Unter fremden Segeln

Es fühlte sich seltsam an, das Boot in dieser Besetzung durch die Dunkelheit in die Bucht zu steuern. Erst vor drei Tagen war Karim zusammen mit Lipaire dort hinausgefahren, und ihn schauderte noch immer bei dem Gedanken, wie er den Toten mit einem Seil am Schiffswrack befestigt hatte. Während seiner Schichten auf dem Wassertaxi hatte er in den letzten Tagen an nichts anderes mehr denken können. Ein Teil von ihm war froh, dass der Tote nicht mehr auf dem Meeresgrund an den rostigen Resten der Nathalie hing, er hätte nie wieder diese Stelle passieren können, ohne daran erinnert zu werden. Aber die Vorstellung, dass die Leiche jetzt in der Kirche im Sarkophag lag, war nicht viel beruhigender.

Karim blickte auf seine Passagiere, die sich so im Boot platziert hatten, dass zwischen ihnen der größtmögliche Abstand herrschte: Quenot, der schließlich doch zugesagt hatte, ihnen zu helfen, nachdem sie mit ein paar Scheinen gewedelt hatten, ganz vorn am Bug, Lipaire am Heck, die Beine angezogen, als wolle er so noch ein paar zusätzliche Zentimeter zwischen sich und den muskelbepackten Belgier bringen. Auch wenn dieses kindische Verhalten ihr Vorhaben erschweren würde, war Karim froh, dass Quenot an Bord war. Seine martialische Aufmachung und vor allem seine Muskelberge gaben ihm ein sicheres Gefühl. Der Ex-Soldat hatte Tarnkleidung an, dazu Militärstiefel, sein Gesicht war schwarz geschminkt, auf dem Kopf trug er eine dunkle Wollmütze, und an den verschiedensten Stellen seiner Kleidung hatte er Messer befestigt. Petitbon wusste nicht, was der ehemalige Legionär von ihrer Mission erwartete, aber er war offensichtlich aufs Schlimmste vorbereitet.

»Also, wenn Rambo unser Boot entert, haben wir ganz gute Chancen«, raunte Lipaire ihm spöttisch zu.

»Aber dafür haben wir ihn doch mitgenommen, oder?«

»Für Rambo?«

»Du weißt genau, was ich meine. Schau uns doch mal an.« Bei diesen Worten ließ Karim seinen Blick über ihre Freizeitkleidung gleiten. »Wir sind leichte Beute, wenn das eine Falle sein sollte.«

Murrend lehnte sich Lipaire zurück.

Petitbon wusste, dass der Deutsche im Grunde genauso empfand wie er, es aber nie zugeben würde. Er fragte sich, worin die Feindschaft der beiden Männer eigentlich begründet lag.

»Schon mal das Sprichwort gehört, den Bock zum Gärtner machen ? In dem Fall den Gärtner zum Bodyguard«, stichelte Lipaire weiter, doch Karim beschloss, es einfach zu ignorieren.

Niemand sagte mehr etwas, bis sie das Boot aus dem Video erreicht hatten, das etwa eine Seemeile vor der Hafeneinfahrt von Port Grimaud in Richtung Saint-Tropez ankerte. Karim drosselte den Motor und hielt direkt daneben, auf der vom Ufer abgewandten Seite. »Und jetzt?«

»Jetzt soll der Herr Blumenflüsterer mal rüber aufs Boot und schauen, ob alles in Ordnung ist.« Lipaire sprach so laut, dass Quenot es hören musste. Der Belgier nickte und schwang sich auf das Deck des anderen Bootes, das aus der Nähe betrachtet ziemlich heruntergekommen war. Es maß nicht viel mehr als sechs Meter, der hochgeklappte Außenborder hatte die besten Zeiten bereits hinter sich.

»Siehst du ihn noch?«, fragte Karim nach ein paar Minuten und starrte in die Dunkelheit. Sie trauten sich nicht, die Taschenlampe anzuknipsen. An den Ufern um sie herum wäre das weithin sichtbar.

Lipaire schüttelte den Kopf und tat gleichgültig. Da hörten sie ein dumpfes Geräusch, als Quenot wieder an Deck auftauchte.

»Und?«, zischte Karim ihm zu.

