I shot the sheriff, but I did not shoot the deputy. I shot the …
Paul Quenot stoppte die Musik, die aus dem kleinen Radio drang, das neben ihm auf der Erde lag. »Vielleicht ist das doch noch ein bisschen zu wild für euch. Ihr müsst euch ja erst mal von dem Umzug erholen.« Bei diesen Worten streichelte er sanft über die feingliedrigen Blätter der Stauden. Sie würden schon bald in voller Blüte stehen – sofern ihnen die Umpflanzaktion nicht geschadet hatte, was er insgeheim befürchtete. Aber es hatte sein müssen. Ob er lieber ein paar Chansons spielen sollte? La Vie en Rose von Édith Piaf? Oder etwas von Jacques Brel? Zwar mochte Quenot den Sänger nicht besonders, obwohl er wie er aus Belgien stammte. Die Pflanzen wurden von seinen Melodien allerdings zu Höchstleistungen angestachelt.
Nein, Loungejazz war jetzt wohl das Beste. Damit würden seine Schützlinge das Trauma des Standortwechsels schnell verarbeiten. Er suchte einen passenden Sender und bückte sich wieder zu seinen geliebten Schützlingen.
»Ach, Monsieur Quenot, wie herrlich die Rosen dieses Jahr blühen! Als hätten sie endlose Kraft. Wie machen Sie das bloß? Ist das nur Ihr grüner Daumen, oder haben Sie einen Trick?«
Quenot wandte den Kopf und blinzelte seiner Auftraggeberin zu, deren schlohweißes Haar in der Sonne glänzte. Madame Botté war eine reizende ältere Dame. Eigentlich lebte sie in Lyon, doch seit ihr Mann vor einigen Monaten gestorben war, hielt sie sich immer öfter hier in ihrem kleinen Ferienhäuschen in Port Grimaud auf. Quenot wusste das, weil sie ihn jedes Mal, wenn er in ihrem für hiesige Verhältnisse großzügigen Garten arbeitete, zu einem Tässchen Tee und etwas Gebäck auf ihrer Terrasse einlud. »Merci. In Ihrem Garten wächst einfach alles gut.«
»Ja, finden Sie? Auf dem kleinen Fleckchen?«
Der Belgier nickte und sah sich um. Das Gärtchen war für Port Grimaud recht groß, die meisten mussten sich mit deutlich weniger Fläche bescheiden. Wenn man hier von Bescheidenheit sprechen konnte. Er selbst hatte nie in solchen Verhältnissen gelebt. Ganz im Gegenteil sogar, aber das war eine andere Geschichte. »Auch wenn sie schön ausschauen: Die Blätter kräuseln sich. Irgendetwas bedrückt sie. Aber ich hab ein Gegenmittel dabei.« Er zeigte auf die acht hoch aufgeschossenen Stauden mit den fünffingrigen Blättern, die er zwischen die Rosenstöcke gepflanzt hatte.
»Ah ja? Was haben Sie mir da gebracht? Sieht … interessant aus.«
Er räusperte sich. Das hatte er sich so angewöhnt, auch wenn er wusste, dass seine Stimme dadurch nicht weniger piepsig klang. Aber er hatte sich nie damit abfinden können, dass ein baumlanger, muskelbepackter Mann wie er so hell sprach, dass man ihn am Telefon regelmäßig für eine Frau hielt. In seinem früheren Leben als Fremdenlegionär hatte das nicht weiter gestört, da waren meist nicht viele Worte vonnöten gewesen. Und wenn doch einmal einer gemeint hatte, sich über ihn lustig machen zu müssen, hatte er eben seine Fäuste sprechen lassen.
Aber der Alltag als Zivilist wurde durch diese Besonderheit erheblich erschwert. Zumal ihm viele wegen seiner einschüchternden Erscheinung nicht zutrauten, dass er gut mit Blumen und Pflanzen umgehen konnte. Dabei war das seine Leidenschaft. Seine Bestimmung. Der er nun, nach vielen Kurven auf seinem neunundvierzigjährigen Lebensweg, endlich nachgehen konnte. Inzwischen lebte er sogar davon und genoss es, sich mit dem Duft der Blüten und dem Grün der Blätter zu umgeben.
Quenot kratzte sich an seinem kahlen, kantigen Schädel, dann antwortete er: »Die Pflanzen passen gut zu Ihren Rosen. Es gibt eine geheime Verbindung zwischen denen und dem Hanf.«
»Hanf? Es sind Hanfpflanzen?« Die Dame schien ziemlich überrascht.
»Wie?«, kiekste Quenot. »Hab ich Hanf gesagt?« Er schluckte. Wie konnte ihm nur so ein Fauxpas unterlaufen? Ob er sich mit dem lateinischen Namen herausreden konnte? Aber Cannabis sprach wohl eine noch deutlichere Sprache. Da kam ihm eine Idee. »Was quatsche ich da! Es handelt sich um Hennep.« Zum Glück war ihm die holländische Bezeichnung eingefallen. Auch wenn er in Charleroi und damit im wallonischen Teil Belgiens aufgewachsen war, kannte er doch den flämischen Ausdruck für das Zeug.
