Karim Petitbon ließ sich von Yves Vicomtes ruppiger Art nicht die Stimmung verhageln. Warum auch? Er hatte allen Grund, fröhlich zu sein: Die Sonne schien, doch selbst jetzt am Mittag war es wegen des angenehmen Winds nicht ganz so heiß wie manchmal zu dieser Jahreszeit. Die überraschend aufgetauchte Leiche vom Vortag war ein für alle Mal im Golf von Saint-Tropez versenkt, und seine Mutter, mit der er trotz seiner sechsundzwanzig Jahre noch immer zusammenlebte, hatte ihn heute Morgen mit einem frischen Croissant überrascht. Das alles war aber nur schmückendes Beiwerk angesichts des Hauptgrunds für seine gute Laune, der hier sanft schaukelnd vor ihm lag: die Comtesse , die majestätische Holzjacht der Familie Vicomte. Trotz der vielen Jahre, die sie schon auf dem Buckel hatte, wirkte sie stolz und Respekt einflößend. Auch durfte man sich von dem Komfort, den sie ihren Passagieren bot, nicht täuschen lassen: Die Comtesse war ein extrem schnittiges Boot, das schon einige Regattasiege eingefahren hatte – in den Jahren, bevor Yves das Ruder übernommen hatte.
Yves Vicomte hatte aber auch schon mehrere Male mit der Jacht an den Voiles de Saint-Tropez teilgenommen, dem berühmten internationalen Rennen, das jedes Jahr im Herbst stattfand. Er selbst war ebenfalls schon mit von der Partie gewesen – als Yves’ Schiffsmechaniker. Ein echtes Abenteuer, weil das Talent seines Skippers sich in engen Grenzen hielt. Seitdem träumte Karim davon, selbst als Kapitän an Bord einer solchen Jacht dem Sieg entgegenzusegeln. Yves würde er allemal abhängen.
Er beschloss, sich keinen weiteren Fantasien hinzugeben und sich stattdessen seiner Aufgabe zu widmen. Schließlich fehlten ihm noch ein paar Euros bis zur Rennjacht. Immerhin: Für die Vicomtes zu arbeiten, die hier in der Gegend ziemlichen Einfluss genossen, war lukrativer, als im nahe gelegenen Azur-Park bei irgendwelchen Jahrmarktsattraktionen Hilfsjobs zu verrichten.
Von Schwierigkeiten mit dem Ruder hatte Yves gesprochen. Karim überlegte. Möglicherweise hatte sich etwas verbogen, weil der Skipper zu nahe an eine Boje oder einen Felsen am Grund der Bucht gekommen war, was er vor ihm nicht zugeben wollte. Wie auch immer, das Problem dürfte schnell zu beheben sein. Am Heck des Zweimasters beugte er sich weit über die Reling, doch aus dieser Position konnte er nichts erkennen. Er musste also wohl oder übel unter Wasser nachsehen.
Flugs zog er sich sein Shirt und die Shorts aus – eine Badehose trug er zur Sicherheit immer drunter, man wusste ja nie, wann man einen Tauchgang machen musste. Dabei rutschte ihm das Handy, das er dem Toten gestern abgenommen hatte, aus der Hosentasche. Mit einem Klacken landete es auf dem Holzdeck. Karim schluckte. Sein schlechtes Gewissen meldete sich. Eine Leiche zu beklauen war sicher eine Todsünde. Jedenfalls bei den Christen. Und im Koran stand bestimmt etwas Ähnliches. Selbst wenn weder sein verstorbener französischer Vater noch seine marokkanische Mutter besonders gläubig waren, schnürte sich ihm in diesem Moment die Kehle zu.
