kopf geweht hätte. Dann ließ sie ihren Blick mit einem spöttischen Lächeln über das Deck der hölzernen Jacht gleiten. Das hier hätte ein Familienausflug sein können, der jedem Glamour-Magazin zur Ehre gereicht hätte. Sie selbst vorn am Bug, ihr in der Mittagssonne leuchtendes Kleid gebläht von der erfrischenden Brise, ein Stück weiter Isabelle in ihrem knappen Kleidchen, der stets ein wenig zu elegant gekleidete Yves am Steuerrad und in der Mitte der Fixstern, um den diese Ego-Planeten kreisten: ihr Vater, der Patriarch Chevalier Vicomte, in strahlend weißem Sommeranzug mit Panamahut. Der Rollstuhl, in dem er saß und für den extra eine Haltevorrichtung auf dem Boot angebracht worden war, wirkte wie ein Thron. Marie bewunderte ihn dafür, dass er selbst in diesem fortgeschrittenen Stadium körperlichen Verfalls noch so eine Grandezza ausstrahlte. Sie hoffte, dass ihr das Schicksal dereinst ähnlich gewogen sein würde. Nur auf Bernadette, die Pflegerin in ihrer weißen Dienstkleidung, die mit puppenhaft starrem Lächeln hinter ihrem Vater stand, immer darauf wartend, dass er einen Wunsch äußerte, könnte sie gut verzichten.

Für Marie Yolante Vicomte, Chevaliers älteste Tochter, seit Antoines Tod seine Stammhalterin, war der Stolz, den ihr Vater ausstrahlte, Ziel und Auftrag zugleich. Und der Maßstab, an dem sie ihr Leben auszurichten hatte. Nein, korrigierte sie sich. Nicht nur sie selbst. Sie alle. Da fiel ihr Blick auf Henri, der eben die steile Treppe aus der Kabine der Comtesse heraufkam, wie die Jacht hieß. So hatte Papa ihre Mutter immer genannt. In seinen abgewetzten Shorts und dem halb heraushängenden Hemd wirkte Henri eher wie einer ihrer Angestellten. Doch auch er war ein Sohn des Patriarchen. Er setzte sich halb auf die Reling und blickte rauchend auf das türkisblaue Meer. Es schien ihn nicht zu stören, dass der Qualm zu seinem Vater hinüberzog, der schon mehrmals ostentativ gehustet hatte. Marie hatte alle Mühe, sich eine Bemerkung zu verkneifen. Denn darauf wartete Henri nur, da war sie sich sicher. Er ließ keine Gelegenheit aus, ihr und allen anderen zu zeigen, wie egal ihm die Familie war. Dabei glaubte sie ihm kein Wort. Für sie war es nur Ausdruck seiner Frustration. Darüber, dass er, obwohl ein Jahr älter als Marie, ganz unten in der Rangfolge stand. Denn obgleich Chevalier sein Vater war, hatte er eine andere Mutter – eine in jeder Beziehung gewöhnliche Frau. Eine Tatsache, die sich beim Anblick von Maries Halbbruder nicht verleugnen ließ.

Die nächste ruppig gesegelte Wende brachte auch Marie kurz aus dem Gleichgewicht. »Yves, bitte, jetzt streng dich doch ein kleines bisschen an.« Sie verstand nicht, warum er die Segel nicht einholte, schließlich verfügte das Boot über einen Motor, mit dem es deutlich leichter zu navigieren war. Aber Yves musste eben immer und überall beweisen, was er alles konnte.

»Jetzt hart am Wind bleiben«, rief ihr Vater kehlig über das Deck. Sie wusste nicht, was das in diesem Moment bedeuten sollte, ob es überhaupt etwas bedeutete. Wahrscheinlich war es nur ein Satz, der gerade durch sein Gehirn gefegt war, das immer eigenartiger funktionierte, mal völlig klar, messerscharf und blitzgescheit, mal träge und ganz weit weg. So oder so: Sie liebte diesen sechsundachtzigjährigen Mann. Bedingungslos. Und wenn er sie, wie vor ein paar Tagen, zusammenrief, um in Marseille ihre Jacht zu besteigen und in ihr gemeinsames Sommerhaus nach Port Grimaud zu segeln, dann kamen sie alle. Fast alle zumindest. Sie war Realistin genug, zu wissen, dass ihm die anderen nicht aus der gleichen Zuneigung heraus folgten wie sie selbst, sondern dass ihre Gefolgschaft andere Gründe hatte. Furcht vor seinem Zorn etwa, vor seiner Unberechenbarkeit. Immer stand die unausgesprochene Drohung im Raum, dass er jeden jederzeit aus seinem Testament streichen könne.

