»Wenn dieser Vollidiot nicht bald kommt, hau ich wieder ab!« Yves Vicomte war vom Tisch aufgesprungen und knallte wütend sein Smartphone darauf. »Es ist schon bald Mittag, der Typ ist also beinahe vierundzwanzig Stunden überfällig. Der will uns doch verarschen. Und ich geh noch ein, hier in dem Kaff mit euch allen. Könnte schon längst in Saint-Tropez sein.«
»Wäre kein Verlust«, zischte Isabelle ihrer Mutter zu, doch die winkte nur ab und erklärte süßlich: »Für mich ist die Situation auch nicht einfach, glaube mir, lieber Neffe.« Dann fuhr sie in scharfem Ton fort: »Aber es wird uns doch möglich sein, noch ein wenig zu warten. Schließlich geht es um viel. Für uns alle. Dieser Barral hat nun mal, was wir brauchen, um unserer Familie zurück zu altem Glanz zu verhelfen.«
Ihr Vater brummte zustimmend und richtete sich ein wenig in seinem Rollstuhl auf.
»Nicht wahr, Papa, diese Sache wird sich lohnen.«
Der Greis hob den Zeigefinger und nickte bedeutungsschwer.
»Dann tu doch wenigstens, was in deiner Macht steht, um diesen Barral zu erreichen, liebste Tante Marie Yolante«, säuselte Yves zurück. »Schließlich lief die Kontaktaufnahme über dich. Wir lassen uns doch nicht von so einem crétin zum Narren halten.«
»Reg dich nicht so auf, er wird schon kommen, Yves.« Henri stellte sein Weinglas auf dem Kaminsims ab. »Jetzt haben wir so lange gewartet, da kommt es auf ein paar Stunden nicht mehr an. Was verpasst du denn schon?«
»Mein Leben«, blaffte Yves zurück und entlockte seinem Onkel damit ein süffisantes Grinsen.
»Gut, dass du mich daran erinnerst.« Henri nahm seinen Laptop und ging in Richtung Terrassentür. »Ich werde noch ein wenig arbeiten.«
»Arbeiten? Du?« Für Yves schien die Auseinandersetzung gerade erst loszugehen.
»Bien sûr. Ich schreibe gerade an einem Roman über einen misslaunigen Emporkömmling, der glaubt, er könne seine Familie nach seiner Pfeife tanzen lassen. Doch da ahnt er noch nichts vom unheilvollen sozialen Abstieg, der ihm bevorsteht.«
»Ach ja? Hört sich nach einem weiteren Ladenhüter an.« Yves gähnte demonstrativ. »Und mach dir keine Sorgen um meinen Abstieg. So tief kann ich gar nicht fallen, dass wir uns unten begegnen würden.«
Henri warf ihm eine Kusshand zu und wandte sich zum Gehen, doch Marie hielt ihn zurück.
»Warte, ich werde Barral noch einmal anrufen. Vielleicht klappt es jetzt. Oder muss der Künstler just in dem Augenblick arbeiten, in dem ihn die Muse küsst?«
Henri legte seinen Computer ab und goss sich Wein nach, während Marie das Mobiltelefon ergriff. Sie wollte sich nicht nachsagen lassen, dass sie nicht alles versuchte, um den Deal doch noch über die Bühne zu bringen. Kurz darauf schüttelte sie resigniert den Kopf. »Noch immer nicht erreichbar«, sagte sie in den Raum, ohne jemanden aus ihrer Familie direkt anzusehen.
»Vielleicht hat man diesem Barral allzu deutlich zu verstehen gegeben, wie viel uns seine Informationen wert sind«, mutmaßte Henri und schwenkte den eiskalten Rosé in seinem beschlagenen Weinglas.
Marie schnaubte. »Mit man meinst du mich, oder?« Sie funkelte ihren Halbbruder an, doch der zuckte nur lächelnd mit den Achseln. »Ich bin die Einzige, die sich für die Belange der Familie interessiert. Alle anderen verfolgen doch nur ihre Einzelinteressen!«
Chevalier ließ ein Räuspern vernehmen.
»Außer dir natürlich, Papa, das versteht sich ja von selbst.« Marie legte ihm eine Hand auf die Schulter, die er sogleich mit erstaunlich festem Druck ergriff. Dann gab er ihr ein Zeichen, sich zu ihm hinunterzubeugen.