Auf der anderen Seite: Was war schon dabei? Schließlich brauchte der Typ, da, wo er jetzt war, kein Handy mehr, es wäre also reine Verschwendung gewesen, es mit ihm auf dem Meeresboden zu versenken. Noch dazu, wo er selbst eine sinnvolle Verwendung dafür hatte. Somit war es auch vom Umweltaspekt das Beste. Beruhigt über seine neue Sichtweise ließ sich Karim ins Wasser gleiten, tauchte unter dem Ruder durch, um es zu inspizieren – und bekam einen solchen Schock, dass er sich beim Auftauchen den Kopf am Rumpf des Holzschiffes stieß. Keuchend hielt er sich am Steg fest und versuchte, erst einmal seine Gedanken zu ordnen. Ob ihm seine Nerven einen Streich gespielt hatten? Unsinn, er war schließlich nicht geistig umnachtet. Was Karim da unten gesehen hatte, war real. Und ein Problem. Er zog sich an Bord, schnappte sich sein eigenes Telefon und wählte Lipaires Nummer. Zum Glück nahm der bereits nach dem zweiten Läuten ab.
»Karim, ich kann jetzt nicht, ich hab eine Anreise nach der anderen und noch dazu eine Doppelbuchung. Ich ruf dich zurück, wenn’s besser passt, ja?«
»Nein, warte, du musst sofort herkommen«, zischte er ins Mikrofon, stets darauf bedacht, dass ihn niemand sonst hören konnte.
»Hast du nicht verstanden, dass ich …«
»Es gibt ein Problem. Ich bin bei den Vicomtes.«
»Merde! Warum das denn bitte?« Lipaire klang nun tatsächlich ein wenig alarmiert.
»Weil ich … egal, das sag ich dir später. Aber du musst sofort kommen: Alarmstufe Rot, verstehst du?«
Die nächsten zehn Minuten versuchte Karim nach Kräften, den Eindruck zu erwecken, als arbeite er daran, den Schaden zu beheben: Er hantierte ein wenig am großen Steuerrad, schraubte hier und da ein bisschen herum.
»Ist die Comtesse endlich wieder einsatzfähig?«
Karim zuckte zusammen. Er hatte Yves Vicomte gar nicht kommen hören. Mit einem verlegenen Lächeln richtete er sich auf und antwortete: »Noch nicht ganz, Monsieur. Es braucht noch ein wenig Arbeit, aber das sollten wir schnell haben.«
»Wir?«
»Ich habe einen Bekannten gebeten, mir zu helfen«, erklärte Petitbon und versuchte, dabei möglichst beiläufig zu klingen.
»Mehr Geld gibt es deswegen aber nicht, dass das klar ist. Was ist denn das Problem? Irgendwas verklemmt?«
»Es … hat sich etwas eingeklemmt, genau. Nichts Schlimmes, nur ein wenig unnützer Ballast, der im Golf herumgetrieben ist. Sie können reingehen, ich melde mich.«
»Na gut, aber ohne Trödeln, klar?«
»Klar«, antwortete Karim und sah erleichtert, wie Yves die Terrassentür ohne weiteren Kommentar hinter sich ins Schloss fallen ließ.
In diesem Moment zwängte sich Guillaume Lipaire den engen Steg vor dem Nachbargrundstück der Vicomtes entlang und schwang sich zu Karim aufs Boot. »Was gibt’s denn für ein Problem?«
»Schuhe!«
»Du hast ein Problem mit deinen Schuhen?«
»Nein, mit deinen, wenn die Vicomtes dich damit auf ihrer Jacht erwischen.« Vorwurfsvoll blickte er an den Beinen seines Freundes hinunter, worauf Lipaire widerwillig aus seinen Schlappen schlüpfte.
»Soll ich meine Gäste stehen lassen, nur weil du Probleme mit meinen Schuhen hast?«, knurrte er.
»Putain , die Vicomtes haben sich mit ihrem Ruder was eingefangen, was dir bekannt vorkommen wird.«
»Was denn? Oliviers altes Fischernetz?«
»Unsinn.«
»Dann quatsch nicht so kompliziertes Zeug.«
Damit hatte Lipaire natürlich recht, aber er war ja nicht ganz unschuldig daran, schließlich hatte er Karim gelehrt, ihre nicht immer ganz legalen Tätigkeiten mit allerlei Codewörtern zu verschleiern. Das konnte schon zur Gewohnheit werden. Karim sah sich nach allen Seiten um. »Unser blasser Freund von gestern Abend ist wieder aufgetaucht! Und genau in dem Moment scheinen die Vicomtes über ihn drübergesegelt zu sein.«
»Nein!«
»Doch.«
»Oh!«
»Er hat sich samt Plane im Ruder der Jacht verfangen. Und jetzt hängt er drin.«
»Anscheinend hatte er Sehnsucht nach den Vicomtes«, flüsterte Guillaume Lipaire grinsend.
