Piraten

»Guillaume? Guillaume, hörst du? Mon Dieu , Wilhelm!«

Lipaire richtete sich kerzengerade auf. Nur wenige Menschen kannten seinen wahren Namen, und wenn er ihn hörte, fuhr es ihm immer in alle Glieder, selbst im Schlaf. Er war sofort hellwach und starrte in Karim Petitbons gerötetes Gesicht. »Was ist denn los, zum Teufel?«

»Er ist da.«

»Wer?«

»Na, der … Transporteur. Aber hör mal, Guillaume …«

»Was denn?« Lipaire entspannte sich etwas. Karim hatte wieder die französische Version seines Vornamens benutzt.

»Das geht auf keinen Fall.«

Mit einem Ächzen kletterte er aus dem Bett und folgte dem jungen Mann nach draußen. Dort stand, eine E-Zigarette im Mundwinkel, deren Dampf ihn und die halbe Straße in eine Wolke hüllte, Nicolas. Er lehnte an seinem Lastenfahrrad und tippte sich zum Gruß an die Schiebermütze.

»Siehst du?« Karim deutete auf das Gefährt.

»Hat doch genau die richtige Größe. Danke, dass du so schnell kommen konntest, Nici.«

Der Mann mit der Schiebermütze nickte.

»Aber mit dem Ding können wir nicht fahren.« Petitbon blickte Lipaire mit weit aufgerissenen Augen an.

Der hatte längst verstanden: Das Lastenfahrrad war zwar zweckmäßig, aber zugegebenermaßen auch ein wenig auffällig. Auf ihm prangte das Logo des Süßigkeitenladens Les Bonbons du Pirate. Lipaire hatte nie verstanden, warum diese Kette als Maskottchen für ihre Läden ausgerechnet einen Seeräuber gewählt hatte. Der wäre für einen Schnapsladen weitaus passender gewesen. Aber so stand auf der knallbunt bemalten Lastenkiste des Fahrrads die fast lebensgroße Figur eines Piraten mit Hakenhand und Augenklappe. »Es ist so, Karim: Die beste Tarnung ist immer die, die nicht danach aussieht, als würde man etwas verstecken, verstehst du?«, flüsterte Lipaire.

Petitbon sah nicht so aus, als würde er ihm das wirklich abnehmen. Der Junge musste eben noch viel lernen, und da er keinen Vater mehr hatte, würde Lipaire die Aufgabe übernehmen, ihm derartige Weisheiten zu vermitteln. »Das ist wie bei deinem Taxi.«

»Was hat das Wassertaxi damit zu tun?«

»Na, das nehmen wir doch auch ab und zu für unsere … privaten Fahrten. Hast du dich nie gefragt, warum?«

»Weil ich der Einzige bin, der Zugriff auf ein Boot hat und so ein Ding fahren kann?«

»Ja, das auch. Aber vor allem, weil es niemandem auffällt, obwohl es so groß ist. Es gehört zum Stadtbild, niemand dreht sich danach um.«

Jetzt hellte sich Karims Miene auf, und Lipaire nickte zufrieden. Der Junge hatte wieder etwas gelernt.


»Wohin soll’s gehen?«, wollte Nicolas nach ein paar Minuten wissen, in denen ihm Guillaume vom Gepäckträger aus lediglich die jeweils einzuschlagende Richtung angegeben hatte, während Karim neben ihnen herjoggte.

Statt einer Antwort tippte Lipaire dem Fahrer von hinten auf die Schulter.

»Was denn?«, fragte der.

»Wir sind da.«

Nicolas hielt an. Sie standen vor Oliviers rotem Kahn. Man sah ihn kaum, die Jachten ringsherum überragten das Fischerboot deutlich.

»Warte hier, wir sind gleich zurück.« Lipaire stieg ab und winkte Petitbon, der keuchend zu ihnen aufschloss. Sie sprangen an Deck und holten aus der Kühltruhe ihre notdürftig in die kläglichen Reste der Plane gehüllte Fracht, die nun, in halb gefrorenem Zustand, deutlich unhandlicher zu transportieren war. Als sie ächzend bei Nicolas ankamen, sagte der: »Da ist euch aber ein dicker Fisch ins Netz gegangen.«

Bevor einer der beiden etwas erwidern konnte, zuckte Nicolas mit den Schultern und klappte sein Lastenabteil auf. Kaum hatten sie den Körper hineingewuchtet, knallte Petitbon die Abdeckung wieder zu.