»Was, wenn ihr euch im Tag geirrt habt und er schon vorher da war?«, sagte er mit brüchiger Stimme.
»Nein, Papa, das ist zwar ein guter Gedanke, aber ich bin mir sicher, dass das Datum stimmt.«
Auf einmal kam Leben in den Familienpatriarchen. »Aber überlegt doch: Ihr alle habt eure Termine nur noch in euren Telefonen. Wenn da etwas durcheinandergerät, kommt es zum Chaos.«
Marie ging nicht darauf ein. Sie kannte die Skepsis ihres Vaters, wenn es um technische Neuerungen ging. Zu oft hatte sie diese Auseinandersetzung schon geführt, seit sie die Leitung der Firma übernommen hatte. Auch wenn sie Chevalier als Mensch bedingungslos liebte – womit sie wahrscheinlich die Einzige in ihrer Familie war –, nervte sie diese Seite an ihm. Sie war es, die ihre Verwandtschaft nun zusammenhalten musste. Und das würde schwer genug werden. Sie führte das Familienunternehmen, jedenfalls das, was noch davon übrig war. Dass das Weinhaus Vicomte, ach was, die Weindynastie, nicht mehr im alten Glanz strahlte, war nicht ihre Schuld. Aber sie hatte die Folgen zu tragen.
Ihr Bruder Antoine, Chevaliers Erstgeborener, war damals gemäß der Familientradition mit der Geschäftsführung der Firma betraut worden und hatte sie in kürzester Zeit nach allen Regeln der Kunst heruntergewirtschaftet. Schließlich stand man kurz davor, alles für einen Spottpreis an die Konkurrenz zu verkaufen. Nur die Auktion einer Flasche des uralten Weines und ein paar weiterer Familienerbstücke hatte ihnen ein wenig Aufschub gegeben. Ein halbes Jahr später war Antoine tot. Alkoholvergiftung, hatte es offiziell geheißen. Totgesoffen am eigenen Wein, hatten die weniger Diskreten es genannt. Marie hatte das nie verstanden, nie geglaubt. Auch wenn ihr Bruder alles war, was sie verachtete: eine Spielernatur, ein Suchtkranker, ein Egomane – geliebt hatte sie ihn dennoch. Bewundert sogar. Und sie wusste: Antoine hatte am Leben gehangen. Nach seinem Tod musste sie sich um den Scherbenhaufen kümmern, den er hinterlassen hatte.
Über zehn Jahre war das nun her. Davor hatte es wohl kaum einen Franzosen gegeben, der nicht schon einmal von ihrem Namen gehört hatte. Der nicht davon geträumt hatte, einen ihrer erlesenen – und sündteuren – Weine zu kosten. In ihrem Haupthaus, dem Weingut in der Haute Provence , nahe Avignon, waren Filmstars, Society-Sternchen und sogar die hohe Politik ein und aus gegangen.
Das alles war längst vorbei. Aber Marie hatte es mit unermüdlicher Arbeit geschafft, Teile der Firma zu retten und daraus wieder ein gut gehendes Unternehmen aufzubauen. Chevalier Vicomte hatte es nach Antoines Tod ihr überlassen, den Betrieb zukunftssicher zu machen. Auch wenn es der alte Herr als Schmach erachtete, dass der Hauptteil ihres Einkommens nun nicht mehr aus dem Weinbau, sondern aus der Produktion von Kork- und Flaschenverschlüssen kam: Marie wusste, dass er es ihr hoch anrechnete, sie alle vor dem vollständigen Ruin bewahrt zu haben. Und dem Rest der Familie war es ziemlich egal, woher das Geld stammte. Allerdings würden nach Chevaliers Tod die Anteile unter den Angehörigen aufgeteilt werden – und eine Unternehmensführung mit diesem zerstrittenen Haufen war völlig undenkbar.
Sie blickte ihren Vater an, seinen kahlen Schädel mit der papiernen Haut. Er wirkte so zart, so verletzlich, aber in ihm schlug immer noch das Herz des knallharten Patriarchen. Der es zugelassen hatte, dass sein Lieblingskind die Firma ruiniert hatte. Aber nun hatte sie Antoines Platz eingenommen. Nun hatte sie es in der Hand, welchen Klang der Name Vicomte in der Geschäftswelt und den Gesellschaftsressorts der Zeitungen in Zukunft haben würde.