»Und was sollen wir jetzt machen? Schließlich steht auf der Plane riesengroß der Name meines Taxis. Wir sollten ihn also lieber wieder loskriegen.«
»Schon. Aber erst mal müssen wir den da loskriegen.« Lipaire wies mit einem Kopfnicken zur Terrasse, wo Yves Vicomte eben wieder in der Tür erschienen war.
»Wir sind bald so weit, Monsieur«, rief Karim zu ihm hinüber, während Guillaume freundlich winkte. Yves nahm sich den Aschenbecher vom Tisch und ging wortlos zurück ins Haus.
»Wir holen jetzt dein Boot, dann gehst du auf Tauchstation, befreist unseren anhänglichen Freund aus dem Ruder, und wir bringen ihn weg.«
»Mit dem Wassertaxi?« Karims Stimme überschlug sich.
»Hast du ein anderes Boot?«
»Natürlich nicht. Aber es ist komplett offen und gehört der Verwaltung. Ich hab außerdem gleich meine Schicht, sollen wir die Leiche etwa zwischen die Fahrgäste setzen und ihn für den Rest des Tages durch die Kanäle schippern?«
Lipaire seufzte. »Nein. Ja. Vielleicht. Ich muss mir doch auch erst was überlegen, Junge! Jetzt hol du mal das Taxi, und wenn du zurück bist, ist mir bestimmt schon eine Idee gekommen.«
Als Karim Petitbon einige Minuten später mit dem solargetriebenen coche d’eau neben der Comtesse festmachte, fehlte von Guillaume Lipaire jede Spur. Ob er sich einfach vom Acker gemacht hatte? Karim zog bereits sein Handy heraus, um ihn anzurufen, da sah er kleine, blaue Rauchwölkchen vom Heck der Jacht aufsteigen. Er sprang an Deck und erblickte seinen Freund in der Sonne liegend, eine Zigarre im Mundwinkel.
»Deine Nerven möchte ich haben, Guillaume.«
»Das glaub ich dir gern, aber dafür brauchst du noch ein paar Jahre, Kleiner.«
»Nenn mich nicht Kleiner, Alter!«
»Schon gut. Während du nur das Boot geholt hast, habe ich einen Masterplan entwickelt.«
»Und wie sieht der aus?«
Lipaire machte ein wichtiges Gesicht und winkte Petitbon näher zu sich. »Also, pass gut auf: Du holst ihn aus dem Wasser, wir wuchten ihn aufs Boot und bringen ihn weg.«
Karim zog die Brauen hoch. »Wow, und das alles ist dir in der kurzen Zeit eingefallen?«
»So ist es. Pas mal , oder?«
»Und wie genau unterscheidet sich das von dem, was wir vorher schon gesagt haben?«
»Jetzt ist alles viel … greifbarer für mich. Also: ab ins Wasser mit dir!«
Karim sah sein Gegenüber kopfschüttelnd an, fügte sich dann aber in sein Schicksal, zog erneut seine Klamotten aus, wobei er peinlich darauf achtete, dass das Handy des Toten diesmal nicht herausfiel, und ließ sich in den Kanal gleiten. Nach drei kurzen Tauchgängen gelang es ihm, den Körper samt der inzwischen ziemlich zerfetzten Plane aus dem Ruder zu befreien und zwischen die beiden Boote zu bugsieren. Lipaire ließ vom Taxi aus zwei Gurte ins Wasser, an denen Petitbon die heikle Fracht befestigte, die sie schließlich, halb ziehend, halb schiebend, auf das Solarboot wuchteten. Karim beeilte sich, zurück an Bord zu kommen, trocknete sich hastig ab und schlüpfte wieder in seine Kleider. Lipaire blickte derweil auf das nasse Bündel am Schiffsboden. »Hast du noch eine andere Plane? Die hier besteht ja fast nur noch aus Löchern.«
Der Junge schüttelte den Kopf. »Ich hab denen immer wieder gesagt, sie sollen lieber eine bessere Qualität kaufen, als das Logo und die Werbung für unsere Rundfahrten draufzudrucken. Aber auf mich hört ja keiner.«
»Na gut, dann muss es eben so gehen. Wir legen ihn zwischen die Sitzbänke, da wird ihn schon niemand bemerken.«
»Was wird niemand bemerken?«
Karim und Guillaume fuhren herum. Auf dem Steg stand Henri Vicomte, Yves’ Onkel.