»Hennep«, wiederholte Madame Botté. »Interessant.«
»Kann sein, dass ich sie irgendwann auch wieder rausnehme. Wenn es den Rosen wieder gut geht.«
Die alte Frau strahlte ihn an. »Hauptsache, der Garten bleibt so wunderschön. Und jetzt mache ich uns Tee. Jasmin, wie immer? Und dazu ein paar Macarons aus der Pâtisserie vorn an der Hauptstraße? Ich habe Rose und Lavendel bestellt, passend zu Ihrem Metier.«
»Ich mache das noch fertig, dann komme ich.« Er sah ihr nach, wie sie ins Haus ging, und lächelte. Madame Botté hatte es gefressen. Und er hatte einen wunderbaren Standort für seine Cannabis-Stauden gefunden. Hier, auf der Kanalseite, hatten sie die volle Nachmittagssonne und Licht bis abends. Ideal also für die bevorstehende Blütezeit, die ihm eine reiche Ernte bescheren würde. Der Garten, in dem sie vorher gestanden hatten, war nach Osten ausgerichtet und damit nur für die Wachstumsphase geeignet. Außerdem hatte eines der Kinder der Familie die Blätter mit Bildern aus dem Internet verglichen. Dass sein Geschäftsmodell wegen einer neunmalklugen Rotzgöre aufflog, hätte ihm gerade noch gefehlt. Dabei hatte er alles so gut zum Laufen gebracht: In den Gärten, die er für die Besitzer pflegte, versteckt zwischen anderen Sträuchern oder auch ganz offen in Containern und Töpfen, baute er die Pflanzen an, um das geerntete Gras und das Haschisch an Abnehmer auf der ganzen Halbinsel von Saint-Tropez zu verkaufen. Eine halb mobile, dezentrale Hanfplantage also, die im maritimen Klima ganz hervorragend gedieh. Und deren Ernte von höchster Qualität war.
Bislang war das erstaunlich gut gegangen. Auf Nachfragen der Garteninhaber war er vorbereitet, hatte immer eine passende Geschichte auf Lager. Und verfügte über genügend Gärten in seinem Portfolio, um im Notfall mit seinen Schätzchen rasch umziehen zu können.
Vor allem die betagteren Kunden machten es ihm leicht. Zugegeben, einmal hatte er dumm aus der Wäsche geschaut, als dieses ältere Ehepaar aus München die komplette Ernte selbst aufgeraucht und ihm die Frau begeistert erzählt hatte, sie und ihr Mann hätten seit ihrer Reise nach Indien im Jahr 1969 kein so gutes Zeug mehr konsumiert. Sie pflanzten nun selbst an, allerdings nur für den Eigenbedarf.
Paul holte sich zwei Gießkannen Wasser und goss die neu gesetzten Pflanzen sorgfältig an. Dann kratzte er sich versonnen an der Brust. Er liebte es, mit nacktem Oberkörper zu arbeiten und den Schweiß, der sich wie Tau über seine Tattoos legte, in der Sonne trocknen zu lassen. Die meisten Abbildungen waren Variationen von Totenköpfen, Überbleibsel aus einem Kapitel in seinem Leben, das inzwischen unvorstellbar weit weg war. Erinnerungen an Einsätze in Mali, im Tschad, dem Libanon und in Guyana, wo er als Offizier der französischen légion étrangère eingesetzt worden war. Wo er unzählige Male dem Tod ins Auge geblickt hatte. Aber das war in einer anderen Zeit gewesen. Nach seinem Ausscheiden hatte er – mit neuem Namen und als unbeschriebenes Blatt – für kurze Zeit bei einem Sicherheitsdienst in Marseille angeheuert. Er hatte seine Sache gut gemacht, doch sein Ziel, irgendwann eine eigene Gärtnerei aufzumachen, nie aus den Augen verloren.
»Es dauert noch ein wenig, lieber Monsieur Quenot, aber Sie können gern schon mal auf der Terrasse Platz nehmen«, rief Madame Botté von drinnen.
Rasch zog er ein olivfarbenes Muskelshirt über. Er konnte ihr schließlich nicht halb nackt beim Nachmittagstee gegenübersitzen.
»Und nehmen Sie sich ein Kissen, wegen der Hämorrhoiden«, fügte sie hinzu.
Quenot musste lachen. Wirklich sehr umsichtig, die Alte.
»Ich will sowieso noch nach den gelben Lilien und der sibirischen Iris sehen. Nicht, dass es denen zu warm wird. Sie sind dieses Jahr noch geschwächt von der Blüte«, erwiderte er und ging zu dem Beet direkt am Kanal. Als er die Blätter begutachtete, nahm er im Augenwinkel ein Boot wahr, das lautlos auf Madame Bottés leeren Anlegesteg zuglitt. Quenot blickte auf und hob seine Hand zum Gruß. Ein Wassertaxi auf Abwegen, das konnte nur bedeuten, dass Karim Petitbon am Steuer saß. Wahrscheinlich hatte Madame Botté bei ihm ihre Macaron-Bestellung aufgegeben – gegen ein paar Euro lieferte der Junge fast alles.