»Merde!« Henris Ausruf riss Marie Yolante jäh aus ihren Gedanken. Er hatte sich beim Nachgießen seines Glases von oben bis unten mit Rosé besudelt. »Egal, riecht wenigstens gut«, erklärte er nonchalant und nahm erneut einen großen Schluck.
Ihr Halbbruder war das beste Beispiel dafür, wie wenig vom ehemaligen Glanz noch übrig war. Nicht nur, dass er sich Schriftsteller schimpfte. Ausgerechnet der Krimisparte hatte er sich verschrieben, in der er leidlich reüssierte. Zum Glück schrieb er nicht unter ihrem Familiennamen, sondern dem seiner Mutter als Henri Bécasse. La bécasse – das bedeutete Schnepfe, und so nannten sie sie auch, wenn sie überhaupt von ihr sprachen.
Natürlich war diese Person von Maries Mutter sofort aus ihrem Dienst auf dem Anwesen entlassen worden, nachdem die vom Fehltritt ihres Mannes erfahren hatte – mit dem Ergebnis jedoch mussten sie bis heute leben. Denn Chevalier hatte nichts Besseres zu tun gehabt, als seinen verlorenen Sohn unmittelbar nach dem Tod seiner Frau als vollständiges Mitglied in die Familie einzuführen. Seitdem hatten sie diese Laus im Pelz sitzen. Und wenn er tausendmal irgendwelche Schreibkurse an der Uni gab: Sie war es, die – wie auch ihr Bruder Antoine – das Eliteinternat besucht hatte, Henri hingegen nur irgendein lycée in der Pariser banlieue. Er passte nicht zu ihnen, und das würde sich nie ändern.
»Wann kommt denn eigentlich Papa?« Isabelle hatte den Kopf auf die Schulter ihrer Mutter gelegt.
»Er wird es nicht schaffen, meine Kleine, du weißt doch, dass er mal wieder in Uganda ist.«
»Man könnte fast glauben, die Kinder, für die er die Schule baut, sind ihm wichtiger als wir.«
Davon kannst du ausgehen, meine Süße , lag Marie auf der Zunge, doch statt den Gedanken auszusprechen, winkte sie nur ab. Vielleicht würde sich ja alles noch zum Guten wenden, wenn nur endlich dieser Barral käme. Wenn sie endlich hätten, was sie benötigten. Dann würde Marie im Zentrum einer der mächtigsten Familien des Landes stehen.
»Vielleicht hat dieser Mann auch so ein vermaledeites Telefon«, hörte sie ihren Vater raunen.
»Papa, wenn da etwas durcheinandergekommen wäre, hätte er sich doch bei uns gemeldet«, seufzte sie.
»Weiß man’s?«
»Sollen wir uns einfach mal erkundigen, ob sich irgendjemand bei uns rumgetrieben hat, die letzten Tage?«, schlug Yves vor.
»Was soll das bitte bringen?«, gab Henri skeptisch zurück.
»Ist ja nicht so, dass wir sonst was zu tun hätten. Wir können doch den gardien fragen, diesen … wie heißt er gleich?«
»Monsieur Chimaire, schön, dass Sie gleich Zeit hatten.« Yves, Henri und Marie hatten sich mit ihrem Gast auf die Terrasse mit dem Holzdeck direkt am Wasser gesetzt, um ihn nicht im Haus zu haben.
»Lipaire. Guillaume Lipaire, hochverehrte Madame Vicomte«, korrigierte der Mann.
Er sah gepflegt aus und besaß einen gewissen Charme, das musste sie zugeben. Kaum eine Viertelstunde war seit Yves’ Anruf bei ihrem gardien vergangen, schon hatte er sich bei ihnen eingefunden. Typisch deutsch, konstatierte sie. Denn auch wenn er sich als französischer Lebemann gerierte – alles an ihm verriet seine Heimat, da konnte er sie nicht täuschen. Genauso wenig, wie er seine gewöhnliche Herkunft vor ihr verbergen konnte. »Wir wollten uns kurz mit Ihnen über Ihre Arbeit unterhalten und Ihnen für Ihre Dienste rund um unser Anwesen danken.«
Lipaires Lächeln wirkte gekünstelt. »Ach, gnädige Madame Vicomte, ich bitte Sie, es ist mir eine Ehre, für Kundinnen wie Sie und Ihre Familie tätig zu sein.«
»Schleimer«, flüsterte Yves ihr zu. Sie tat jedoch, als hätte sie den Kommentar nicht gehört. Auch wenn sie ihm ausnahmsweise zustimmen musste.