»Die … Schramme, die sich die Comtesse heute eingefangen hat«, sagte Karim schnell.
Henri nickte grinsend. »Na ja, ist ja beileibe nicht der erste Makel am Familienschätzchen. Kann man euch helfen, Männer?«
»Nein, bloß nicht«, platzte Lipaire heraus.
»Ah, Sie sind ein Deutscher«, kommentierte Henri.
»Woher wissen Sie …«, begann Guillaume, fuhr dann aber fort: »Sie sind hier, um sich zu erholen, wir kümmern uns um den Rest.«
Karim kannte den Spruch. Damit warb sein Freund für sein zweifelhaftes Vermietungsgeschäft.
»Na gut, dann noch einen angenehmen Tag, Messieurs. Und passen Sie auf, wenn Sie noch mehr Schaden anrichten, verfüttern Sie meine Verwandten an die Haie!« Henri hob eine Hand zum Gruß, ging zurück zur Terrasse, öffnete dort eine Flasche Rosé und machte es sich in einem Liegestuhl bequem.
Karim kannte ihn kaum, doch im Ort galt er allgemein als der umgänglichste Spross der Vicomtes. Anscheinend war der früh ergraute Endvierziger Krimiautor, dessen Werke sich sogar recht gut verkauften. Da Karim es in seinem Leben jedoch insgesamt nur auf die Lucky-Luke-Gesamtausgabe, eineinhalb richtige Bücher und vier Asterix-Comics aus der Sammlung seines verstorbenen Vaters gebracht hatte, interessierte ihn das nicht sonderlich.
»Lass uns verschwinden, Guillaume!«, zischte er und hastete zu seinem Cockpit. Erst als sie die Mitte des Kanals erreicht hatten, beruhigte er sich ein wenig. »Glaubst du, dieser Henri hat was gesehen?«, fragte er, während Guillaume an der zerfetzten Plane herumzupfte, unter der immer mal wieder eine Hand oder ein Fuß zum Vorschein kamen.
»Ach was.« Lipaire winkte ab. »So hell auf der Platte sind die Vicomtes nicht. Und alles, was Henri kann, ist Bücher zu schreiben. Also unterm Strich nichts.«
»Na hoffentlich. Apropos Plan: Wohin fahren wir denn jetzt eigentlich?«
»Wir bringen unseren Mitfahrer an einen Ort, wo er unter seinesgleichen ist.«
»Was soll das heißen?«
»Überleg doch mal.«
»Kannst du aufhören, immer in Rätseln zu sprechen, Guillaume?«
»Ein bisschen Gehirnjogging schadet euch jungen Leuten nicht.«
»Auf den Friedhof?«
»Fast.« Lipaire lächelte milde. »Vielleicht fällt es dir ja noch ein. Wir können ihn sowieso erst heute Abend hinbringen. So lange müssen wir ihn hierlassen.«
»Hier? Spinnst du? Ich hab jetzt Dienst.«
»Na schön, dann werden wir ihn eben erst mal zwischenparken.«
Petitbon stöhnte. »Merde! Und wo?«
»Mäßige deinen Ton, Junge, diese Ausdrücke stehen dir nicht gut zu Gesicht!«
Karim nickte. Er bemühte sich ja nach Kräften, sich in Guillaumes Gegenwart ein wenig gewählter auszudrücken als gewöhnlich, weil er wusste, dass seinem Freund das wichtig war.