»Und jetzt?«

»Jetzt, Nicolas, gehen wir dahin, wo du schon viel zu lange nicht mehr warst.«

»Ins Schlafzimmer meiner Frau?«

»In die Kirche, Ungläubiger.«


Die Fahrt zum Gotteshaus gestaltete sich nicht mehr ganz so angenehm, da wegen der schweren Fracht nur noch Nicolas fahren konnte. Guillaume und Karim liefen nebenher und hatten Mühe, Schritt zu halten. Bei der ersten Brücke, die sie erreichten, wartete der Fahrer kurz und winkte den beiden zu.

»Los, ihr müsst schieben! Mein Rad packt sonst den steilen Anstieg nicht.«

Lipaire verfluchte sich, dass er sich nicht doch für den Eselskarren entschieden hatte, und packte das Rad am Rahmen. Als sie den Scheitelpunkt erreicht hatten, gab er ihm einen kräftigen Schubs.

»Noooooon !«, hörte er Nici noch schreien, dann ging es für ihn, den Eingewickelten und den Plastikseeräuber in halsbrecherischem Tempo abwärts. Mit angehaltenem Atem sahen sie dabei zu, wie das Fahrrad in einem Affenzahn auf das Kopfsteinpflaster auf der anderen Seite der Brücke zuraste. Nicolas hatte alle Mühe, sich im Sattel zu halten, und die Hakenhand des Piraten schwankte bedenklich. Dann hörten sie ein Krachen, als das Lastenrad unsanft von einem herausschauenden Pflasterstein gebremst wurde.

»Putain de merde!« , schimpfte der Fahrer, der beinahe einen Satz über die Lenkstange gemacht hätte, dann drehte er sich mit erhobener Faust zu ihnen um. Karim und Lipaire rannten los und wurden unten von einem rotgesichtigen Nicolas empfangen. »Seid ihr von allen guten Geistern verlassen?«, blaffte er mit funkelnden Augen. »Ihr könnt mich doch da oben nicht anschieben! Meine Bremsen sind nicht mehr die neuesten. Wenn ihr so weitermacht, kann ich mich da gleich noch mit reinlegen!«

Sie folgten mit den Augen seiner Hand, die auf das Lastenabteil zeigte – und erstarrten im selben Augenblick: Zwei Beine schauten unter dem halb offenen Deckel des Kastens heraus – noch dazu ohne Plane. Die holprige Fahrt hatte anscheinend dafür gesorgt, dass sich der Fahrgast noch ein wenig mehr aus seiner Hülle geschaukelt hatte.

Sofort verstaute Lipaire die Füße hastig wieder in der Wanne und schloss den Deckel. Dann warf er dem Fahrer einen Blick zu, der ihn verdrießlich ansah. »Können wir dann wieder? Ich hab nicht ewig Zeit.«

Lipaire nickte. Bei den folgenden Brücken achteten sie penibel darauf, das Lastenrad mit vereinten Kräften abzubremsen, sobald es bergab ging. Ohne weitere Zwischenfälle und entsprechend erleichtert erreichten sie schließlich die Kirche, die um diese Zeit wie ein dunkles Fort in den Nachthimmel ragte.

Nicolas, offenbar nicht weniger froh, diese spezielle Fahrt hinter sich gebracht zu haben, holte seine E-Zigarette heraus. »Und jetzt?«

Lipaire warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Jetzt müsste gleich …«

»Wer da?«, zischte eine dunkle Gestalt, die sich aus dem Schatten der Kirche löste.

»Merde , der Pfarrer!«, entfuhr es Petitbon. Sein Gesicht wurde bleich.

Mit einem Nicken ging Lipaire auf den Geistlichen zu. »Gesegneten Abend, Abbé! «

»Abend? Es ist mitten in der Nacht.«

»Auch die Nacht ist eine gute Zeit, um im Haus des Herrn zu sein. Wollen wir?«

Der Pfarrer brummte etwas Unverständliches, dann zog er einen ausladenden Schlüsselbund aus seiner Tasche und sperrte das Portal auf.

»Wie hast du das denn geschafft, Guillaume?«, flüsterte Petitbon, der sich offenbar wieder ein bisschen beruhigt hatte.

»Mein Lieber, hier ist eine weitere Lektion: Jeder Mensch hat seine Schwachstellen, und sie zu kennen öffnet einem so manche Tür. Auch die der Kirche.«

»Wie meinst du das?«

Lipaire legte seinen Zeigefinger an die Lippen. »Ein andermal. Wir haben zu tun.« Er blickte zum Pfarrer, der sich immer noch bei der Tür herumdrückte. Offenbar interessierte ihn, was die drei zu dieser Stunde hier trieben. »Abbé , wir wollen Sie nicht weiter stören. Sie haben sicher … noch Gebete zu sprechen, für die vielen armen Seelen da draußen.«

Der Geistliche verstand und trollte sich widerwillig. »Schön, gehet hin in Frieden!«

Lipaire konnte sich nicht beherrschen und schickte noch einen Satz hinterher: »Danke, Abbé. Und vergessen Sie nicht, nach uns wieder abzuschließen. Nicht, dass sich noch irgendwelche Strolche nachts in Ihrem Gotteshaus zu schaffen machen.«

Dann luden sie im dichten Qualm von Nicis E-Zigarette ihre Fracht aus und bezahlten ihren diskreten Fahrer, der dampfend davonradelte. In der Kirche legten sie ihr schweres Paket ab und zündeten ein paar Opferkerzen an, um etwas Licht zu haben.