»Überdies ist es natürlich meine Pflicht, mich um die Liegenschaften zu kümmern, kein Grund also, mir über Gebühr zu danken«, palaverte Lipaire weiter. »Ich hoffe, Sie haben alles … gefunden?«
»Gefunden?«, wiederholte Marie stirnrunzelnd.
»Vorgefunden, meine ich«, korrigierte sich der gardien. »Hoffentlich haben Sie alles nach Ihren Wünschen vorgefunden.«
»Sicher, keine Frage. War denn viel los in Port Grimaud, vor unserer Ankunft?«, versuchte sie nun, das Gespräch in die intendierte Richtung zu lenken.
»Viel, ja. Und dann andererseits auch wieder wenig. Wie die Wellen des Meeres, die mal aufbranden und sich dann eine Sekunde später wieder zurückziehen. Ist es nicht genau dieser stete Wechsel, der unser Städtchen so liebenswert macht?« Er sah sie an, als erwarte er allen Ernstes eine Antwort auf dieses Geschwurbel.
»Wie poetisch Sie sich ausdrücken«, meldete sich nun Henri zu Wort. »Man könnte fast meinen, Sie wären ein Kollege.«
»Nein, Sie schmeicheln mir.« Nach einer kurzen Pause fuhr Lipaire fort: »Sie vermissen also nichts, hier in Ihrem Urlaubsparadies?«
»Wie meinen Sie das denn?«, schaltete sich Yves ein.
»Nun, geht Ihnen etwas ab, das Sie gern noch hier bei sich hätten?«
»Schon wieder diese schwachsinnigen Fragen, wie gestern von dem Jungen.«
»Yves, sei doch bitte nicht so rüde zu unserem Monsieur le Maire «, pfiff Marie ihn zurück.
»Lipaire.«
Marie wollte nun endlich zum Punkt kommen. »Gab es irgendwelche besonderen Vorkommnisse auf dem Anwesen, während unserer Abwesenheit?«
»Nicht, dass ich wüsste, Madame«, beeilte sich Lipaire zu erklären und griff nach seinem Wasserglas. »Meines Wissens alles in bester Ordnung.«
»Keine Leute, die ums Haus unterwegs waren und da nicht hingehörten?«
Lipaire verschluckte sich. »Wie bitte?«, krächzte er mit rotem Kopf.
»Wann waren Sie denn vor unserer Anreise das letzte Mal hier im Haus, Monsieur?«, fragte Henri.
Marie entging nicht, dass Lipaire kurz zögerte, bevor er mit einer weit ausladenden Geste sagte: »Hier? Ach, das ist schon eine halbe Ewigkeit her. Lange, richtig lange.«
»Sehen Sie nicht regelmäßig nach dem Haus, checken die Installationen, lüften und holen die Post aus dem Briefkasten? So steht das doch im Vertrag, oder?«, wollte Henri wissen.
Der gardien hüstelte. »Ach, das meinen Sie! Ja, dazu bin ich natürlich häufig vor Ort. Jetzt, wo Sie es sagen …«
»Ja?« Henri beugte sich vor, und auch Marie war gespannt, was nun kommen würde.
»Jetzt, wo Sie es sagen, fällt mir wieder ein, dass ich einerseits regelmäßig hier bin, aber andererseits eben auch nicht. Wegen der Diskretion, verstehen Sie? Ich versuche, mich stets so diskret zu verhalten, dass ich manchmal selbst vergesse, anwesend zu sein.«
Alle sahen den Mann skeptisch an, der mit geröteten Wangen dasaß und einen weiteren Schluck aus seinem Glas nahm.
»Wenn also etwas Besonderes gewesen wäre, die letzten Tage vor unserem Eintreffen, hätten Sie es bemerkt?«
»Bemerkt. Ganz bestimmt. Ich oder einer von den anderen.«
»Welchen anderen?«
»Den anderen Gästen.«
»Welche Gäste?«, wunderte sich Marie.
»Nachbarn, meinte ich. Touristen, Mieter, Eigentümer. Alle haben ja ein Auge auf Ihr Haus geworfen. Beziehungsweise haben es im Auge, Sie verstehen. Weil es … so schön ist.«
»Was Sie nicht sagen«, brummte Yves.
»Aber was war denn jetzt in Ihrem Fall genau, Madame?« Lipaire schien sich ein wenig zu fangen.