»Haaaallo, Kariiiiiiim!«
Die Köpfe der beiden ruckten herum: Auf dem kleinen Anlegesteg, den sie eben passierten, stand, in einer schrillen Blumenleggings, einem Shirt mit der goldenen Aufschrift VIP und einer Plastiktüte, Lizzy Schindler und winkte ihnen aufgeregt zu. Neben ihr wedelte der ebenfalls betagte Pudel mit dem Schwanz.
»Oh Mann, die hat mir gerade noch gefehlt!« Karim winkte ihr und steuerte das Boot Richtung Kai.
»Du willst die allen Ernstes mitnehmen?«
Der Junge hob die Schultern. »Was soll ich machen? Sie befindet sich am öffentlichen Steg und hat damit ein Recht auf Beförderung.« Dass er es einfach nicht übers Herz brachte, die alte Dame in der prallen Sonne stehen zu lassen, sagte er nicht.
»Ein Recht? Ich bitte dich! Außerdem machen wir ja gerade eine … Betriebsfahrt. Mit heikler Fracht.«
Karim drosselte den Motor. »Wenn die sich bei der Verwaltung beschwert, dass ich sie nicht mitgenommen habe, dann …«
»Dann?«
»Kariiiiim! Louis und ich warten auf Sie!«, tönte es da wieder vom Steg.
»Dann schauen sie vielleicht genauer hin, wofür ich das Boot alles so benutze.«
»Oje, das will niemand«, gab Lipaire zu.
»Exactement.«
»Aber ausgerechnet diese alte Schachtel, die alles sofort weitertratscht?«
»Kariiiim, kommen Sie endlich? Louis wird es allmählich zu warm in der Sonne.«
»Louis?«
»Ihr Hund. Louis Quatorze, um genau zu sein.«
Lipaire verdrehte die Augen. »Also gut. Wahrscheinlich bekommt sie eh nichts mehr mit.« Zähneknirschend bedeutete er dem Jungen, den Steg anzusteuern. Auf dem Weg dorthin schob er den Toten samt Plane unter die Bank am Heck. Als sie Lizzy Schindler erreicht hatten, hielt er ihr die Hand hin. »Madame, einen wunderschönen Tag. Wohin dürfen wir Sie bringen?«, flötete er und hob ihren Hund an Bord.
»Oh, heute gleich zwei attraktive Männer, sehr schön! Ich müsste nur rasch zum Marktplatz. Habe einen Spaziergang am Strand hinter mir. Gut für die Fitness.«
»Aber das haben Sie doch nicht nötig, Teuerste.«
»Sie Charmeur, Sie.«
»Ich sage nur die Wahrheit.«
Lizzy Schindler lächelte geschmeichelt. Dann stakste sie auf die hinteren Sitzreihen zu, wohin sie der Pudel wild schnüffelnd zog. Karim warf seinem Freund einen panischen Blick zu.
»Wenn Sie vielleicht gleich hier Platz nehmen wollen?«, sagte Lipaire schnell und zeigte auf eine der vorderen Holzbänke.
»Louis will aber lieber nach hinten.« Noch immer zog der Köter wie ein Berserker an der Leine.
»Sicher. Nur wir hätten Sie eben gern hier in unserer Nähe. Wann hat man als einfacher Angestellter schon das Vergnügen, mit einer Dame von Welt Zeit verbringen zu können … Möchten Sie uns nicht vielleicht etwas aus den goldenen Zeiten unseres Örtchens erzählen? Von der Bardot vielleicht?«
»Au ja«, mischte sich jetzt auch Karim ein. »Das wär doch …« Er stockte, offenbar fiel ihm nicht das passende Wort ein. Madame Lizzy runzelte die Stirn.
»… überaus reizend, meint er, nicht wahr, Karim?«
Der Junge nickte.
»Von Brigitte? Wo fange ich da an?«
»Oder was mit anderen Prominenten?«, schlug Karim vor.
