Transportprobleme

Es war kurz nach sieben, als es an der Tür von Guillaume Lipaire klopfte. Ächzend erhob er sich von seinem Bett, in dem er sein tägliches Spätnachmittag- bis Frühabendnickerchen gehalten hatte, und kletterte die Leiter in seinen Wohnraum hinunter. Er mochte das Hochbett, das sein Vorgänger hier eingebaut hatte, auch wenn sich direkt unter der Zimmerdecke immer die Wärme staute. Die meisten gardien -Wohnungen hatten diese »halbe Etage«. Er fluchte eigentlich nur darüber, wenn er nachts rausmusste, denn dabei hatte er schon ein paarmal nicht den richtigen Tritt gefunden.

»J’arrive« , rief er in Richtung Tür, strich sich vor dem Spiegel die Haare glatt und öffnete. Draußen stand Karim Petitbon, der von einem Bein aufs andere tänzelte.

»Ich muss unbedingt pissen«, platzte er heraus und stürzte an Lipaire vorbei in Richtung der kleinen Nasszelle.

»Ausdrucksweise!«, rief ihm Guillaume mahnend hinterher, da fiel bereits die Toilettentür ins Schloss. »Und ein Gruß sollte ja wohl drin sein.« Er holte zwei Dosen Bier aus dem Kühlschrank, machte gerade so viel Platz auf dem übervollen Esstischchen, dass er sie abstellen konnte, und ließ sich auf einen der Plastikstühle sinken.

»Mann, das war knapp, beinahe hätte es mir den Hydranten weggerissen!«, erklärte Karim, als er sich zu ihm gesellte.

Lipaire schüttelte ungläubig den Kopf. »Wohin soll das nur führen mit dir? Wenn du dich eines Tages in besseren Kreisen bewegen möchtest, musst du auch so reden wie die.«

»Ja, schon gut. Ich geb mir Mühe, okay?«

»Apropos bessere Kreise: Bist du bei den Vicomtes weitergekommen?«

»Hm?«

»Ob du bei denen irgendwas rausbekommen hast. War dein Gespräch aufschlussreich?«

Karim machte seine Bierdose auf und nahm einen großen Schluck. »Aufschlussreich? Klar, und wie. So was von aufschlussreich, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.«

»Vielleicht … am Anfang? Hier, setz dich.« Lipaire schob ihm mit dem Fuß einen Stuhl hin.

Karim nahm Platz und holte tief Luft. »Also, erst mal, da hab ich natürlich geklopft, bei denen.«

»Ziemlich geschickter Schachzug«, sagte Guillaume grinsend. Offenbar war bei der Unterredung nichts herausgekommen, sonst hätte Karim es längst erzählt. Aber er war gespannt, was der Junge alles zusammenfabulieren würde. Auch er öffnete also seine Dose und bedeutete Karim, weiterzuerzählen.

»Ja, und dann … haben sie aufgemacht.«

»Alle?«

»Nein, Yves Vicomte.«

»Und dann?«

»Hab ich gefragt.«

»Was?«

»Ob sie was vermissen und ob ich was für sie tun kann. Ich hab das sogar auf verschiedene Arten getan, hab mir mehrere Formulierungen einfallen lassen«, erklärte Petitbon mit stolzgeschwellter Brust.

»Aha. Und, vermissen sie was?«

»Nö, also nicht direkt jedenfalls.«

»Und indirekt?«

»Indirekt ist das schwer zu sagen, weil mir dieser Yves irgendwann einfach die Tür vor der Nase zugeknallt hat. Aber ich hab dann trotzdem noch gesagt, dass sie sich melden sollen, wenn was ist. Durch die Tür. Von draußen. Nicht schlecht, oder?«

Lipaire musste kichern.

»Wieso lachst du?«

»Weil du nichts erreicht hast, dich aber zierst, es zuzugeben, als wären wir im Mädchenpensionat.«

»Das stimmt doch gar nicht!«

»Okay, also, wie ist dein Eindruck: Vermissen sie den Typen in der Kühltruhe? Denken sie, wir haben was mit seinem Verschwinden zu tun? Haben sie ihn kaltgemacht?«

»Na ja, also, so genau kann ich das jetzt … ich mein, das sind ja so viele Fragen auf einmal, und ich war gerade mal ’ne Minute dort.«

»Weißt du, was, Karim? Ich versuche einfach, das in den nächsten Tagen selbst mal zu klären, d’accord