Marie wischte diesen Gedanken beiseite und versuchte, den Törn zumindest ein wenig zu genießen. Es war lange her, dass sie gemeinsam gesegelt waren. Seit dem Tod ihrer Mutter kam es nur noch selten zu solchen Ausflügen.

»Magst du auch ein Gläschen, Schwesterherz? Hilft, das alles hier zu ertragen.« Henri hielt ein Glas und eine Flasche hoch.

Marie schüttelte den Kopf und ging zu ihrem Vater. »Ist dir kalt, Papa?«, fragte sie, auch wenn es fast dreißig Grad waren. Dabei blickte sie vorwurfsvoll die Pflegerin an, als hätte sie die Frage eigentlich stellen müssen.

Chevalier Vicomte griff nach ihrer Hand.

Sie umschloss sie, fühlte seine papierne Haut, die zerbrechlichen Glieder.

»Nein, mein Engel«, hauchte er. Sie blickten eine Weile aufs Meer, den Hafen von Saint-Tropez, den sie eben passierten, bis schließlich die Silhouette von Port Grimaud auftauchte.

»Wo ist eigentlich Clément?«

»Hm?« Marie hatte genau verstanden, aber sie brauchte noch ein paar Sekunden Zeit für die Antwort.

»Warum ist Clément nicht gekommen, Marie Yolante?«, wiederholte ihr Vater.

Sie wusste noch immer nicht, was sie antworten sollte, also schwieg sie.

»Mein Lieblingsbruder ist vorgestern verschwunden«, rief stattdessen ihre Tochter. »Mal wieder. Niemand weiß, wo er sich rumtreibt. Mal wieder.«

»Isabelle!« Marie warf ihr einen eisigen Blick zu, und die junge Frau verstummte.

»Habt ihr schon in den einschlägigen Schwulenklubs nachgefragt?«, mischte sich Henri ein.

»Hör auf damit«, zischte Marie mit schneidender Stimme.

Er hob abwehrend die Hände. »Schon gut, Schwesterherz.« Dann leerte er sein Glas und goss sofort nach.

Halbschwester , hätte sie gerne erwidert, aber sie wusste, dass ihr Vater das missbilligt hätte. Er hatte eine Schwäche für diesen verkrachten Autor. Vielleicht war es auch nur die Erinnerung an das Flittchen, das sich von ihm hatte vögeln lassen, um diesen Bastard in die Welt zu setzen.

»Lass das, Idiot«, hörte sie da Isabelles schrille Stimme. Henri hatte ihr seinen Kopf auf die Schulter gelegt und grinste dümmlich in ihre Handykamera. Angewidert verzog ihre Tochter das Gesicht und schob ihn zur Seite. »Du stinkst nach Alkohol, Onkel.«

»Isabelle, Ausdruck!«, mahnte Marie.

»Entschuldige: Halbonkel.«

»Lass mich doch auch auf ein Foto mit drauf«, insistierte Henri mit schwerem Zungenschlag.

»Spinnst du? Ich hab einen Ruf zu verlieren.« Sie drückte ihn endgültig weg und wollte noch etwas hinzufügen, da rief Yves: »Wir laufen ein. Haltung bitte, wie es sich für die Vicomtes gehört.«

Das war eigentlich Chevaliers Text, und Marie wusste, dass Yves ihn damit auf den Arm nehmen wollte, doch da ihr Vater nicht reagierte, ließ sie es unkommentiert.

»Lasst uns den Paparazzi ein tolles Bild liefern«, schob Yves nach.

