»Verdammt noch mal, wo bleibt das Arschloch?« Yves knallte das Glas so heftig auf den Tisch, dass alle im Raum zusammenzuckten.
Auch wenn Marie diese Ausdrucksweise verabscheute, so konnte sie ihn doch verstehen. Warum ließ Barral sie nur so lange warten? Er selbst hatte sie doch um dieses Treffen gebeten. Sie regelrecht herbestellt. Wie Dienstboten. War nicht er es, der etwas von ihnen wollte? Zumindest hatte er eine ziemlich hohe Summe Geld für das gefordert, was er ihnen anzubieten hatte.
»Ich verstehe das nicht. Wir sind doch bereit, seinen Forderungen zu entsprechen«, fasste Isabelle ihre Gedanken in Worte.
»Aber er hat auch mitbekommen, wie sehr wir an der Sache interessiert sind«, brummte Yves. »Wahrscheinlich will er jetzt den Preis in die Höhe treiben.«
Daran hatte Marie auch schon gedacht. Wenn es stimmte, hatten sie kaum Möglichkeiten dagegenzuhalten. Barral saß am längeren Hebel. Sie seufzte und ließ ihren Blick über die lange Tafel wandern. Alle hatten mit großem Abstand zueinander Platz genommen, als hätten sie Angst vor einer ansteckenden Krankheit, die sie sich bei zu großer Nähe einfangen könnten. Und alle waren nervös, wobei jeder seine eigene Art hatte, damit umzugehen. Selbst ihr Vater schien aufgeregt, sein Gesicht zeigte hektische rote Flecken. Yves zappelte mit den Beinen und stand immer wieder auf, Isabelle nahm ständig ihr Mobiltelefon zur Hand, nur um es gleich wieder wegzulegen. Lediglich Henri wirkte ruhig, was wahrscheinlich am Alkohol lag. Er hatte, seit sie mit der Jacht in Marseille abgelegt hatten, permanent eine Flasche und ein Glas in der Hand gehabt. Allerdings wirkte er auf Marie nicht betrunken. Ihr Halbbruder schien eine Menge zu vertragen.
»Er kommt schon noch. Auch für ihn geht es um viel«, sagte er.
Marie beruhigte das nicht. Schließlich hatten sie ein Treffen um zwölf vereinbart, nun aber war es bereits Nachmittag. Und bei dieser Art von Geschäft war man normalerweise pünktlich. Sie kritzelte auf einem Block herum, der vor ihr auf dem Tisch lag.
»Vielleicht hat er ja auch Probleme mit seinem Boot«, mutmaßte Henri und warf Yves einen vielsagenden Blick zu.
Der sprang auf. »Das Ruder war blockiert. Aber wenn du so schlau bist, dann steuere doch nächstes Mal selbst.«
»So hab ich das nicht gemeint. Aber wenn du es schon ansprichst …« Henri prostete seinem Neffen zu.
Dann schwiegen sie wieder. Nur ab und zu durchbrach ein schwerer Atemzug von Chevalier Vicomte die Stille. Auf einmal steuerte der Senior seinen Rollstuhl vor die gläserne Vitrine mit den Weinflaschen, die neben dem Fenster an der Wand stand.
Yves sog scharf die Luft ein, Isabelle verdrehte die Augen. Marie wusste, dass die beiden diese Anbetung für völlig übertrieben hielten. Aber sie hatte Verständnis dafür. Jedenfalls ein bisschen. Als amtierende Geschäftsführerin des Familienbetriebs war sie quasi täglich mit der ruhmreichen Vergangenheit konfrontiert. Eine Vergangenheit, von der nicht mehr allzu viel übrig war. Doch diese drei Weinflaschen zeugten noch davon, standen symbolhaft für den einstigen Erfolg des Weinimperiums, bevor ihr Bruder Antoine … Marie wischte den Gedanken beiseite. Das würde ihre Stimmung nur noch weiter verdüstern.
