»Heilige Muttergottes!« Guillaume Lipaire, der nur einen Augenblick zuvor aus dem Tiefschlaf hochgeschreckt war, saß aufrecht im Bett. Hatte da nicht eben jemand gegen seine Tür gehämmert?
Es war gerade mal kurz nach fünf Uhr morgens, sagte ihm seine innere Uhr. Er lauschte in die Dunkelheit, doch es war totenstill. Seufzend legte er sich wieder hin. Offensichtlich hatte er nur schlecht geträumt. War dieses Geheimnis, dem er da auf der Spur war, doch nervenaufreibender, als er sich selbst eingestand? Oder lag es am unerwarteten Kontakt mit Paul Quenot nach all der Zeit? Normalerweise ging ihm nichts und niemand im Traum nach. Und jetzt auf einmal diese Schlafstörungen? Waren das die ersten Alterserscheinungen? Etwas beunruhigt rollte er sich auf die Seite. Er musste schnell wieder einschlafen, denn schon um zehn würden Karim und leider auch Quenot kommen, um sich über mögliche weitere Schritte auszu…
Lipaire riss die Augen auf. Wieder dieses Geräusch an der Tür! Also doch kein Traum. Er schluckte. Wer konnte das sein, jetzt, zu nachtschlafender Zeit? Ob er einfach so tun sollte, als sei er gar nicht zu Hause?
»Guillaume, mach endlich auf, ich weiß, dass du da bist!«
Er schlug sich die Hand vors Gesicht. Zugegeben, für einen Moment hatte er sich ernsthaft Sorgen gemacht. Doch diese Fistelstimme war unverkennbar. »Hast du jetzt völlig den Verstand verloren, Quenot?«, blaffte er zurück. Wahrscheinlich kostete der Irre ein wenig zu oft von seiner eigenen Ernte, mutmaßte er, wälzte sich ächzend aus dem Bett und stieg die Leiter hinunter. Der Belgier würde was zu hören bekommen.
Als er die Tür aufriss und für seine Schimpftirade Luft holte, huschte Quenot an ihm vorbei in den Wohnraum, bevor Lipaire auch nur ein einziges Wort sagen konnte.
»Leise, potenzielle Feinde hören immer mit«, piepste der Belgier mit finsterer Miene und in belehrendem Ton. Dann setzte er sich auf einen der Küchenstühle.
Lipaire, noch etwas schlaftrunken, sah dem erneut komplett in Flecktarn gekleideten Ex-Soldaten mit gerunzelter Stirn nach, kratzte sich schulterzuckend am Bauch und schloss die Wohnungstür. »Was um alles in der Welt willst du mitten in der Nacht hier? Wir sind erst um zehn verabredet.«
»Lieber ein bisschen eher. Man weiß ja nie.«
»Mach doch, was du willst.« Lipaire schüttelte mitleidig den Kopf, kletterte zurück in sein Hochbett und schlief bereits nach wenigen Augenblicken ein.
Als Lipaire wieder aufwachte, vernahm er flüsternde Stimmen in seiner Wohnung. Allerdings waren die nicht leise genug, um sie zu überhören.
»Und ihr habt keine Ahnung, wer euch den Hinweis auf das Boot geschickt haben könnte?«
»Keinen blassen Schimmer. Als würde es sich dabei um ein Phantom handeln.«
Lipaire setzte sich auf. Karim war anscheinend zu Quenot gestoßen, während er noch geschlafen hatte. Und nun tuschelten sie unten an seinem Küchentisch, weil sie ihn nicht wecken wollten. Irgendwie rührend, fand er. Allerdings war er nicht begeistert davon, dass der Junge gerade dabei war, den Belgier in alle Einzelheiten ihres kleinen Abenteuers einzuweihen. Er sah auf die Uhr und erschrak: fünf nach zehn, so lange hatte er schon seit Ewigkeiten nicht mehr geschlafen. Schnell zog er sich eine Hose über, schnappte sich ein frisches Poloshirt aus dem Regal, das ihm hier auf der Empore als Ersatz für einen Kleiderschrank diente, und kletterte nach unten. Der Duft frisch gebrühten Kaffees stieg ihm in die Nase.
»Guten Morgen, Guillaume. Wir wollten dich gerade wecken«, begrüßte ihn Petitbon. Er und Quenot saßen am Bistrotisch und hatten große Henkeltassen vor sich. Lipaire hob lediglich eine Hand zum Gruß, ging zur Kaffeemaschine und schenkte sich auch eine ein.
»So, wie du ihn gern magst. Für jede Tasse einen Löffel, und einen extra für die Kanne«, erklärte Karim.
Lipaire nickte. »Ja, hat meine Oma schon so gemacht. Und die hatte ein Kolonialwaren- und Kaffeegeschäft. War also vom Fach.«
»Wässriges Zeug. Typisch deutsch«, sagte Quenot mit Blick in seinen Kaffeebecher.
Erst jetzt fiel Lipaire auf, dass der Belgier noch immer in exakt derselben Haltung auf ein und demselben Stuhl saß wie vorhin, als er sich noch einmal schlafen gelegt hatte. Seitdem waren Stunden vergangen. Geduld hatten diese Soldaten ja, das musste man ihnen lassen.
