Mysteriöse Begegnungen

»Was ist denn jetzt, Marie? Kommt er, oder kommt er nicht?« Isabelle Vicomte saß neben ihrer Mutter am großen Tisch im Schatten der Schirmpinie, während Bernadette gerade das Frühstücksgeschirr abdeckte. Henri tippte ihnen gegenüber auf seinem goldfarbenen Laptop herum, etwas abseits blätterte Yves auf einem Liegestuhl unter der Palme im Katalog von My private Island , einer Firma, die Inseln an Superreiche verkaufte und bei der er sich kürzlich um einen Job beworben hatte.

»Wen meinst du?«, fragte sie ihre Tochter.

»Papa natürlich, wen sonst?«

»Ich dachte, diesen Barral. Na, egal. Ich weiß nicht, wann dein Vater kommt, Schätzchen.« Das stimmte, obwohl es sich um ihren Ehemann handelte. Nur nach außen hin waren sie und Lucas noch ein Vorzeigepaar. Immerhin war er ein leidlich guter Vater, das musste man ihm lassen. Auch wenn sie vermutete, dass das Geld, mit dem er Clément und Isabelle so großzügig unterstützte, zu deren gutem Verhältnis beitrug. Dabei gehörte es streng genommen gar nicht ihm. Er hatte, arm wie eine Kirchenmaus, bloß in die Familie eingeheiratet – und damit ins Unternehmen, wo er einen Posten bekleidete, auf dem er nichts zu sagen hatte und damit auch nicht viel falsch machen konnte. Selbst für eine Scheidung fehlte ihm der Biss – und ihr im Moment die Zeit.

»Egal? Du findest es mittlerweile egal, wann Barral kommt? Das ist ja interessant, liebste Tante«, tönte es misslaunig vom Liegestuhl. Yves war inzwischen permanent auf hundertachtzig.

»Nein, Yves, mir ist es ganz und gar nicht egal. Im Gegenteil. Ich warte darauf, dass er sich meldet und seine Forderungen präzisiert. Nach seinem letzten Anruf habe ich nichts mehr von ihm gehört, und sein Handy ist offensichtlich aus. Genügt dir das, liebster Neffe?«

»Ich will, dass die Sache endlich in trockenen Tüchern ist.«

Henri hörte auf, in seine Tastatur zu hämmern, und hob den Blick. »Also, wenn ich mich da einmischen darf: Ich habe zu unserem Barral ein wenig recherchiert.« Er machte ein Gesicht, als erwarte er, dass man ihn nach dem Ergebnis dieser Recherche fragte.

Doch auf solche Spielchen hatte Marie im Moment keine Lust. »Soso«, murmelte sie nur und widmete sich wieder der Lektüre der neuesten Ausgabe von Le Figaro , ihrer Meinung nach das einzig vernünftige journalistische Erzeugnis des Landes.

Da niemand nachfragte, räusperte sich Henri und begann von sich aus zu berichten: »So wie es aussieht, ist auf Barral zumindest in Frankreich kein Auto zugelassen. Dafür verfügt er aber über ein Boot eher geringer Länge, die Mystère. Registriert in Toulon. Ein wenig abgeritten, aber immerhin ein Modell mit kleiner Kabine. Vielleicht haben wir ja Glück, und er hat damit irgendwo in der Nähe festgemacht.«

»Moment mal, wieso hast ausgerechnet du dazu recherchiert?«, wollte Isabelle wissen.

Henri zuckte gönnerhaft mit den Schultern. »Nun, ich muss ja für meine Bücher auch ständig Nachforschungen betreiben. Natürlich hat man da so seine Methoden.«

»Hast du die nationale Schifffahrtsbehörde angezapft, oder wie?«, schaltete sich Yves ein, der inzwischen seinen Katalog weggelegt und sich aufgesetzt hatte.

»Nicht ganz.« Henri hatte in seinen berüchtigten Experten-Tonfall gewechselt. »Barral besitzt einen Instagram-Account. Und unter all den Fotos findet sich auch eines von seinem Boot, samt Name und Kennung.«

»Schön und gut, aber wir wissen doch gar nicht, ob er von Toulon aus überhaupt schon hierher aufgebrochen ist. Oder sich noch ganz woanders aufhält. Bringt uns also nicht wirklich weiter«, wandte Marie ein. Sie hatte über die Jahre gelernt, Henris Ideen mit einer ordentlichen Portion Skepsis zu begegnen.