Sie stand auf, ging zu ihrem Vater, legte ihm die Hand auf die Schulter und betrachtete ebenfalls die Flaschen in dem gläsernen Tresor, die von kleinen Spots angestrahlt wurden wie Filmstars bei einer Premiere. Die ältesten noch erhaltenen Flaschen der Marke Vicomte. Samtiger, schwerer Rotwein. Vielleicht waren sie längst ungenießbar. Aber trotzdem alles andere als wertlos. Wozu auch der Anlass beitrug, zu dem sie gekeltert worden waren, die Kaiserkrönung Napoleons III. anno 1852. Vor hundertsiebzig Jahren. Unfassbar. Ihren beträchtlichen Wert kannten sie genau, seit Chevalier schweren Herzens in die Versteigerung von einer der ursprünglich vier Flaschen eingewilligt hatte. Das Geld hatten sie benötigt, um die Firma zu retten, als gleich mehrere Kredite nicht mehr bedient werden konnten. Und der Betrag hatte ausgereicht, um die Misere zu beheben. Ihr Vater hatte sein Einverständnis später bereut, als er merkte, wie sehr die Versteigerung die Gier der anderen Familienmitglieder entfacht hatte. Alle wussten nun, welche Werte hier schlummerten und wie schnell man sie zu Geld machen konnte. Immer wieder brachten sie eine mögliche weitere Versteigerung zur Sprache. Doch zwischen ihnen und den Flaschen stand, oder vielmehr saß, Chevalier Vicomte. Für ihn war dieser Wein ein Symbol, mehr wert als alles Geld dieser Welt. Ein Symbol einstiger Größe. Und zukünftiger, wenn alles nach Plan verlaufen würde.
Als könne er Maries Gedanken spüren, wanderte Chevaliers Hand zu der Kette an seinem Hals, an der ein goldfarbener Schlüssel hing. Der Schlüssel zum Weintresor, einer Sonderanfertigung, die komplett aus Panzerglas gefertigt war. Yves hatte einmal die Vermutung geäußert, dass er ihn mit ins Grab nehmen wolle. Vermutlich hatte er recht. Marie war sich sicher, dass Papa in seinem Testament verfügt hatte, dass niemand die Flaschen anrühren dürfe. Jedenfalls nicht, wenn er oder sie sich nicht um den Erbteil bringen wollte.
»Was ist das denn?« Isabelles Stimme holte Marie ins Hier und Jetzt zurück.
»Was denn, Liebes?«
»Das da.« Isabelle hielt etwas hoch. Alle blickten zu ihr. Als Marie ein paar Schritte auf ihre Tochter zumachte, erkannte sie ein Streichholzheftchen in ihrer Hand.
»Tu doch nicht so, als würdest du nicht auch ab und zu eine rauchen«, brummte Yves.
»Ich weiß, was das ist, du Idiot. Aber wie kommt es in unsere Bibliothek?«
Yves stand auf und nahm es ihr aus der Hand. »Hm, komisch. Das ist aus einer Hafenkneipe in Toulon.«
»Toulon?« Isabelle hob die Augenbrauen. »Wer von uns verkehrt bitte freiwillig in diesem hässlichen Kaff? Da wohnen doch nur …« Sie sprach nicht weiter, aber Marie wusste, was sie meinte. Toulon war eine schmucklose, von Arbeiterquartieren dominierte Hafenstadt, in die sie selbst noch nie einen Fuß gesetzt hatte.
»Das wird Yves bei einer seiner Sauftouren aufgegabelt haben, oder?«, vermutete Henri.
Marie sah ihren Halbbruder verwundert an. Dass ausgerechnet er sich an Yves’ Alkoholkonsum störte, empfand sie als nachgerade lächerlich. Schließlich sprach er dem Wein von ihnen allen am meisten zu. Zumindest in dieser Hinsicht passte er ganz gut in ihre Weindynastie, dachte sie bitter.