Paul Quenot antwortete nicht, machte aber wild fuchtelnd irgendwelche Handzeichen, die sie nicht verstanden. Er zeigte mit zwei Fingern auf seine Augen, dann nach unten, ließ seinen Zeigefinger in der Luft kreisen … Es wirkte ein bisschen wie Gebärdensprache, Karim vermutete aber eine militärische Bedeutung.

»Mein Gott, der meint, er sei immer noch im Dschungel«, seufzte Lipaire. »Ich glaub, er will uns sagen, wir können rüberkommen. Offenbar ist ja niemand drin.« Sie kletterten zu Quenot hinüber, im Gegenzug sprang der Belgier wieder aufs Taxi. Lautlos gab er ihnen zu verstehen, dass er dort die Stellung halten werde.

»Na, da können wir ja beruhigt sein«, kommentierte Li­paire mit gespielter Erleichterung, und Karim war froh, dass die Streithähne erst mal getrennt waren. Er hielt den Atem an, als sie die kleine Treppe ins Innere des Schiffes hinabstiegen. Der Raum unter Deck war winzig, aber zweckmäßig. Eine Einbaulampe erhellte ihn, vermutlich hatte Quenot sie angeknipst. Neben einem Tisch befand sich in einer Nische ein ungemachtes Bett. Überall lagen Klamotten herum, Geschirr stapelte sich, Papiere waren in der ganzen Kajüte verteilt. Es roch nach abgestandenem Salzwasser und modrigem Stoff.

Karim zog die Schultern hoch. »Das sieht nicht gerade nach viel Geld aus, oder?« Er wusste nicht, was er erwartet hatte, aber das hier war enttäuschend.

»Wart’s ab«, gab Lipaire zurück, der seine Ernüchterung ebenfalls nur schwer verbergen konnte.

»Meinst du echt, wir finden was?«

Da hielt sein Freund einen Zettel in die Höhe. »Ich hab schon was.«

Petitbon trat näher und las. »Aha, die Bestätigung für eine Bootsversicherung. Ist in einer solchen Umgebung aber auch keine Überraschung.«

»Lies den Namen!«

Karim kniff die Augen zusammen. »Bernard Cotillard.«

»Was?« Lipaire drehte das Dokument um. »Doch nicht den des Versicherungsfritzen. Den des Besitzers.« Wieder hielt er ihm den Wisch vor die Nase.

Jetzt bekam Karim große Augen. »Jacques Barral«, hauchte er. »Dann ist das sein Boot?«

»So sieht’s aus. Jetzt ist es nicht mehr so enttäuschend, oder?« Damit sah er sich weiter in der Unordnung um. Nach einer Weile rief er Karim erneut zu sich. »Schau mal.«

»Noch ein interessanter Name?«

»Nein, was anderes.« Er hielt ein paar Prospekte hoch. Sie zeigten monströse Jachten. Karim bekam große Augen. »Wow, Frauscher , Riva , Janneau. Und das hier, das ist das Topmodell der Bayliner -Reihe. Der Typ hat echt Geschmack, was Boote angeht.«

Lipaire blickte sich um. »Nur bei seinem eigenen offenbar nicht.«

»Ihm hat vielleicht einfach die Kohle gefehlt. So mancher träumt von Dingen, die er wahrscheinlich nie erreicht.« Er dachte an sein eigenes Zimmer, das gepflastert war mit Postern von Rennjachten.

»Da bin ich mir bei diesem Barral nicht so sicher. Schau dir mal die Notizen hier an.«

Jetzt sah Petitbon, dass auf den Prospekten handschriftliche Bemerkungen gemacht worden waren. Vor allem hohe sechsstellige Zahlen standen dort: die Preise der Schiffe. »Das hätte der sich nie im Leben leisten können.«

»Noch nicht«, sagte Lipaire und deutete auf eine weitere Notiz. Reserviert stand dort, mit drei Ausrufezeichen und mehrfach unterstrichen. »Er ging wohl fest davon aus, dass er bald zum nötigen Kleingeld kommen würde.«

Karim spürte, wie sein Mund trocken wurde. Lipaire hatte recht, er hatte von Anfang an recht gehabt. »Durch Erpressung? Aber womit?«

»Vielleicht mit belastendem Material?«, sagte eine helle Stimme.

Die beiden Männer fuhren herum. Hinter ihnen stand Quenot. Karim atmete schwer. »Mann, ich wär fast draufgegangen vor Schreck. Musst du dich so anschleichen?«

»Du sollst doch draußen aufpassen«, fuhr Lipaire ihn an.

