»Hochverehrteste Comtesse Marie, überaus geschätzte weitere Mitglieder der Familie Vicomte, es erfüllt uns mit tiefer Dankbarkeit und ist uns zugleich eine Ehre, uns heute an Ihrem Tisch einfinden zu dürfen.« Louis Valmer beendete seine in salbungsvollem Ton vorgetragene Begrüßung und wartete auf ein Zeichen, Platz nehmen zu dürfen. Seine Frau Antoinette nickte verlegen und deutete einen Knicks an.
Marie brachte dem Paar, das da so unterwürfig vor ihnen stand, keinerlei Respekt entgegen. Wie sollte sie auch, diesen Leuten fehlte es ganz offenbar an jeglicher Selbstachtung. Ständig katzbuckelten sie vor ihnen, erniedrigten sich geradezu. Seit Jahren standen sie und noch ein paar andere in Diensten ihrer Familie: eingefleischte Monarchisten, die den alten Zeiten hinterhertrauerten. Dabei waren sie selbst gar nicht adelig. Die Monarchistische Bewegung , wie sie sich selbst nannten, brachte allem, was auch nur annähernd mit Adel oder Royalismus zu tun hatte, glühende Verehrung entgegen. Angeblich hatten sie über ganz Frankreich verteilt eine nennenswerte Anzahl von Mitgliedern, die nur auf den Moment warteten, in dem sie für ihre Sache aktiv werden konnten.
Dennoch hatte Marie keine vernünftige Alternative dazu gesehen, sie zu kontaktieren. Die beiden waren der Kopf der Gruppe, derer sich ihre Familie schon seit geraumer Zeit bediente. Sie hatte sie sozusagen von ihrem Vater »geerbt«. Der sie mit der gleichen Verachtung behandelt hatte wie nun sie. Aber verzichten wollten sie dennoch nicht auf ihre Hilfe, dazu waren sie einfach zu nützlich. Und so hatte Marie sie eingeladen, eigentlich eher zu sich zitiert, um eine kleine Gefälligkeit einzufordern. Denn während sie zusammen mit Henri und Yves auf dem Boot gewesen war, hatte Isabelle auf Instagram eine interessante Entdeckung gemacht: Der verschollene Barral hatte eine Lebensgefährtin. Isabelle hatte sogar herausgefunden, wo sie wohnte. Wenn sich ihre Tochter mit etwas auskannte, dann war das Social Media, dachte Marie nicht ganz ohne Stolz. Da konnte Henri noch so demonstrativ den genialen Ermittler geben – weit kam er damit nicht.
Die neue Erkenntnis hatte sie auf die Idee gebracht, sich bei besagter Freundin nach dem Aufenthaltsort Barrals zu erkundigen. Und da niemand aus der Familie gewillt war, derartige Nachforschungen anzustellen, noch dazu in Toulon, hatten sie auf das Ehepaar Valmer und ihre diskreten und unentgeltlichen Dienste zurückgegriffen.
»Ach, ich bitte Sie«, winkte Marie mit gespielter Bescheidenheit ab, »wir sind doch auch nur eine ganz normale Familie.«
Die Valmers lachten, als habe sie den Witz des Jahrhunderts gemacht.
»Möchten Sie uns bitte kurz berichten, was Sie in Erfahrung gebracht haben?«, bat Henri und bedeutete ihnen, sich zu setzen. Marie entging nicht, dass er der Einzige war, der das Wort »bitte« verwendete, wenn es um diese Leute ging. Am Ende würde er ihnen noch einen Kaffee anbieten und sie zum Mittagessen einladen.
Sie hatten alle an der großen Tafel Platz genommen, sogar Chevalier Vicomte war mit dem Rollstuhl an die Stirnseite geschoben worden und blickte aus erstaunlich wachen Augen in die Runde.
»Natürlich, um zu berichten, sind wir ja hier«, versetzte Louis Valmer dienstbeflissen. »Antoinette, reichst du mir bitte die Notizen unserer enquête ? Und die Fotos von Barral, die uns seine Lebensgefährtin, nun ja, überlassen hat?«
»Sofort, Louis.« Sie legte alles auf den Tisch, und alle beugten sich über die Abbildungen, die den Mann zeigten, auf den sie nun schon so lange warteten.