»Was war?«
»Ja, was war denn ungewöhnlich, vor Ihrer Ankunft?«
Yves schien bald der Kragen zu platzen. »Mann, keine Ahnung, das wollen wir ja von dir wissen, putain! «
Wieder setzte Lipaire sein seltsam süßliches Lächeln auf. »Ich kann Ihnen versichern, dass ich oder jemand anders es bemerkt hätte, wenn hier zum Beispiel ein ungepflegter, dicklicher Mann im Leinensakko herumgestreunt wäre.«
»Wie meinen Sie das, ungepflegt, dicklich und im Leinensakko?« Henri war aus seinem Stuhl hochgefahren und sah Lipaire von oben herab an.
»Nur als Beispiel, meine ich. Vielleicht auch dürr, vollbärtig und im Trainingsanzug. Oder klein, athletisch und in Bermudas. Oder …«
»Wir haben’s kapiert, Mann!«, blaffte Yves.
»Nur als Beispiel?« Henri nahm wieder Platz, schenkte sich ein Glas Wein ein und kippte es in einem Zug seine Kehle hinunter.
Marie spürte, dass es Zeit war, diese Unterredung zu beenden. Sie würden mit diesem seltsamen Typen nicht weiterkommen. Also erhob sie sich, bedankte sich noch einmal für Lipaires Dienste und wies ihm den Weg nach draußen.
»Sonst haben Sie nichts für mich?«, fragte er im Gehen.
»Nein, also, wenn Sie nichts mehr haben …« Sie musterten einander noch ein paar Sekunden, dann ging der gardien. Sie sah ihm nach, bis er verschwunden war, dann winkte sie die anderen nach drinnen.
»Das hätten wir uns wohl sparen können«, sagte Henri beiläufig und entkorkte eine neue Flasche Wein. Dazu hatte er sich ein Thunfisch-Sandwich gemacht und dabei, wie gewöhnlich, die ganze Küche in ein Chaos verwandelt.
Obwohl es bereits früher Nachmittag war, verspürte Marie selbst nicht den geringsten Hunger. Sie zuckte mit den Schultern. »Ja, vielleicht.«
»Pardon? Der Typ hat sich doch total komisch verhalten«, protestierte Yves. »Ich hab mich gewundert, dass ihr ihn einfach so habt gehen lassen. Ist doch sonnenklar, dass der mehr weiß, als er sagt. Ich bin dafür, dass wir ihn im Auge behalten, vielleicht dreht er irgendwelche krummen Dinger. Solchen Leuten ist nicht zu trauen. Bodensatz ist das. Sozialneid treibt solche Leute oft in die Illegalität.«
»Und worauf sollte dieser gardien bitte bei dir neidisch sein?«, fragte Henri. »Auf deinen Job als Aushilfsmakler von angeblichen Luxusimmobilien?«
»Besser als ein verkrachter Schreiberling zweifelhafter Herkunft, würde ich sagen.« Yves wandte sich ab.
»Aber vielleicht war Barral wirklich schon da«, mischte sich jetzt Isabelle ein und schob in Miss-Marple-Ton nach: »Ich sag nur eins: Streichhölzer aus Toulon!«
»Mann, Isabelle, wie soll er denn reingekommen sein?«, konterte Yves. »Die Türen und Fenster sind alle unversehrt. Also muss er einen Schlüssel benutzt haben, oder?« Die anderen nickten. »Seht ihr? Und wer hat den?« Er schaute auffordernd in die Runde. »Genau: schon wieder Lipaire, dieser verdammte gardien. «
Henri schüttelte den Kopf. »Ich verstehe nicht, wieso du dich so auf ihn eingeschossen hast. Er ist beileibe nicht der Einzige mit Schlüsselgewalt über unser Haus.«
»Na ja, von uns wird es wohl niemand gewesen sein, oder?«, gab Isabelle zurück. »Außerdem hast du ihn doch vorher selbst in die Mangel genommen, mit deinen Fragen!«
Marie nickte ihr zu. Sie hatte das Gefühl, dass die Nerven bei allen blank lagen, nur weil dieser Barral nicht auftauchte. Vielleicht war es genau das, was er beabsichtigte.