Ihrer Tochter schien es ähnlich zu gehen. »Und selbst wenn er irgendwo hier in der Gegend wäre, wie sollten wir unter all den Booten ausgerechnet seines finden?« Sie zeigte auf das Gewirr aus Jachten auf den Kanälen um sie herum.

Marie tätschelte ihrer Tochter den Arm. »Eben. Eine Stecknadel im Heuhaufen.«

»Moment, Leute.« Yves war unterdessen aufgestanden, kam nun ebenfalls an den Tisch und zog sich einen Stuhl heran, auf den er sich rittlings setzte. »Was spricht gegen einen Anruf bei der capitainerie ? Die sind doch für so was zuständig.«

Henri hob die Hand. »Vorsicht! Wir sollten unbedingt vermeiden, dass irgendeine Behörde uns mit Barral in Verbindung bringen kann.«

»Na gut, von mir aus. Dann lass uns das Beiboot nehmen und die Kanäle, den Hafen und die Bucht absuchen«, lautete Yves’ nächster Vorschlag. »Besser, als hier rumzuhängen und uns den Hintern breit zu sitzen!«

Wieder schien Henri nicht begeistert. »Dein Aktionismus in allen Ehren, aber das Absuchen aller Kanäle mit dem Dingi würde ewig dauern. Ich habe eine andere Idee.«

Marie sah, wie sehr er es genoss, dass alle Anwesenden ihn jetzt erwartungsvoll anblickten. Der gefeierte Krimiautor , wie er sich gern selbst nannte, liebte es, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen.

»Nun«, setzte er schließlich nach einer langen Pause an, »auf der Homepage der capitainerie wird die Anzahl der verfügbaren Liegeplätze für externe Besucher seit sechs Tagen mit null angegeben.« Er stand auf und ging mit erhobenem Zeigefinger um den Tisch herum, als wäre er Hercule Poirot. »Ergo hat auch Barral keinen solchen Platz in der Marina oder vorn in den Kanälen an der Kirche bekommen und musste deshalb draußen im Golf ankern. Wollen wir nun also seinen Aufenthaltsort herausfinden …« Wieder hielt er kurz inne, setzte sich und lehnte sich in seinem Stuhl weit zurück, bevor er selbstgefällig schloss: »… sollten wir also nachsehen, ob die Mystère dort zu finden ist. Im besten Fall mit Monsieur Barral an Bord.«

»Respekt. Dein Handwerk hast du anscheinend wirklich drauf.« Die Bewunderung, die in Isabelles Stimme mitschwang, ärgerte ihre Mutter. Für sie waren das nichts als Taschenspielertricks.

Henri lächelte breit. »Ja, Isabelle, viele unterschätzen diese Gabe. Eine Studie hat ergeben, dass Krimiautoren im Vergleich zur Normalbevölkerung einen signifikant erhöhten IQ aufweisen.«

»Echt jetzt?«, hakte Yves skeptisch ein.

Augenzwinkernd deutete Henri auf seinen Neffen. »Seht ihr?«


Eine halbe Stunde später saßen Marie, Yves und Henri im Schlauchboot mit dem schmalbrüstigen Außenborder, das sie normalerweise für kurze Tenderfahrten zwischen der vor der Küste liegenden Jacht und dem Hafen nutzten. Isabelle hatte es vorgezogen, an Land zu bleiben und sich ausgiebig der Pflege ihres Instagram-Accounts zu widmen. Mehr als drei Passagiere wären auch zu viel für das ohnehin schon tief im Wasser liegende Gefährt gewesen, das Yves in Richtung Hafeneinfahrt steuerte. Marie klammerte sich verkrampft am Sitzbrett fest, was nicht zuletzt daran lag, dass ihr Neffe einfach kein guter Fahrer war. Das hatte er wieder einmal bewiesen, als er direkt vor ihrem Haus ein Stand-up-Paddle gerammt hatte, auf dem zwei Mädchen herumgedümpelt waren. Beim Zusammenstoß hatte eine der beiden ihr Handy vor Schreck ins Wasser fallen lassen. Unter großem Gezeter war sie schließlich auf eine Entschädigung von fünfzig Euro eingegangen, die Marie ihr angeboten hatte. Anscheinend betrieb die Mutter der beiden einen Handyladen im Ort, wie die kleine Schwester ihnen erzählt hatte, für Nachschub sollte also gesorgt sein.