Quenot ging ihm ein paar Schritte entgegen, erstarrte jedoch mitten in der Bewegung. War das etwa … ja, kein Zweifel. Karim hatte noch einen Fahrgast dabei. Einen, den Paul nur zu gut kannte. Er blieb stehen und kniff die Augen zusammen. »Was will der Typ hier, Karim?«, fiepte er dem Wassertaxifahrer entgegen und ärgerte sich, dass seine Stimme jedes Mal neue Höhenrekorde brach, wenn ihn etwas aufregte.
Noch bevor Petitbon antworten konnte, rief Guillaume Lipaire: »Karim, sag diesem lächerlichen Blumenflüsterer, dass es auch für mich kein Waldspaziergang ist, ihm näher als zweihundert Meter zu kommen, dass du aber darauf bestanden hast, ihn wegen eines Auftrags aufzusuchen.«
Karim nickte und setzte an: »Ich soll dir sagen, dass …«
»Mit Wilhelm Liebherr hab ich nichts zu bereden«, unterbrach Quenot den Jungen und machte kehrt.
Wieder meldete sich Lipaire zu Wort: »Hör dir doch mal an, was der Junge zu sagen hat.«
»Du hast mir nichts zu befehlen«, rief er im Gehen.
»Lass uns wieder zurückfahren, Karim, du hast gehört, was das Mäuschen uns zugepiepst hat.«
Der Belgier drehte sich um – und ärgerte sich im selben Moment darüber. Verdammt, Lipaire wusste noch immer, welche Knöpfe man bei ihm drücken musste. »Besser, wenn du ganz schnell verschwindest«, zischte er und versuchte, so tief wie möglich zu klingen.
Doch Lipaire schien noch nicht fertig zu sein. »Offenbar hat der Herr Gärtner kein Interesse an einem großen Coup.«
Quenot schüttelte verächtlich den Kopf. Großer Coup, von wegen. Seit Jahren träumte der Deutsche davon, doch nach wie vor hauste er in seiner winzigen gardien -Wohnung.
»Haben wir beide eben mehr von dem Geld. Sag ihm das«, hörte er ihn rufen.
Wieder begann Karim: »Paul, ich soll dir sagen, dass Guillaume und ich …«
»Sag ihm, ich hab’s gehört.« Quenot schüttelte den Kopf über den Jungen. Er lief dem alten Idioten hinterher wie ein Entlein seiner Mutter.
»Karim, komm, wir holen uns jetzt die Million allein ab.«
Quenot zog die Brauen zusammen. Was faselte Lipaire da? Eine Million? Sicher war das nur heiße Luft. Wie immer. Andererseits … Das Boot drehte bereits wieder ab, da rief er ihm zu: »Karim, dir zuliebe höre ich mir an, was du zu sagen hast. Aber nur, wenn ich nicht selber mit Liebherr reden muss.«
Petitbon reckte den Daumen nach oben, machte am Kai fest und schwang sich hinter Lipaire auf den Anleger.
»Aber bleibt auf dem Steg, mit euren Quadratlatschen verdichtet ihr mir sonst den frisch gelüfteten Rasen.«
Lipaire lachte auf. »Sag ihm bitte, dass unsere Schuhe nicht so viel Schaden anrichten können wie der Tinnitus, den die Pflanzen von seinem Gepiepse bekommen.«
Mit hochrotem Kopf und geballten Fäusten schritt Paul auf den Steg zu.
»Oh, noch mehr Besuch? Wie schön. Freunde von Ihnen, Monsieur Quenot?« Madame Botté stand auf einmal hinter ihm.
»Freunde? Ganz sicher nicht!«
Die alte Dame neigte fragend den Kopf.
»Eher eine Art … Kollegen.«
»Kollegen? Sie gehen auch dem wunderbaren Beruf des Gärtners nach? Oder sind Sie sogar Floristen?«
»Wo dieser ältere Herr hinlangt, wächst kein Gras mehr«, erklärte der Belgier.
»Wie dem auch sei, darf ich die Herren auf eine Tasse Jasmintee einladen? Dann müsste ich allerdings noch Kuchen nachbestellen. Vielleicht eine schöne tarte tropézienne ? Garniert mit frischen Himbeeren?«
Quenot sah den beiden an, dass sie versucht waren, das Angebot anzunehmen, doch er kam ihnen zuvor. »Leider haben die beiden wichtige Termine.«
»Na ja, also wenn ich es recht bedenke: Die Einladung einer aufregenden Dame wie Sie schnöde abzulehnen kommt mir falsch vor«, erwiderte Lipaire und kam bereits näher, doch Quenot schob nach: »Schade, leider haben die beiden eine Jasminallergie, stimmt’s?« Dabei hob er drohend seine Rechte.
Lipaire und Karim nickten mit eingezogenen Köpfen.
»Ach, wie schade. Dann vielleicht ein andermal. Sind Sie so weit, Monsieur Quenot?«
»Nur einen Moment, ich komme nach.« Er wartete, bis die Alte verschwunden war, dann sagte er: »Du hast zwei Minuten. Und mit dem da arbeite ich nicht zusammen. Da kann kommen, was mag.«