»Warum kann es niemand von uns gewesen sein?«, fragte Henri trocken. »Vielleicht hat schon jemand einen Deal mit Barral auf eigene Rechnung gemacht?«
Yves blickte auf. »Genau. Onkel Lucas oder Clément. Was, wenn sie gemeinsame Sache machen und uns jemand ganz Bestimmtes hier nur Theater vorspielt?«
Marie schluckte. Das war zu viel. »Ich muss mir derartige Unverfrorenheiten von euch nicht bieten lassen. Papa, wir gehen auf die Terrasse. Isabelle, kommst du mit?« Sie schob den Rollstuhl in Richtung Tür und ging nach draußen, gefolgt von ihrer Tochter. Als sie an der Jacht vorbei auf den Kanal blickte, seufzte sie. Was war das nur für eine Familie? Sie rang sich ein Lächeln ab. »Schau nur, Papa, was für ein schöner Tag heute ist.« Ihr Vater konnte ja nichts dafür. Er war ein Relikt aus einer anderen, einer besseren Zeit.
Chevalier Vicomte nickte.
»Magst du etwas trinken?«, fragte sie, da die Pflegerin ihres Vaters, die sich mangels weiteren Personals auch leidlich als Hausdame machte, unterwegs war, um etwas zu besorgen. Bald würden sie wieder eine ganze Schar von Bediensteten beschäftigen.
»Nein, im Moment nicht. Aber ich möchte in den Schatten.«
Marie winkte ihrer Tochter, und mit vereinten Kräften schoben sie den Rollstuhl durch das Gras Richtung Grundstücksgrenze. Dort war im Schatten einer mächtigen Palme ein kleiner Sitzplatz eingerichtet. Der hatte allerdings den Nachteil, dass er im Sichtbereich ihrer schwatzhaften niederländischen Nachbarn lag.
Prompt tönte es von hinter der Hecke: »Bonjour , Madame Vicomte! Na, Sie sind ja nach langer Pause mal wieder in voller Besetzung hier.« Nur einen Augenblick später tauchte der Kopf von Jarno van Dijk auf.
Marie zwang sich zu einem Lächeln. »So ist es. Man ist viel zu selten hier in diesem Paradies.«
»Genau, Sie haben völlig recht.«
Sie wandte sich demonstrativ wieder ihrem Vater zu, da sah sie, dass sich Henri vom Haus aus näherte. »Sehen Sie, da kommt mein Bruder Henri. Sie kennen sich doch?«
Der Holländer nickte. »Monsieur Henri ist uns natürlich bekannt. Bonjour! «
Marie grinste. Damit wäre ihr Halbbruder erst einmal beschäftigt.
»Bei Ihnen im Haus ist aber recht viel los«, redete van Dijk sofort auf ihn ein. »Immer andere Leute hier, manche habe ich noch nie gesehen. Freunde wahrscheinlich?«
Marie wurde hellhörig. Eigentlich gab es eine Übereinkunft, dass jedes Familienmitglied die anderen darüber informierte, wenn man mit Freunden ins Ferienhaus wollte. Vielleicht wäre ein Schwätzchen mit dem Nachbarn hin und wieder ganz erhellend.
»Freunde, Familie … letztlich alles Menschen, die das Meer lieben«, gab Henri nonchalant zurück und zündete sich eine Zigarette an.
»Ganz oft sieht man ja diesen Herrn Lipaire hier bei Ihnen. Er verwaltet Ihr Anwesen?«
»Ja, das tut er«, hörte Marie ihren Halbbruder etwas schmallippiger antworten. »Wieso?«
»Nur so. Man hat ein wenig das Gefühl, als sei er auf den Terrassen unseres Viertels allgegenwärtig. Ich will ja nichts gesagt haben, aber …«
»Aber?«
»Nun, wir haben ihn bewusst nicht beauftragt, er ist uns zu …«
»Hören Sie: Wie wäre es, wenn Sie jetzt einfach ein wenig in Ihren Pool gehen, die Leute hier tun lassen, was sie möchten, und sich ansonsten um Ihre eigenen Angelegenheiten kümmern?« Henri schien auf einmal Mühe zu haben, seine Wut zu unterdrücken.
»Das … haben Sie ganz falsch …«
»Einen schönen Tag noch, Herr Nachbar!« Damit ließ er den Holländer stehen.
»Ich wollte ja nichts … Haben auch Sie einen wunderschönen Tag zusammen. Auf bald. Und weiterhin gute Nachbarschaft!«, rief Jarno van Dijk noch und winkte ihnen dabei mit beiden Händen zu.