Zu gerne würde er ein Foto von sich in den Hochglanzmagazinen finden, das wussten alle. Doch die nahmen von den Vicomtes schon lange keine Notiz mehr, da halfen all seine Regatten und wohlkalkulierten Eskapaden nichts.

Als sie die Hafeneinfahrt von Port Grimaud passierten und an den ersten Häusern entlangglitten, standen sie stumm an der Reling, das Mahagoni der imposanten Jacht in der Sonne glänzend. Auch wenn sie zu dieser Mittagsstunde kaum Menschen sah, so glaubte Marie doch wahrzunehmen, wie sich die Köpfe der Bewohner in ihren Häusern drehten, wie ihnen aus den Fenstern die Blicke zuflogen. Blicke, die zu sagen schienen: Die Vicomtes sind wieder da. Sie genoss diesen Augenblick und hätte gerne gewinkt, doch sie unterdrückte den Impuls und setzte stattdessen eine gelangweilte Miene auf. Obwohl es in ihrem Inneren brodelte, weil sie den Nachhall der alten Größe ihrer traditionsreichen Familie spürte.

Dann knirschte es lautstark, und die Comtesse kam abrupt zum Stehen. Beinahe hätte Marie das Gleichgewicht verloren und sich unsanft auf die Planken gelegt. Yves war der schlechteste Skipper, den man sich vorstellen konnte! Isabelle saß mit offenem Mund auf ihrem Hosenboden, das Kleid nun doch getränkt vom Lillet. Henri brach in schallendes Gelächter aus, während Marie sorgenvoll zu ihrem Vater im Rollstuhl blickte, der sich jedoch keinen Millimeter bewegt hatte.

»Scheiße, geht’s eigentlich noch mit eurem Protzkahn?«, zeterte eine Frauenstimme vom Wasser.

Sie blickten über die Reling. Ein Pärchen in einem dieser unsäglichen Elektroboote, die sich die Touristen für teures Geld ausliehen, um damit eine Runde durch die Kanäle zu dümpeln, entfernte sich gerade lauthals schimpfend. Marie bemerkte eine Schramme im Mahagoni der Comtesse.

»Mann, Yves, manchmal muss selbst ein Vicomte von seinem hohen Ross runtersteigen und ausweichen«, sagte Henri und wischte sich mit einem Taschentuch über die dunklen Flecken auf seinen Shorts, die der Cognac bei der Kollision hinterlassen hatte.

»Wollte ich ja. Aber das Ruder ist irgendwie verklemmt. Der Kahn lässt sich kaum noch steuern.«

»Das sagst du doch auch immer, wenn du deine Gegner bei den Regatten rammst.«

»Aber diesmal stimmt es.«

Ein sonores Hupen unterbrach ihr Streitgespräch. Alle drehten sich zum Heck und blickten auf ein rostiges Schiff mit ausladendem Baggerarm direkt hinter ihnen. Damit wurden die Kanäle regelmäßig vom Schlamm befreit.

»Was man sich heutzutage alles bieten lassen muss«, schimpfte Isabelle.

Da meldete sich die knarzende Stimme ihres Großvaters: »Das wird sich bald erledigt haben.«


Mit Müh und Not erreichten sie schließlich einen der Anlegestege ihres Hauses. Der Turm überragte die anderen Häuser um ein Geschoss und fiel mit seinen klaren, modernen Linien ziemlich aus dem Rahmen. Etwas Besonderes eben, für eine besondere Familie. Als Yves die Comtesse unter Quietschen und Knarzen an den Kai manövrierte, hatten sie endlich die volle Aufmerksamkeit der Menschen der benachbarten Häuser.

Henri schüttelte den Kopf. »Mon Dieu , Yves, es reicht, glaubst du, der Kratzer von eben fühlt sich einsam?«

»Das Ruder klemmt, wie oft soll ich es noch sagen?«

Jetzt mischte sich Marie ein. »Dann reparier es gefälligst so schnell wie möglich. So können wir unmöglich noch einmal auslaufen. Was sollen die Leute denken?«

»Reparieren? Ich?«

»Weißt du jemand anderen?«

»Ich glaube schon.« Yves holte sein Mobiltelefon heraus und wählte eine Nummer. Während er sprach, gingen die anderen durch den Garten ins Haus. Marie liebte es, von der Seeseite aus hier anzukommen und durch die Terrassentür direkt in den repräsentativen Wohn- und Essbereich der Familienvilla zu gelangen.