Ob die Valmers Decknamen benutzten? , schoss es Marie plötzlich durch den Kopf. Wahrscheinlich, ansonsten wären ihre Vornamen in dieser Konstellation ziemlich ungewöhnlich. Doch sie fragte nicht nach, denn sie wollte ihnen nicht das Gefühl geben, dass sie sich über sie Gedanken machte.
»Sind das eigentlich Pseudonyme, die Sie verwenden?«, fragte Yves im selben Moment an das Ehepaar gewandt.
Die Valmers brachten nichts als ein schüchternes Lächeln heraus, warfen sich kurz einen Blick zu, dann setzte der Mann an, ohne weiter auf die Frage einzugehen: »Wir konnten die von Ihnen gesuchte Mathilde Fournier dank Ihrer exakten Vorrecherche ausfindig machen. Sie arbeitet als Goldschmiedin in einem kleinen Ladengeschäft für traditionelle Colliers in der Innenstadt von Toulon namens …« Er fasste nach der schmalen Lesebrille, die an einer Kette vor seiner Brust baumelte, und las den Namen »Orfèvrerie Ducroix« von seinem Notizzettel ab.
Dann übernahm nahtlos seine Frau: »Madame Fournier, eine eher einfache Person, wie ich mir erlaube hinzuzufügen, betreibt in ihrer Freizeit einen kleinen Internetshop, wo sie selbst gefertigten Modeschmuck, vielleicht sollte man es besser Tand nennen, vertreibt. Wenn Sie mich fragen, diese Person …«
»Unsere Einschätzung über die Dame tut nichts zur Sache, Antoinette«, fiel Louis Valmer seiner Frau ins Wort. »Unser Auftrag war die Recherche, nicht die Analyse.«
»Stimmt, Louis, ich vergaß«, entschuldigte sich die Frau. »Wir suchten sie also an ihrer erwerbsmäßigen Arbeitsstelle auf und fragten nach dem Verbleib ihres Lebensgefährten, Monsieur Barral, doch zunächst wollte sie uns partout keine Auskunft geben.« Sie sah ihren Mann an, und erst als der nickte, sprach sie ein wenig leiser weiter. »Der Zufall wollte es, dass zwei unserer russischen Freunde gerade zu Besuch sind. Wir hatten sie bei unserem Besuch in Toulon als Unterstützung dabei. Die beiden, Vladimir und Sascha, haben ihre ganz besonderen Methoden, Menschen zum Reden zu bringen.«
»Echt?«, hakte Yves ein. »Was machen die denn so?«
»Ich denke, es ist besser, wenn wir nicht in die Details eingeweiht sind«, kam Marie einer Antwort zuvor.
»Sicher wollen Ihre osteuropäischen Freunde auch, dass ihre Privatsphäre und ihr Berufsgeheimnis gewahrt werden«, fügte Henri grinsend hinzu.
»Sicher«, meldete sich Louis wieder zu Wort. »Es geht ja ums Ergebnis, nicht um den Prozess. Nun, nach dem beherzten Eingreifen von Vladimir und Sascha hat die Dame uns bereitwillig Auskunft erteilt. Es scheint, als wisse diese Mathilde Fournier tatsächlich selbst nicht, wo sich Barral im Moment aufhalten könnte. Er sei mit dem Boot weggefahren, das ist ihre letzte Information. Dieser Umstand wird auch dadurch belegt, dass sie bereits die Polizei konsultiert und eine Vermisstenanzeige aufgegeben hat. In Saint-Tropez, nicht in Toulon, wohlgemerkt.«
»Interessant«, murmelte Henri, und auch Chevalier nickte bedächtig.
Tatsächlich war das eine Information, die nicht ganz irrelevant war, fand Marie.
»Im weiteren Verlauf des Gesprächs kamen dann keine bahnbrechenden Neuigkeiten mehr zutage«, vermeldete nun wieder Madame Valmer. »Man hatte unterm Strich durchaus das Gefühl, als sorge sich Madame Fournier ernsthaft um ihren Freund, da sie schon länger nichts von ihm gehört hat.«
»Das könnte natürlich bedeuten, dass …«, begann Chevalier Vicomte, doch seine Tochter legte ihm schnell die Hand auf den Arm.
