»Was glauben die jetzt wohl, wer da mit ihnen geredet hat?«, fragte Guillaume, als Karim das Telefonat beendet und das Handy ausgeschaltet hatte.
»Na ja, wahrscheinlich mal nicht Barral. Ich hab die Sache vergeigt, oder? Hätte ich meine Stimme noch mehr verstellen müssen?«
Lipaire winkte ab. »Ach was, sei nicht so streng mit dir. Du hast dein Bestes gegeben. Und ich habe dir ja auch souffliert.«
»Vielleicht hättest doch du reden sollen. Trotz deines deutschen Akzents.«
»Färbung, Karim. Minimale Färbung. Außer dir, der mich so gut kennt, hört das niemand. Aber egal jetzt. Fest steht, wir haben uns nicht schlecht geschlagen und sind ordentlich weitergekommen«, konstatierte Guillaume, obwohl er wusste, dass das eine ziemlich geschönte Darstellung war.
Sie hatten sich zum Telefonieren auf die Terrasse eines kleinen Häuschens an der Grand’ Rue zurückgezogen, das Lipaire später noch für die Vermietung herrichten musste. Hier war es ruhiger als mitten in der Stadt, vor Delphines Laden. Abgesehen von den Touristen, die im goldenen Licht des frühen Abends mit ihren Elektrobooten auf dem breiten Kanal vorbeischlichen und ihnen neugierige Blicke zuwarfen, war weit und breit niemand zu sehen.
»Findest du?« Karim schien seine Zweifel zu haben. »Was wissen wir denn schon mehr als vorher?«
»Erstens, dass es sich um eine Gruppe handelt, mit der Jacques ins Geschäft kommen wollte.«
»Hm, stimmt. Damit scheiden schon mal alle Einzelgänger und Einsiedler aus. Gut, es sind also mehrere.«
»Okay. Wie hat die Frau auf dich gewirkt?«, fragte Lipaire.
»Aufgebracht.«
»Fand ich auch.«
»Und sie klang irgendwie … nach Kohle.«
»Den Eindruck teile ich.«
»Ja. Reich und gebildet. Und ziemlich … tonangebend außerdem.«
»Stimmt, sie war dominant.«
»Vor so einer, da könnte man direkt Angst kriegen.«
Lipaire nickte. »Ist doch schon mal besser als nichts. Wenn sie reich ist, könnte das für uns ja umso mehr Geld bedeuten.« Ein Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit.
»Aber wer ist es?«, fragte Karim.
»Ich habe da so eine Vermutung.«
»Ach ja?«
»Nicht hundertprozentig, aber überleg doch mal: Wo haben wir ihn denn gefunden?«
Karim zuckte mit den Achseln. »Na, in deinem Haus in der Rue de l’Île longue. «
»Das gehört ja nicht mir. Sondern der Familie Vicomte.«
»Du meinst …« Der Junge bekam große Augen. »Du meinst, das war Madame Vicomte?«
Lipaire hob die Hände. »Dem Klang nach hätte sie es sein können. Und es würde doch passen. Geld haben sie. Sie führt anscheinend das Familienunternehmen. Deswegen verhandelt vielleicht sie in dieser Sache.«
Jetzt schlug sich Karim gegen die Stirn. »Stimmt, weißt du noch, als wir den Toten aus dem Wasser geholt und ins Taxiboot geladen haben? Da hat uns doch der Schriftsteller fast erwischt und noch was gesagt …«
»Henri?«
»Genau. Wie war das noch? Seine Verwandten verfüttern uns an die Haie, wenn wir nicht aufpassen.«
Jetzt war Guillaume wirklich beeindruckt. »Ja, zum Teufel noch mal, du hast recht. Und jetzt hat er das wieder von hinten ins Telefon gebrüllt. Das könnte doch seine Stimme gewesen sein, oder?«
Der Junge nickte. Doch sofort legten sich Sorgenfalten auf seine Stirn. »Aber wollen wir uns wirklich mit denen anlegen? Ich meine, die sind sogar adelig.«
