Ein Freund, ein guter Freund

Karim musterte Lipaire. Der hatte zwar schon fast die ganze Flasche Rosé vernichtet, wirkte aber überhaupt nicht angezählt. Ob er selbst im Alter auch so relaxed auf alles blicken würde, was ihm begegnete? Eine beneidenswerte Vorstellung, fand er. Lange saßen sie nur da und lauschten den Geräuschen um sie herum, dem Kreischen der Möwen, dem Plätschern des Wassers, dem Surren der Elektroboote auf dem Kanal. Was für ein friedlicher Ort. Mitten in diese meditative Stimmung platzte auf einmal ein schrilles Piepsen, das die beiden zusammenzucken ließ. Karim spürte, wie sein Mund trocken wurde. »Meinst du, das sind sie schon wieder? Welchen Preis soll ich denn jetzt nennen?«

Lipaire schüttelte den Kopf. »Ist doch dein eigenes Handy. Außerdem hast du das vom Toten doch gerade ausgemacht. Jetzt konzentrier dich mal ein bisschen.«

»Ach ja, stimmt.« Dennoch zitterten seine Finger, als er sein Mobiltelefon herausnahm und entsperrte. »Eine Mail.«

»So?« Lipaire schien wenig interessiert.

»Von … das ist ja komisch.«

Jetzt wandte der Ältere den Kopf und blickte ihn an. »Von wem?«

»Keine Ahnung.«

Karim las die Nachricht: Hier findet ihr Antworten auf eure Fragen. Ein Freund. Das war seltsam. Er hatte viele Bekannte, aber kaum echte Freunde außer Guillaume. Ihm fehlte schlicht die Zeit, um etwa mit der alten Clique aus Schulzeiten Fußball zu spielen oder im Azur-Park abzuhängen. Er musste Geld verdienen, damit er seiner Mutter ein besseres Leben bieten konnte. Eines, wie sie es verdient hatte. Welcher Freund schrieb ihm hier also? Und um welche Fragen ging es? Hatte er überhaupt Fragen? Als er sein Handy bereits wieder weglegen wollte, bemerkte er, dass die Mail einen Anhang hatte. Ob er ihn öffnen sollte? Doch er erinnerte sich an zahlreiche Warnungen, auf keinen Fall die Anhänge unbekannter Absender zu öffnen, und zögerte.

»Musst du ausgerechnet jetzt auf deinem Handy rumspielen?«, unterbrach Lipaire seine Gedanken.

»Mach ich ja gar nicht.« Er zeigte ihm die E-Mail.

»Das ist aber komisch.«

»Findest du also auch?«

»Aber klar, du hast doch kaum Freunde.«

»Hab ich wohl! Viele.«

»Wen denn?«

»Na, die Jungs eben. Vergiss es.«

»Ist da sonst nichts weiter dabei?«

»Doch, ein Anhang.«

»Willst du ihn nicht öffnen?«, drängte Lipaire.

»Eigentlich soll man das ja nicht.«

»Eigentlich soll man auch keine Leichen im Meer versenken und sie danach in bewohnte Sarkophage stopfen. Also?«

Karim war nicht überzeugt.

»Von wem ist denn die Mail?«

Der junge Mann zuckte mit den Achseln. »quiestbarral@phare.fr«, las er stockend ab.

Lipaire blickte auf den Bildschirm, dann setzte er sich schlagartig auf. »Das ist eine Botschaft. Qui est Barral  – wer ist Barral!«, rief er.

»Barral, klar, der Name vom Toten.«

»So sieht’s aus. Jetzt mach endlich den Anhang auf!«

Widerwillig tippte Karim auf das Symbol, das einen stilisierten Filmstreifen zeigte. Ein Fenster mit einem Video öffnete sich. Es zeigte ein Boot in der Abenddämmerung, das im Golf, unweit der Hafeneinfahrt von Port Grimaud, vor Anker lag und in den Wellen schaukelte. Der Clip musste von einem anderen Schiff aufgenommen worden sein. Nach etwa dreißig Sekunden endete er.

»Das ist alles?« Lipaire schien mehr erwartet zu haben.

»Ja. Wirkt irgendwie unheimlich: das verlassene Boot, das schwarze Meer …«

Mit einem Grinsen sagte Lipaire: »Das ist das Mittelmeer.«

»Danke für die Info. Aber was soll das Ganze? Und wie kann das unsere Fragen beantworten?«

»Vielleicht ist damit nicht das Video als solches gemeint«, mutmaßte Lipaire.

Karim verstand nicht. »Sondern?«

»Das Boot.«

»Du meinst, wir sollten mal hinfahren und es uns anschauen?«

»Offenbar will uns das dein neuer Freund mit dieser Mail sagen.«

»Glaubst du, es ist seins? Will er uns da treffen?«

»Keine Ahnung. Vielleicht auch das von Barral. Werden wir dann schon sehen.«

»Heute noch?«

»Das schaffe ich nicht. Wir müssen schließlich dieses Häuschen noch vermietfertig machen. Morgen, gegen Abend?«

Karim zuckte mit den Schultern. »Das ist vielleicht nur eine Falle«, sagte er nachdenklich. »Was, wenn er uns dort hinlocken will?« Er hatte sich schon dazu verleiten lassen, einen unbekannten Mailanhang zu öffnen. Das mit dem verlassenen Boot ging zu weit.

»Wieso Falle? Wer sollte uns beiden denn was Böses wollen?«

»Vielleicht hat sich Jacques das auch gedacht.«

»Welcher Jacques?«

»Na, der Tote.«

»Ach so, der.« Lipaire schien nachdenklich.

»Und wenn es was mit seiner Leiche zu tun hat? Oder mit seiner … Beseitigung?« Karim spürte, wie ihn die Erkenntnis mit heißen Wellen durchflutete. »Wenn uns jemand gesehen hat?«

»Glaub ich nicht.«

»Vielleicht ist der Mailschreiber der Mörder von Jacques, und jetzt sind wir die nächsten auf seiner Liste.«

»Hör auf, ihn dauernd Jacques zu nennen, als würdest du ihn schon ewig kennen. Und wenn es der Mörder ist: Wir haben ja nur seine Arbeit gemacht, als wir Barral weggeschafft haben. Er kann also zufrieden sein.«

»Er könnte aber auch denken, dass wir was über ihn wissen.«

»Stimmt. Alles sehr seltsam. Vielleicht sollten wir besser doch nicht hinfahren.«

Jetzt war es Karim, der angesichts dieses Vorschlags ins Zweifeln geriet. »Oder wir machen es doch, aber mit zusätzlichen Sicherheitsvorkehrungen. Einem unerschrockenen Beschützer. Und ich weiß auch schon, wo wir den morgen treffen können.«

Lipaire blickte ihn mit sorgenvoller Miene an. »Du denkst doch nicht etwa an … nein, das kannst du vergessen.«