Der Junge seufzte. »Wenn du meinst. War doch wirklich ein bisschen viel, was ich alles hätte rausbekommen sollen, das musst du zugeben.«

»Ja, mag sein«, gab Lipaire brummend zurück. »Das heißt, wir haben noch immer keine Ahnung, wer der Verblichene ist. Wenn du dich nur ein bisschen geschickter …«

»Wir müssen ihn jetzt erst mal wegbringen. Stell dir vor, Olivier überprüft seine Netze oder räumt auf seinem Kahn auf.«

Lipaire lachte kehlig. »Keine Sorge, seit ich hier bin, wäre es das erste Mal, dass Olivier irgendetwas aufräumt.«

»Trotzdem … was ist denn jetzt dein Plan?«

Guillaume lächelte verschmitzt. »Bist also tatsächlich nicht draufgekommen, wie?«

Petitbon zog die Schultern hoch.

»Okay, ich sag’s dir, wenn wir auf dem Boot sind. Wo hast du festgemacht?«

»Ich hab das Boot heute Abend nicht.«

»Dein coche d’eau

»Genau genommen ist es nicht mein Wassertaxi, aber: ja.«

»Merde! Wie sollen wir den Bleichen dann von Oliviers Boot kriegen? Wir können ja schlecht ein Stand-up-Paddle nehmen. Was ist denn los mit dem Taxi?«

»Ist gerade nicht einsatzbereit.«

»Warum?«

Karim sah zu Boden und murmelte: »Es ist nicht geladen, putain! «

»Nicht schon wieder fluchen, Karim. Kann keiner was dafür. Außer dir.«

»Ich weiß schon. Und jetzt? Können wir nicht irgendeins von diesen Booten da nehmen?« Karim zeigte auf das große Schlüsselbrett an der Wand, an dem fein säuberlich getrennt die Haustür-, Auto- und Bootsschlüssel der Leute hingen, für die Lipaire arbeitete.

Guillaume schüttelte vehement den Kopf. »Nein, das mach ich nicht. Dabei kann viel zu viel schiefgehen. Denk nur an Didier.«

»Welchen Didier?«

»Den von der Werft, der sich vor zwei Jahren ein Schnellboot geschnappt hat, das sie für einen Kunden überholt haben. Und was ist passiert?«

»Keine Ahnung.«

»Abgesoffen ist er. Mitsamt dem Boot.«

Karim sah ihn mit großen Augen an.

Guillaume nickte bedeutungsschwer. »Wir brauchen eine andere Lösung.« Er erhob sich und ging zu seinem Küchenbüfett, auf dem eine flache Blechkiste mit der Aufschrift Ammann’s feine Teebiskuits stand. Vor Jahren hatte er sie im Mülleimer eines seiner Häuser gefunden und zum Aufbewahrungsort für seine ebenso umfangreiche wie hilfreiche Adressdatei umfunktioniert. Als Trenner für die Buchstaben fungierten kleine Holzbrettchen, hinter denen sich dann Kartei- und Visitenkarten, Zettel oder Zeitungsausschnitte befanden.

Das Geniale daran war, dass er sie nicht nach Namen, sondern nach Themengebieten geordnet hatte. Er entnahm also dem Fach Transport die darin liegenden Adresskärtchen und begann, sie zu sichten. Als er die Nummer von Bruno, der bei der Müllabfuhr arbeitete, in die Hände bekam, überlegte er kurz, blätterte dann aber weiter. Es gab keinen Grund, pietätlos zu werden. Ob er bei Brigitte anrufen sollte, deren Mann einen Eselskarren samt Zugtier besaß? Nein, zu laut und zu langsam, verwarf er den Gedanken gleich wieder. Maximes Elektrotandem war für den Zweck ebenso wenig geeignet wie Rachids riesiger Sattelschlepper. Vielleicht das alte Amphibienfahrzeug von Gernot, dem steirischen Koch und Oldtimerfan? Aber das hatte sicher wieder irgendeine Macke, mutmaßte er und fand schließlich den richtigen Kontakt. »Das ist es«, verkündete er selbstsicher und langte nach seinem Telefon.

»Würdest du mich vielleicht mal in deine Pläne einweihen?«

»Klar«, sagte Guillaume grinsend. »Aber jetzt noch nicht.«

Er wählte die Nummer und hatte kurz darauf Nicolas am Apparat. Sein Transporter würde sich ganz hervorragend für ihre Bedürfnisse eignen. Er willigte ein und sagte zu, gegen Mitternacht bei Lipaire zu sein.