»Den Adel gibt es nicht mehr, seine Privilegien sind längst abgeschafft. Außerdem haben die Vicomtes keine Ahnung, dass wir dahinterstecken.«
Trotzdem hellte sich die Miene des Jungen nicht auf. »Wenn wir nur annähernd wüssten, was für ein Geschäft sich dahinter verbirgt.«
»Und vor allem, wie hoch der eigentlich vereinbarte Preis war. Dann könnten wir taktisch agieren und die optimale Summe rausholen.«
Karim schüttelte den Kopf. »Ich will dir jetzt ja echt nicht den Spaß verderben, aber wir können kein Geschäft machen, weil wir gar nicht haben, was der Tote der Frau verkaufen wollte. Das wäre aber doch die Grundvoraussetzung.«
»Solange die denken, dass wir es haben, bezahlen die das Geld, und wir melden uns danach nie wieder.« Lipaire wusste, dass das in einer idealen Welt vielleicht klappen könnte. In einer etwas realistischeren hingegen mussten sie womöglich doch erst die Antwort auf die Frage aller Fragen finden: Was hatte oder wusste der Typ, das die Vicomtes derart in Aufregung versetzte?
»Okay«, hörte er Karim sagen. »Was, wenn wir eiskalt fünftausend verlangen? Das wär der Hammer.«
Lipaire sah den Jungen entgeistert an. »Bist du verrückt geworden?«
Petitbon hob abwehrend die Hände. »Stimmt. Mit zweitausend sind wir auf der sicheren Seite.«
Guillaume tippte sich an die Stirn. »Mindestens eine Million ist da drin.«
»Eine Mill… spinnst du? Das ist doch viel zu viel!«
»Also für mich nicht.«
Der Junge schüttelte ungläubig den Kopf. Lipaire erklärte mit sanfter Stimme: »Mit weniger dürfen wir nicht einsteigen, wer weiß, vielleicht will die uns auch noch runterhandeln. Und zumindest zwei schöne Appartements für uns mit Balkon und Blick auf den Kanal müssen rausspringen.«
Karim kratzte sich am Kopf. »Deinen Optimismus möchte ich haben, ehrlich. Wie machst du das nur?«
Guillaume lächelte versonnen und schwenkte das schlichte Wasserglas mit dem eiskalten, zart rosafarbenen Côtes de Provence. Dabei summte er: »Je vois la vie en rose.«
»Na, im Moment wohl eher la vie en Rosé «, korrigierte Karim.
Beide lachten.
»Wir brauchen mehr Infos, Guillaume. So ist das doch alles zu unsicher. Ich mein, bei so einer Summe, da …«
»Monsieur Petitbon, der ewige Mahner in der Wüste!«
»Was soll denn das jetzt wieder heißen?«
»Nichts, schon in Ordnung. Vielleicht müssen wir ja wirklich mit mehr Bedacht vorgehen. Du darfst aber auch nicht vergessen, dass unser Anruf uns noch eine wichtige Erkenntnis über den Toten eingebracht hat. Vielleicht kommen wir damit weiter.«
»Du meinst, dass er ein Idiot ist?«
»Wie kommst du darauf?«
»Na, das hat die Frau doch eindeutig gesagt.«
»Ja, nein, vielleicht, was weiß ich. Das tut nichts zur Sache. Aber wir haben jetzt seinen vollständigen Namen: Jacques Barral.«
Petitbon schob den Unterkiefer nach vorn und reckte den rechten Daumen nach oben. »Bombe! Dann brauchen wir jetzt nur noch Jacques Barral und Geschäft deines Lebens zu googeln, und schon sind wir am Ziel.«
Lipaire erwiderte nichts, sondern trank einen weiteren Schluck Wein. Wie konnte man als junger Mensch nur schon so pessimistisch sein? Er wünschte ihm von Herzen, dass er es mit zunehmendem Alter irgendwann zu mehr Gelassenheit bringen würde. So wie er selbst es gelernt hatte.