»Unsere Schlüsse ziehen wir später, Papa.« Marie stand auf und gab dadurch den beiden Besuchern unmissverständlich zu verstehen, dass ihre Zeit zum Aufbruch gekommen war.
Das Ehepaar erhob sich nahezu synchron, und nachdem beide noch ein gefühltes Dutzend Mal unterwürfig gefragt hatten, ob sie noch irgendetwas für die Vicomtes tun könnten, wurden sie ohne weitere Umschweife hinauskomplimentiert. Yves’ dem Ton nach zu schließen ernst gemeinte Bitte, doch noch ein paar Croissants und eine tarte tropézienne zu besorgen, wurde von seiner Tante kurzerhand als Scherz abgetan.
»Besser, wenn wir unter uns sind für die Analyse der neuen Lage«, sagte Marie erleichtert, als sie schließlich alle wieder um den Tisch saßen. Sie fühlte sich immer unbehaglich in Gegenwart dieser Leute.
»Wäre doch praktisch gewesen, mit der Bäckerei. Ich hätte allmählich Hunger«, insistierte Yves.
»Musst du eigentlich ständig ans Essen denken? Geh zum Kühlschrank, oder besorg dir etwas auf dem Markt«, zischte Marie genervt, bevor sie sich wieder an ihren Vater wandte. »Du wolltest etwas sagen, Papa?«
»Ja, allerdings. Etwas Wichtiges. Aber inzwischen habe ich es leider vergessen, mein Engel«, sagte Chevalier leise und deutete ein Achselzucken an.
»Es fällt dir bestimmt wieder ein. Wie sehen die anderen das Ganze?«
»Interessant, dass Barrals Freundin schon die Polizei eingeschaltet hat«, fand Yves.
Isabelle nickte. »Stimmt. Wenn es gut läuft, finden die ihn für uns. Onkel Henri, kannst du dich nicht mal erkundigen, wer dafür bei den flics zuständig ist? Du als Krimischreiber hast doch sicher Connections.«
Marie war zufrieden. Die gemeinsame Sache schweißte die Familie wenigstens ein bisschen zusammen. Derart konstruktive und konfliktarme Gespräche hatten sie schon lange nicht mehr geführt.
»Liebe Isabelle, ich bevorzuge die Bezeichnung Schriftsteller , wenn es sein muss auch Autor. Als Schreiber würde ich allenfalls noch einen Verkehrsüberwacher bezeichnen. Na ja, die literarische Welt ist vielleicht auch nicht so dein Metier.«
Marie revidierte ihr Urteil über die Familie gleich wieder. »Hast du nun Beziehungen oder nicht, Henri?«, versuchte sie, das Gespräch auf eine sachliche Ebene zurückzubringen.
»Sicher, ich kenne Leute bei den flics in Saint-Tropez, die mir Auskunft geben könnten.« Er lächelte überlegen.
Ihr Halbbruder wollte sich wieder einmal bitten lassen.
»Dann ruf sie doch gleich an, Junge«, tat ihm sein Vater den Gefallen, bevor er in einen derart heftigen Hustenanfall ausbrach, dass die Pflegerin aufgeregt und mit wedelnden Händen von der Terrasse hereingelaufen kam.
Henri zog sein Handy aus der Hosentasche, wählte eine Nummer, dann hielt er es sich ans Ohr und erkundigte sich nach einer knappen Begrüßung, wer sich in Saint-Tropez um Vermisstensachen kümmere. Man hörte, dass jemand antwortete, dann brach er in schallendes Gelächter aus. Als er aufgelegt hatte, sahen ihn lauter fragende Gesichter an.
»Wir werden ihn leider selbst suchen müssen«, sagte Henri, als er sich wieder gefangen hatte.
»Warum? Sag schon, was ist denn?«, drängte Marie.
»Ausgerechnet commissaire Marcel nimmt sich bei denen der Vermisstenanzeigen an.«
»Und was heißt das?«
»Der Typ ist zwar ständig auf der Suche, aber leider nur nach irgendwelchen Weibern, denen er mit seiner Knarre und ein paar erfundenen Gangstergeschichten imponieren kann. Von dem ist nichts zu erwarten. Aber immerhin auch nichts zu befürchten.«