Yves’ Augen funkelten angriffslustig. »Wahrscheinlich ist es von einem deiner minderjährigen Autoren-Flittchen.«
»Das nehm ich jetzt mal als Kompliment«, entgegnete Henri und kippte den Rest des Glases in sich hinein.
Doch Isabelle ließ sich nicht beirren. »Was, wenn dieser Barral schon da war? Stammt der nicht aus Toulon?«
Marie legte ihre Stirn in Falten. »Was willst du damit sagen?«
»Dass er vielleicht schon hier im Haus war.«
»Schwachsinn«, entfuhr es Henri ungewöhnlich scharf. »Wie sollte er denn hereingekommen sein?«
»Vielleicht hat jemand …« Ein Klopfen an der Tür ließ Isabelle verstummen.
»Na bitte, da ist unser Gast ja endlich. Hast dich wohl getäuscht, Miss Marple.« Yves wirkte erleichtert und eilte zur Tür, die anderen blickten ihm gespannt hinterher.
»Du?«, hörte Marie ihren Neffen überrascht ausrufen. Sie erhob sich. Draußen stand wieder der Junge von vorhin. »Dachte, du wärst schon längst fertig, Petitbon.«
»Es tut mir leid, das mit dem Ruder hat länger gedauert.«
»Was war denn?« Yves klang nicht, als würde es ihn wirklich interessieren.
»Etwas hatte sich darin verklemmt, wie Sie vermutet hatten, Monsieur. Ein bisschen schwer zu entsorgen … entfernen, meine ich. Schwimmt ja immer mehr … Unrat rum, da draußen.«
Yves hielt dem Jungen einen Zwanziger hin, den der mit einem Kopfnicken an sich nahm.
»Kann ich sonst noch was für Sie tun, Monsieur?«
»Nein, außer meine Nerven schonen.«
»Wenn Sie noch irgendwas brauchen, dann …«
»Himmel, sieh zu, dass du endlich Land gewinnst!«
»Ich dachte nur … vielleicht fehlt Ihnen ja etwas.«
Yves hatte die Tür schon halb geschlossen, da hielt er inne. Er öffnete sie wieder ganz und musterte Petitbon mit zusammengekniffenen Augen. »Was meinst du damit?«
»Nur, dass ich, falls Sie etwas suchen oder …«
»Uns fehlt nichts. Jedenfalls nichts, was du uns besorgen könntest.«
»Sicher?«
»Jetzt werd mal nicht frech, Kleiner!«
»Wenn doch, dann …«
Jetzt riss Yves der Geduldsfaden, und er knallte die Tür zu. Gedämpft erscholl dahinter noch einmal Karim Petitbons Stimme. »Es wäre mir wirklich eine Freude, Ihnen bei jedweder Suche oder Besorgung zu helfen.«
»Zieh Leine, crétin «, brüllte Yves und ging an Marie vorbei zum Tisch. Die anderen blickten ihn fragend an.
Nur Henri grinste. »Schwer, heutzutage gutes Personal zu finden, was?«
»Kannst du laut sagen.«
»Was wollte der Junge denn?«
»Sich andienen. Vielleicht braucht er Geld. Er hat mir irgendwann erzählt, dass es sein Traum sei, auch mal Regatten zu fahren. Ich lass ihn in dem Glauben, dass er das schaffen wird. Ansonsten kann man ihn leidlich als Schiffsmechaniker brauchen. Er macht fast alles. Und das für einen Hungerlohn.« Yves lachte polternd.
»Du bist so ein Snob«, sagte Isabelle.
»Das sagst ausgerechnet du?«
»Was wollte er denn jetzt genau?«, insistierte Henri.
»Er wollte wissen, ob wir etwas suchen, und hat uns angeboten, alles zu besorgen, was wir benötigen.« Er machte eine kurze Pause und fuhr dann fort: »Wenn man’s nicht besser wüsste, könnte man gerade meinen, er weiß was über diesen Barral.«