Quenot legte seinen Zeigefinger an die Lippen und begann wieder mit seiner Soldaten-Gebärdensprache.

Lipaire sah eine Weile zu, dann brummte er: »Mon Dieu , wie viele Granaten hast du mit deinem Schädel abgewehrt? Sag doch einfach, was du meinst!«

»Ein Polizeiboot nähert sich, putain de merde. «

Die zwei erstarrten.

Der Belgier langte nach einem seiner Messer, doch als Li­paire ihm den Vogel zeigte, zog er die Hand wieder zurück. Dann knipste er das Licht aus, und sie lauschten in die Dunkelheit. Ein voluminöses Blubbern drang aus der Ferne zu ihnen. Und wurde immer lauter. Es stammte nicht von dem Boot, auf dem commissaire Marcel normalerweise unterwegs war.

Karim vermutete, dass es sich um eines der Schnellboote handelte, die von der gendarmerie Maritime für ihre Patrouillenfahrten benutzt wurden. Er hoffte, dass es einfach vorbeifahren würde, doch das Motorengeräusch verharrte direkt neben ihnen. Dann sahen sie durch die Luke, wie der Schein einer Taschenlampe über das Deck irrlichterte. Wahrscheinlich würden die Gendarmen gleich herunterkommen und sie finden, befürchtete Karim. Dann würde er verhört werden, das mit der Leiche würde rauskommen, er würde seinen Job verlieren, ach was, er würde schnurstracks ins Gefängnis wandern, seine Mutter vor Kummer sterben, seine Regatta-Pläne könnte er für immer begraben …

Quenot bedeutete ihnen mit einer langsamen Handbewegung, sich flach auf den Boden zu legen.

»Hallo, alles in Ordnung?«, durchbrach eine Stimme von draußen die Stille.

Karim zog unwillkürlich den Kopf ein und hielt den Atem an. Dennoch hatte er das Gefühl, man könne sein Herz bis an Deck pochen hören.

»Ja, danke, alles bestens. Wir suchen nur was«, rief Lipaire zurück.

Entsetzt starrten Karim und Quenot ihn im fahlen Licht an, das durch die Luke zu ihnen drang. Hatte er den Verstand verloren? Er konnte doch nicht …

»Urlauber aus Deutschland, nehme ich an?«, tönte es von oben.

»Ja, richtig geraten«, brummte Guillaume zurück.

»Gut, dann passt ja alles. Bonne nuit, und räumt an Deck mal ein bisschen auf«, kam von oben die Antwort, dann hörten sie das Motorengeräusch, das sich langsam entfernte.

Lipaire knipste das Licht wieder an. Ungläubig blickten die anderen beiden ihn an. »Was denn? Jetzt macht euch mal locker, die wollen doch nur Feierabend machen. Und wir suchen noch ein bisschen weiter.«

»Ihr müsst meinen Anordnungen unbedingt Folge leisten. Sonst kann ich für eure Sicherheit nicht garantieren«, erklärte der Belgier in militärischem Tonfall, der jedoch von seiner hohen Stimme konterkariert wurde.

Lipaire knurrte: »Jetzt nimm mal die Hand vom Abzug. Geh einfach oben wieder Sterne gucken. Und komm nur noch runter, wenn wirklich Gefahr droht, klar?«

Eine Weile durchsuchten Karim und Lipaire noch Barrals persönliche Dinge, allerdings ohne nennenswerten Erfolg. »Die nehmen wir am besten mit.« Lipaire steckte die Prospekte mit den Jachten in eine offen herumliegende Mappe. Er wandte sich schon zum Gehen, da hielt ihn Karim zurück: »Warte!« Er deutete auf das Deckblatt, auf dem in schnörkeliger Handschrift etwas geschrieben stand, das seinen Puls beschleunigte: Trésor d’Or.

»Goldschatz«, flüsterte er heiser.

Lipaire nickte mit offenem Mund.

Konnte das wirklich bedeuten, dass … Karim wagte nicht, den Gedanken zu Ende zu führen.