Lizzy Schindler lächelte beseelt. »Natürlich. Mit Prominenten war ich auf Du und Du. Ich könnte Ihnen da Sachen erzählen! Ende der Siebziger hatte ich zum Beispiel öfter Besuch von diesem Politiker. Nur der Minister für Kultur, aber immerhin. Seine Familie war in Sainte-Maxime abgestiegen, und wir mussten ihn jeden Abend auf dem Fischerboot wieder aus der Stadt bringen, unter den stinkenden Netzen. Einmal haben wir ihn sogar in die Kühlbox gesteckt.«
»Unglaublich«, sagte Guillaume, der auf einmal seltsam abwesend wirkte.
»Dann war da dieser Schauspieler, der sich jeden Morgen partout von einem Hubschrauber …«
»Wie schade, ein andermal, Madame Lizzy. Wir sind schon da.« Karim deutete auf die Haltestelle an der Kirche, an der wie immer bereits einige Touristen warteten.
»So schnell?«
»Ja, ich hab etwas mehr Gas gegeben als sonst. Sie haben es sicher eilig.«
»Sehr umsichtig von Ihnen, junger Mann.«
Als Lipaire der alten Dame samt Hund auf den Steg geholfen hatte, drehte die sich noch einmal um: »Fahren Sie denn ab jetzt immer mit, Monsieur … wie war noch gleich Ihr Name?«
»Lipaire. Guillaume Lipaire.«
»Na, so was. Ich dachte, Sie seien ein Landsmann. Oder zumindest Deutscher.«
Er ging nicht darauf ein. »Ich bedaure, aber ich kann nur zu besonderen Gelegenheiten an Bord sein.«
Lizzy nickte, zog heftig an der Hundeleine und stakste davon.
Kurz darauf hatten sie die Haltestelle wieder verlassen – allerdings erst, nachdem sie fünf hartnäckige Urlauber überzeugt hatten, dass dies hier nicht das Express-Linienboot nach Saint-Tropez sei, für das sie eben bei dem mobilen Verkaufsstand verbilligte Tickets erstanden hätten, dass das Boot aber bestimmt in den nächsten zwei Minuten komme und ihnen ansonsten ihr Geld von der Verkäuferin, von der allerdings nichts mehr zu sehen war, zurückerstattet werde.
»Hat Francine heute wieder ihre gefälschten Tickets verkauft?« Lipaire nickte anerkennend.
»Vermutlich. Macht sie alle drei Wochen. Sie hat eine feste Route, die sie abklappert. Wenn sie dann das nächste Mal aufkreuzt, sind die Touristen längst wieder zu Hause und haben andere Probleme als ein Boot, das niemals kam.«
Sie lächelten sich wissend an. Die immerwährende Rotation der Gäste eröffnete ihnen Chancen, die es nur in Urlaubsorten gab.
»Und wohin jetzt?«, fragte Karim.
Statt zu antworten, sah sich Lipaire nach allen Seiten um.
»Was ist denn dein Plan?«
»Mein Plan ist, dass wir … zu Olivier fahren.«
»Dem Fischer? Wegen Madame Lizzys Geschichte eben?«
»Wegen … nein, das hatte ich schon die ganze Zeit vor.«
»Und was willst du ihm erzählen?«
»Olivier? Gar nichts. Denn der dürfte um die Zeit in Saint-Tropez sein und Louis-Vuitton-Taschen verkaufen. Er ist doch neuerdings nur noch Fischer im Nebenerwerb.«
Karim runzelte die Stirn. »Und dann arbeitet er ausgerechnet in einer Nobelboutique?«
»Boutique? Er vertickt hinter der Hafenmauer diese nachgemachten Dinger. Bis die flics ihn verjagen.«
Inzwischen hatten sie den Liegeplatz des letzten im täglichen Einsatz befindlichen Fischerboots von Port Grimaud fast erreicht, eine Lücke zwischen zwei Häuserreihen der Rue du Septentrion.
»Leg einfach parallel zu Oliviers Kahn an«, ordnete Lipaire an.
Karim nickte und steuerte das Boot Richtung Kai.