»Ist es nicht schön, wieder hier zu sein, Papa?« Sie strich ihrem Vater zärtlich über die Wange, als die Pflegerin den Rollstuhl im Wohnzimmer abstellte.

Als Antwort gab er nur ein Brummen von sich und deutete auf die große Vitrine mit den edelsten Weinflaschen, die sie besaßen. Sie stand mitten im Raum und trennte den Essbereich vom ein paar Stufen darunter liegenden Salon ab, in dem die Couch und die originalen, cognacfarbenen Designersessel aus der Entstehungszeit des Hauses standen.

»Bringen Sie meinem Vater ein Glas Wasser, Bernadette«, wandte sich Marie an die Frau. »Wir ziehen uns inzwischen kurz zurück und machen uns frisch.« Wie auf Stichwort beeilten sich alle, in ihre privaten Zimmer in den oberen Etagen zu kommen. Dort kam Marie Henri entgegen. Er hatte es so eilig, dass er fast in sie hineingerannt wäre. »Was ist denn mit dir los?«, fragte sie.

»Ich … muss …«

»Ist dir schlecht?« Sie roch seinen Cognac-Atem.

Er nickte nur und stürmte in eines der Bäder.

Sie blickte ihm nach. Schon in diesen wenigen Stunden hatte er ihr wieder klar vor Augen geführt, dass er nicht hierhergehörte. Nicht in dieses Haus. Nicht in diese Familie.

Marie war froh, als sie die Tür hinter sich zuziehen konnte und endlich allein war. Sie ließ sich aufs Bett fallen. So viel Zeit hatte sie schon lange nicht mehr mit der Familie verbracht. Und nach der Überfahrt von Marseille hierher wusste sie auch wieder, weshalb. Sie bedauerte, dass es so war. Dennoch hatte auch sie für die Anreise mit der Jacht plädiert. Sie waren schließlich nicht irgendwer, stahlen sich nicht durch die Hintertür.

Es klopfte. Marie setzte sich auf und rief ein »Herein«, worauf Isabelle ins Zimmer trat.

»Wann kommt dieser Barral?«

»In einer Stunde.«

Ihre Tochter blies hörbar die Luft aus. »Erst? Und was sollen wir so lange machen?«

»Was du machst, weiß ich nicht, vermutlich wieder etwas mit deinem Telefon, aber ich …« Sie wurde vom Türgong unterbrochen.

Die Miene ihrer Tochter hellte sich auf. »Oh, es scheint, wir haben Glück.«

Marie folgte ihr die offene Treppe hinunter und öffnete die Haustür. Vor ihr stand ein junger Mann mit dunklem Teint und schwarzem Haar. Sie hatte ihn schon einmal gesehen. Irgendein Bediensteter der Gemeinde. Wie war noch sein Name gewesen?

»Petitbon, endlich!« Yves tauchte hinter ihr auf. »Hast dir ja ganz schön Zeit gelassen.«

»Aber Sie haben mich doch gerade erst angerufen.«

»Keine Ausreden. Kümmere dich um die Comtesse. Irgendwas ist mit dem Ruder.«

Karim deutete eine Verbeugung an. »Sofort, Monsieur.«

Er wollte eintreten, da stoppte ihn Yves mitten in der Bewegung: »Was soll das werden?«

»Ich wollte zum Boot.«

»Durchs Haus? Bist du betrunken? Du gehst außen herum.«

»Verzeihung, Monsieur.«

»Hör auf, dich immer zu entschuldigen. Und, Karim?«

Der junge Mann drehte sich noch einmal um. »Ich will diesmal keine Abdrücke von deinen ausgelatschten Tretern auf den Planken sehen, klar?«

»Natürlich. Versprochen, Monsieur Yves. Ich werde die Comtesse behandeln, als sei sie meine Mutter.«

Yves blickte die Umstehenden an und grinste schief. Dann zuckte er mit den Achseln und ging ins Haus.