Das übernahm Lipaire für ihn. »Da hast du deine Antwort, woher das viele Geld kommen soll.«

»Ein Schatz? Echt?« Jetzt, wo er das Wort ausgesprochen hatte, fand Karim den Gedanken ein bisschen albern. »Ich mein … ist das nicht ein bisschen oldschool?«

Die Frage wurde von Guillaume mit einem Achselzucken quittiert. »Wir wären beileibe nicht die Ersten, die auf dem Meeresgrund auf verschollenes Gold stoßen. Was da noch alles liegt: alte Galeeren, nie geöffnete Truhen …«

»Hm …« Karim war nicht überzeugt. Das klang nach einem Schwarz-Weiß-Abenteuerfilm, nicht nach dem wahren Leben. Und vielleicht entsprach es auch eher Lipaires Wunschdenken. Seit Jahren hielt er nach einer Möglichkeit Ausschau, ans große Geld zu kommen, das wussten alle. Er hatte seinen finanziellen Abstieg, den Verlust seiner Apotheken, des Fischerhäuschens, seines schmucken Bootes, seines Vermögens nie verwunden. »Lass uns lieber mal weitersuchen«, schlug Karim vor. Über die Frage, ob es hier wirklich um einen Schatz ging, konnten sie sich auch später noch den Kopf zerbrechen.

Ein paar Minuten stöberten sie konzentriert in den Hinterlassenschaften des Toten, ohne zu sprechen. Bis Lipaire einen Gegenstand hochhielt. »Na, glaubst du jetzt an die Sache mit dem Schatz?«

Er hatte ein Buch in der Hand. Karim kniff die Augen zusammen und las den Titel: »Die Schatzinsel. Merde.«

»Ja, merde. Aber ein gutes merde. Das Buch hier und Trésor d’Or auf der Mappe, das schreit doch nach Schatz. Wird ja kaum der Kosename für seine Katze sein, oder?«

Schließlich gab Karim seinen Widerstand auf. »Ja, ja, ich glaub’s dir ja.« Das alles konnte kein Zufall sein. »Wenn man das mit dem Chat auf dem Handy zusammenbringt …«

»… kann das nur bedeuten, dass er von einem Schatz wusste und dieses Wissen zu Geld machen wollte«, beendete Lipaire seinen Satz. »Mithilfe der Frau am Telefon, die dafür bezahlen soll: Marie Vicomte.«

»Aber warum hat er sich nicht einfach selbst den Schatz geholt?«, fragte Karim.

»Vielleicht konnte er das nicht.«

»Wieso denn das?«

»Wir wissen doch gar nicht, worum es sich dreht.«

»Und?«

»Goldschatz bedeutet vielleicht etwas ganz anderes.«

Karim hob die Augenbrauen. »Gerade hast du doch noch gemeint …«

»Schon. Aber vielleicht ist es kein Gold im wörtlichen Sinn. Vielleicht ist es etwas, was noch viel mehr wert ist.«

»Mehr wert als Gold? Platin, oder was?«

»Vielleicht ist es ein wertvolles Gemälde, eine Antiquität, ein Schmuckstück … Das kann man nicht einfach so versilbern.«

Karim verstand nicht. »Aber es geht doch um Gold …«

»Zu Geld machen, mein ich. Man kann es nicht einfach bei eBay verkaufen, kapierst du?«

Karim nickte, dann senkte sein Freund die Stimme: »Kein Wort zu ihm, klar?« Dabei zeigte er mit dem Finger nach oben.

»Okay.«

Dann folgte Karim seinem Freund an Deck, wo der ein tiefes Seufzen vernehmen ließ: »Leider haben wir gar nichts Brauchbares gefunden, Paul.« Es war das zweite Mal, dass er Quenot direkt und mit Namen ansprach, was offensichtlich auch der Belgier seltsam fand. »Aber dein Honorar zahlen wir dir natürlich, Ehrensache.«

Quenot, der mit einem riesigen Fernglas am Bug hockte, rappelte sich hoch und schaute sie aus seinem schwarz geschminkten Gesicht an. »Und was ist mit dem Goldschatz?«

Wie vom Donner gerührt standen sie ein paar Sekunden lang still vor ihm. Karim konnte förmlich das Rattern in Lipaires Kopf hören, als der nach einer Antwort suchte. Schließlich hatte er eine gefunden. »Da hast du wohl was falsch verstanden, als du uns belauscht hast. Das war ja auch nur eine Vermutung. Jetzt müssen wir …«

»Ich weiß, was wir müssen«, unterbrach ihn Quenot.

»Was denn?«

»Den Schatz vor den anderen finden.«