»Pass auf: Wir werden ihn in der Kühltruhe an Deck zwischenlagern. Bis heute Abend, da kommt er dann an seinen endgültigen Bestimmungsort. Na, weißt du inzwischen, wo das sein könnte?«
Karim schüttelte genervt den Kopf, vertäute das Wassertaxi am rot lackierten Fischerboot, auf dem ein Gewirr aus Netzen, Leinen und Kisten lag. »Und was, wenn Olivier die Truhe aufmacht?«
»Das wird er nicht. Er fährt erst nach Mitternacht wieder raus, und das Ding ist obendrein leer. Ich hab ihn gesehen, er hat seinen gesamten Fang an den Wirt vom Escargot d’Or verkloppt.«
»Aber wenn er doch reinschaut?«
»Dann findet er eine Leiche, um die er sich selber kümmern muss. Und wir sind fein raus.« Damit ging Lipaire an Deck des Kahns und hob den rostigen Deckel der Kühltruhe an.
Fünf Minuten später hatten sie ihre Fracht unbehelligt verstaut, allerdings erst, nachdem Lipaire die vier schönen Langusten, die in einer Ecke herumlagen, an sich genommen hatte. »Die kleinen Scheißerchen werde ich mir nachher gönnen. Kann man ja niemandem mehr zumuten, wenn sie neben einem Toten gelegen haben. Dazu ein Gläschen von dem Bergerac Rosé aus dem Fundus von Herrn Suttner. Du weißt schon, dem deutschen Dirigenten. Die Suttners haben diesen praktischen Gasgrill auf der Terrasse und kommen frühestens in sechs Wochen zurück.«
Karim schüttelte nur lachend den Kopf. Sein Freund war einfach unverbesserlich.
»Sei doch so gut und fahr mich dort vorbei, ja?«
»Kommst du denn da überhaupt rein?«
»Der Schlüssel müsste unter dem Geranientopf auf der Terrasse liegen, wenn ich nicht irre.«
»Immer für alles eine Lösung, was?«
»Klar, man darf das Leben nicht zu ernst nehmen.«
»Und den Tod auch nicht, stimmt’s?« Karim deutete auf das Fischerboot.
»Genau. Was machst du denn den Rest des Tages?«
»Ich würd mal sagen: arbeiten.«
»Verstehe«, murmelte Guillaume Lipaire. »Schade, irgendwie.«
»Warum?«
»Na ja, weil ich einen Spezialauftrag hätte. Einen, den nur du ausführen kannst.«
»Also gut, lass hören!« Karim lenkte das Wassertaxi an den freien Anlegeplatz der Suttners.
»Wir sind den Toten zwar los, aber was, wenn er den Vicomtes doch irgendwie fehlt? Schließlich hat er in ihrem Haus gelegen. Wenn sie ihn suchen und dann auf uns kommen?«
»Und was genau hab ich damit zu tun? Streng genommen ist es dein Toter.«
»Nur keine falsche Bescheidenheit, er gehört uns beiden. Du könntest also zu den Vicomtes gehen, ihnen sagen, dass die Jacht repariert ist, und dich unverbindlich umhören, ob sie irgendetwas vermissen.«
»Irgendwen, meinst du …«
»Du bist einfach ein schlaues Kerlchen.«
»Könntest du ja auch einfach selber machen. Sieht verdammt danach aus, als hättest du nichts weiter vor.«
Lipaire wiegte den Kopf hin und her. »Könnte ich. Aber bei dir ist es viel unauffälliger. Und wenn ich die Langusten jetzt noch länger ungekühlt liegen lasse, verderben sie am Ende. Damit ist keinem geholfen, das musst du zugeben.«
»Unglaublich«, sagte Karim seufzend. »Du verkaufst am Nordpol Kühlschränke, wenn es sein muss. Ja, von mir aus, ich geh später noch bei ihnen vorbei. Kann dir ja sowieso keine Bitte abschlagen.«
Lipaire lächelte zufrieden. »Toll, dass du das freiwillig übernimmst, Junge. Meld dich einfach, wenn du etwas weißt. Nur bitte nicht zwischen zwei und drei, da würde ich gern auf dem Balkon der Suttners eine kurze Siesta machen. Sie haben diese wahnsinnig bequemen Wellnessliegen.«