»Na, was habt ihr denn alles besprochen, während ich noch in Morpheus’ Armen lag?«
»Du hattest Besuch?«, fragte Karim mit weit aufgerissenen Augen.
»Ich sehe schon, in Sachen humanistischer Bildung ist von euch nicht viel zu erwarten«, brummte Guillaume und setzte sich auf den letzten verbliebenen Stuhl.
»Das Phantom macht mir Sorgen. Soll ich es ausschalten?«
Lipaire entging nicht das unstete Flackern in den Augen des Ex-Legionärs, während er die Worte aussprach. Er schüttelte nur den Kopf.
»Der oder die Unbekannte weiß aber mehr, als uns lieb sein kann. Also: Machen wir kurzen Prozess?«
Guillaume nahm einen großen Schluck von Karims wie immer viel zu stark gebrühtem Kaffee, setzte ein zuckersüßes Lächeln auf und erklärte: »Jetzt hört mir mal gut zu, ihr zwei Plaudertäschchen: Eure Sorgen sind vielleicht in gewisser Weise nachvollziehbar, ausgeschaltet wird hier aber gar niemand. Schließlich hat uns der Unbekannte ja geholfen, das dürfen wir nicht vergessen. Und zweitens: Um das Phantom , wie ihr es nennt, zu eliminieren, müssten wir es erst mal identifizieren und finden. Und dann …« Er hob den Zeigefinger seiner rechten Hand und sah Karim auffordernd an.
»… wäre es ja kein Phantom mehr«, nahm der den Faden auf.
»Du bist auf einem guten Weg, Junge.«
»Gibt es weitere Geheimnisträger in der Sache?«, schnarrte Quenot und ging noch ein wenig weiter ins Hohlkreuz. Vermutlich wollte er sich dadurch einen besonders militärischen Anstrich verleihen. Lipaire fand das lachhaft. Außerdem ging es den Belgier nicht im Entferntesten etwas an. Sie würden ihn für seinen gestrigen Auftrag bezahlen, und damit würde sich die Angelegenheit hoffentlich ein für alle Mal erledigt haben.
Noch während er das dachte, hörte er Karim sagen: »Delphine vom Handyladen ist auch dabei.« Konnte der Junge denn wirklich gar nichts für sich behalten? Im Geiste sah er, wie die Million, die sich als Größenordnung bereits fest in seinem Gehirn verankert hatte, in immer mehr Teile zerfiel. Karim wollte er mit ungefähr zweihunderttausend beteiligen, aber den Belgier? Ausgerechnet ihn? Von seinem Anteil würde er jedenfalls nichts bekommen. Würde der Junge ihn eben abfinden müssen. Schließlich war er es ja, der alles so freimütig ausplauderte. Möglicherweise ließ sich der Soldat aber auch mit einem vergleichsweise geringen Anteil abspeisen, wenn man seine Einfältigkeit geschickt ausnutzte und ihm glaubhaft versicherte …
»Wir müssen den Kreis klein halten«, unterbrach da Quenots Fistelstimme seine Gedanken. »Und was diese Delphine angeht: aufpassen! Nicht, dass sie auf eigene Rechnung arbeitet. Ich kann mich um sie kümmern, wenn ihr wollt.«
»Du meinst …« Karim schluckte.
Lipaire dagegen war mehr und mehr genervt. »Hier wird sich um keinen gekümmert, klar?« Dann zischte er dem Jungen so leise zu, dass Quenot es nicht hören konnte: »Ein Toter reicht uns dicke.«
»Aber sie darf uns nicht auf die Schliche kommen«, beharrte der Belgier. »Also sollten wir ihr wenigstens eine andere Geschichte verkaufen, an die sie glauben muss.«
»Wir, ich höre immer wir …«, brummte Lipaire.
»Ich bin dabei. Wolltet ihr doch.«
»Wer wollte das?«
Quenot ignorierte Lipaires Einwand. »Ich schlage für ein weiteres taktisches Treffen der Gruppe das Château de Grimaud vor.«
Lipaire seufzte. Egal, was er sagte, er drang damit nicht zu Quenot durch. Warum sollten sie sich ausgerechnet in der alten Burgruine treffen? Die lag oberhalb des Dorfes Grimaud auf einem Felsen, ein ganzes Stück von der Küste entfernt, und war ohne Auto nur schwer zu erreichen. »Was soll der Blödsinn? Was spricht dagegen, dass wir auch das nächste Mal wieder hier zusammenkommen?«
Der Belgier blickte mit verschwörerischem Gesicht um sich. »Hier haben die Wände Ohren«, flüsterte er. »Das Château ist strategisch besser. Um einundzwanzighundert?«
»Ich muss heute zwei Schichten schieben«, erklärte Karim.
Guillaume Lipaire nickte. »Eben. Totaler Unsinn, wir treffen uns bei mir, und damit basta. An dieser Entscheidung gibt es nichts zu rütteln. Und es heißt neun Uhr, nicht einundzwanzighundert, aber das nur so am Rande.«