»Wer war das denn jetzt?« Karim war sauer, das war nicht zu übersehen.

»Ganz ruhig. Ich sag’s dir ja: Ich hatte Nici am Telefon. Er hat genau das, was wir brauchen.«

»Nicolas vom Laden?«

»Exactement.«

»Der hat einen Transporter?«

»Nicht nur das: Das Ding hat genau die richtige Größe für unseren Zweck. Außerdem fällt es nicht unter das nächtliche Autoverbot. Und Nici fragt nicht nach. Kein einziges Mal bisher. Sehr diskret, auch bei heiklem Frachtgut.«

Karim schien zu überlegen. »Moment mal, Guillaume, was meinst du mit ›kein einziges Mal‹ und ›heikles Frachtgut‹?«

»Das Erste heißt so viel wie ›nie‹ und das Zweite …«

»Das weiß ich. Aber was hat er denn schon für dich fahren müssen, was so heikel war?«

Guillaume rieb sich die Nase. »Na ja, also, nachdem Rudi so überraschend verstorben war …«

Karim bekam große Augen. »Rudi? Sag bloß, du hattest schon mal einen Toten.«

Guillaume grinste. »Nicht nur einen.«

Karims Kiefer klappte nach unten.

»Aber keinen Menschen, ganz ruhig. Rudi war der Papagei von holländischen Kunden.«

»Ach so. Und was war los mit dem Piepmatz?«

»Na ja, ich hatte versprochen, mich um ihn zu kümmern. Aber woher sollte ich denn bitte wissen, dass so ein Flattermann derart viel Aufmerksamkeit braucht? Schließlich war ich fast jeden Tag bei ihm.«

»Fast?«

Lipaire winkte ab. »Im Nachhinein betrachtet, lag es wahrscheinlich gar nicht an mir. Rudi war ja schon zehn.«

»Ich hab im Fernsehen gesehen, dass Papageien bis zu hundert Jahre alt werden können. Locker.«

Lipaire seufzte. »Rudi war das nicht vergönnt. Wie dem auch sei, ich musste für Ersatz sorgen. Zufälligerweise bin ich am nächsten Tag nachts in Saint-Tropez an einer großen Voliere vorbeigekommen, und Rudi zwei ist mir regelrecht zugeflogen. Lebt immer noch bei den Holländern, ist also viel haltbarer als Rudi eins. Und dass er plötzlich Französisch sprach, hat die sehr gefreut.«

Karim schüttelte den Kopf. »Du bist und bleibst unverbesserlich. Gibt es irgendwas auf der Welt, was du dir nicht schönreden kannst?«

Lipaire zuckte mit den Achseln. » Das Leben ist zu kurz und zu schön, um sich darüber Sorgen zu machen.«

»Also, im Moment mach ich mir schon Sorgen, wer der Typ ist, den wir bei den Vicomtes gefunden haben, du nicht?«

»Doch, wie gesagt. Mich würde interessieren, ob noch irgendjemand Zugang zu deren Haus hat. Die sind ja erst gekommen, nachdem wir ihn gefunden haben.«

»Hm, stimmt.«

»Wie dem auch sei, wir müssen gut aufpassen, dass es nichts gibt, was uns mit ihm in Verbindung bringt. Sonst merken die Vicomtes am Ende doch noch, dass ich hin und wieder ihr Haus einer erweiterten Nutzung zuführe.«

»Kannst du geschwollen daherreden!«

Lipaire nahm das, bei aller Kritik, als Kompliment.

»Sag doch einfach, dass du sie bescheißt …«

»Ach, das hört sich so hässlich an. Ihr Anwesen ist eine der Perlen in meinem Vermietungs-Portfolio.«

»Portfolio«, wiederholte Karim kopfschüttelnd. »Aber was meinst du: Wie ist er gestorben?«

»Na ja, wie gesagt, ich hab nichts erkennen können, was auf Gewalt hindeutet. Bin aber ja auch nur Apotheker. Gewesen. Vielleicht ist er einfach vom Stängelchen gekippt.«

»Stängelchen …«, wiederholte Karim. »So wie Rudi?«

»So ähnlich. Aber hör mal: Nicolas braucht noch eine Weile, so lange haue ich mich noch aufs Ohr. Ich hatte einen ziemlich anstrengenden Tag. Die Vermieterei sieht immer so einfach aus, macht aber schrecklich müde.«