Petitbon schaute sich um. »Gibt’s hier ’nen Keller, oder wo soll der hin?«

Lächelnd schüttelte Lipaire den Kopf. »Wie lange lebst du schon hier, hm?«

»Das weißt du doch genau: schon immer.«

»Dann solltest du wissen, dass es in dieser Stadt keine Keller gibt.«

Der junge Mann wippte von einem Bein aufs andere. »Mag ja sein, aber was machen wir dann mit ihm? Bringen wir ihn da rauf?« Er sah zur Empore im hinteren Teil der Kirche. Guillaume schüttelte den Kopf.

»Wir können ihn ja schlecht …«, Karim schaute sich um, »… in den Sarkophag legen.«

Lipaire wollte ihn nicht noch länger auf die Folter spannen. »Und warum nicht?«

»Weil … das nicht geht!«

»Nein? Was kommt denn in einen Sarkophag rein?«

»Tote.«

»Genau. Und was ist unser Freund hier?«

»Spinnst du? In dem Ding liegt doch …«

»Gilbert Roudeau, genau. Der alte Knabe ist sicher froh über ein wenig Gesellschaft. Man sagt, er sei ein lebenslustiger Typ gewesen.«

Gilbert Roudeau  – der Name hatte in Port Grimaud einen Ruf wie Donnerhall. Er war der Architekt der künstlich angelegten Lagunenstadt. Mehr noch: Er hatte die Vision gehabt, hier überhaupt etwas zu errichten, hatte das Land gekauft, das vorher nur ein von Moskitos verseuchtes Feuchtgebiet gewesen war, hatte Investoren überzeugt, jedes einzelne Haus geplant, die Bauleitung innegehabt. Kurz: Ohne diesen Mann würden sie jetzt auf einer sumpfigen Brachlandschaft stehen statt in einer Kirche. Roudeau hatte sogar die bunten Glasfenster entworfen und den Bau obendrein der Gemeinde gestiftet, weswegen er nicht nur fast wie ein Heiliger verehrt wurde, sondern auch wie einer ruhte – in einem steinernen Sarkophag.

Karims Mund stand weit offen. »Du willst dich wirklich daran vergreifen und seine Totenruhe stören?«

»Hör zu, er ist ja nicht der Papst, sondern bloß ein Architekt, noch dazu in einer Urne. In dem Sarkophag ist noch massenhaft Platz.«

»Woher willst du das denn wissen?« Die Augen des jungen Mannes weiteten sich.

Lipaire grinste. Dennoch sorgte er sich ein wenig um seinen Begleiter, der von der ganzen Situation überfordert schien.

»Wie sollen wir denn den Deckel aufkriegen?«, fragte Petitbon mit kieksender Stimme. »Der ist doch viel zu schwer.«

»Normalerweise funktioniert das ganz gut.«

»Normalerweise?«

Wenn er jetzt nicht achtgab, würde Karim gleich ohnmächtig werden, befürchtete Lipaire. Es war wohl das Beste, wieder an die Arbeit zu gehen, um für etwas Ablenkung zu sorgen. Also holte er sich das Werkzeug, das er für solche Fälle im Sockel der Heiligenfigur im Altarraum deponiert hatte, steckte das Brecheisen in eine Lücke unter dem steinernen Deckel des Sarkophags und stemmte ihn auf. »Geht leichter, wenn man zu zweit ist«, ächzte er, und Karim packte mit an. Mit vereinten Kräften schoben sie die Steinplatte so weit zur Seite, bis die Öffnung groß genug war. Lipaire sah die Fragen in Karims Gesicht, ermunterte ihn aber nicht, sie zu stellen. Stattdessen leuchtete er mit der Taschenlampe seines Handys in den Sarg. »So, Monsieur l’Architecte , jetzt mal ein bisschen rücken, Sie bekommen Besuch.« Dann murmelte er, »oh, das muss ich beim letzten Mal vergessen haben«, griff nach einem metallenen Gegenstand und ließ ihn in seiner Tasche verschwinden.

»Guillaume, heute bist du mir unheimlich«, flüsterte Petitbon.

»Danke für das Kompliment. Aber jetzt an die Arbeit. Wenn wir fertig sind, haben wir eine Sorge weniger. Da drin findet ihn keiner.«