Es folgte ein Beinahe-Crash mit dem Wassertaxi, das immer wieder ihren Weg gekreuzt hatte. Offenbar hatte es dieselbe Route, was Marie ein bisschen nervös machte, da sie keinen Wert auf neugierige Blicke bei ihrem Vorhaben legte. Sie entspannte sich erst etwas, als sie im offenen Wasser der weitläufigen Bucht anlangten, wo Yves das kleine Schlauchboot halbwegs ruhig von Jacht zu Jacht steuerte. Tatsächlich hatten sie nach ein paar Minuten auch Barrals reichlich in die Jahre gekommenen Kahn gefunden, der an seiner Ankerkette auf den sanften Wellen schaukelte.

»Wow, Henri, gar nicht mal schlecht«, gab Yves zu, und auch Marie war überrascht, dass ihr Halbbruder sie so schnell ans Ziel geführt hatte, sagte aber nichts.

Sie riefen mehrmals erfolglos Barrals Namen, dann schwangen sich die Männer vom Dingi aus auf sein Boot. Marie wollte auf dem offenen Meer keine derartigen Manöver unternehmen und ließ in diesem Fall den Herren gern den Vortritt. Sie blinzelte in den tiefblauen Himmel und hätte beinahe den Moment genossen, als eine dieser schrecklichen Spielzeug-Drohnen ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Sie hasste diese Dinger wie die Pest: Nicht nur, dass sie einen infernalischen Lärm machten. Wahrscheinlich saß auf einer der Jachten auch noch irgendein verzogener Fratz, der nichts Besseres zu tun hatte, als die Leute hier auf dem Meer auszuspionieren. Sie würde das verbieten lassen, sobald sie etwas zu sagen hatte.

Bevor sie sich weiter mit dem Gedanken beschäftigen konnte, tauchten Henri und Yves wieder an Deck der Mystère auf. Ihr Halbbruder wedelte mit einem Zettel.

»Habt ihr etwas, was uns weiterbringt?«, fragte sie mit einer Mischung aus Skepsis und Hoffnung.

»Könnte sein.« Die beiden kamen zurück aufs Schlauchboot und gaben ihr das Stückchen Papier, auf das eilig eine Notiz geschmiert worden war.

»Telefonat mit V – Summe zu gering? Bedeutend mehr wert. Aber wie viel?«, las sie halblaut ab. »Wo habt ihr das gefunden?«

»Mitten auf dem Tisch in der Kabine, hast du gesagt, oder Henri?«

Er nickte.

»Das hieße ja, Barral hat sein letztes Telefonat mit mir von hier aus geführt«, dachte Marie laut nach.

»Exakt«, pflichtete ihr ihr Halbbruder bei.

»Und wisst ihr, was das noch heißt?«, fragte Yves in die Runde. Als keiner reagierte, gab er selbst die Antwort: »Dass das Schwein noch deutlich mehr aus uns rauspressen will.« Beifall heischend sah er einen nach dem anderen an.

Henri brummte: »Du bist einfach ein superschlaues Kerlchen. Jedenfalls keine Spur von ihm. Sieht danach aus, als müssten wir warten, bis er sich wieder meldet.«

»Wie kommt dieser Barral überhaupt hierher zurück?«

Henri zog die Schultern hoch. »Vielleicht hat er auch ein Beiboot.«

Yves schüttelte vehement den Kopf. »Ein Dingi? Auf dieser abgeranzten Nussschale? Unwahrscheinlich.«

»Er wird kaum geschwommen sein.«

Inzwischen hatten sie wieder etwas Fahrt aufgenommen und hielten auf die Hafeneinfahrt von Port Grimaud zu, als auf einmal direkt vor ihnen etwas platschend ins Wasser fiel.

»Was war das denn?«, fragte Henri erschrocken.

Marie lächelte. »Diese Drohne hat mich eben schon genervt, als ihr auf dem Boot wart. Geschieht denen recht, dass sie jetzt auf Grund geht. Aber was mich viel mehr interessiert: Wo um alles in der Welt ist Barral abgeblieben?«