Guillaume Lipaire verspeiste im Stehen das letzte Stück seines Mittagessens vom Markt, einer pissaladière , des legendären Zwiebelkuchens aus Nizza mit Sardellen und Oliven, dem er eigentlich nicht viel abgewinnen konnte. Aber die Leute hier liebten ihn nun einmal, und wenn man wirklich dazugehören wollte, tat man einfach so, als schmecke es. Dabei musste er an die Worte seiner Großmutter denken. Die hatte ihn immer mit schrecklich versalzenen Speisen gefüttert, und wenn er sich weigerte, sie zu essen, pflegte sie zu sagen: »Der Hunger treibt’s rein, der Ekel schiebt’s runter, und der Geiz behält’s drin.«
Als er fertig war, wischte er sich die öligen Hände an seinem Stofftaschentuch ab, brachte nach mehreren Anläufen eine Zigarre zum Brennen und blies den Rauch in die Luft dieses überaus angenehmen Junitages.
»Na, dann sind wir zwei Hübschen heute wohl das deutsch-französische Dream-Team, was, Guillaume?«
Aus zusammengekniffenen Augen betrachtete er Delphine, die in Spaghettitop und viel zu engen Leggings vor ihm stand. Sie hatte weder das geringste Gefühl für Stil, noch vermochte sie, etwas aus sich zu machen. Dafür beherrschte sie die Sache mit den Handys aus dem Effeff.
Eigentlich war es ihm nach wie vor ein Dorn im Auge, dass die Gruppe auf eine derartige Größe angewachsen war. Er und Karim – das war alles, was er gebraucht hätte. Aber nun hatte das Schicksal sie auf verschlungenen Wegen mit Quenot, Delphine und Jacqueline zusammengeführt.
Vielleicht sollte es so sein. Denn auch wenn es ihm schwerfiel, das zuzugeben, hatte es sich ja bereits mehrfach als nützlich erwiesen, dass die Dicke und der Muskelprotz mit von der Partie waren. Was den Belgier betraf, hatte er aus persönlichen Gründen natürlich die größeren Vorbehalte. Es blieb die Hoffnung, dass sich ihre Zwangsgemeinschaft bald wieder auflösen würde. Zum einen würde die Belohnung am Ende größer ausfallen, je weniger sie waren. Zum anderen hatte er sich in seinem neuen Leben inzwischen gut eingerichtet. Bedarf an einer Ersatzfamilie hatte er keinen. Er war zwar durchaus ein geselliger Mensch und fand schnell Anschluss. Das war nicht das Problem. Aber es gab Dinge, die regelte man besser allein. Dass er Delphine so schnell wieder würde loswerden können, bezweifelte er allerdings.
»Na, überlegst du, wie du mich am besten wieder loswirst?«
Sie war nicht nur stur, sondern auch schlau, musste Lipaire zugeben. »Aber ich bitte dich, meine Liebe. Ohne dich und deine legendären Fertigkeiten wäre ich aufgeschmissen.«
Das war zwar übertrieben, aber einen wahren Kern hatte die Aussage doch. Er würde sicher schneller vorankommen, wenn sie ihm half. Karim hatte Taxidienst, und von Quenot vermutete er, dass er in seinem Leben noch kein Buch zu Ende gelesen hatte. Doch genau darum ging es heute: Bücher. Er blickte auf das Schild des Ladens am Fuße der Rialtobrücke, vor dem er auf seine Begleiterin gewartet hatte. Auch wenn er Tabac du Soleil hieß und ein Schriftzug am Eingang die Touristen mit den Worten Here Cold Drinks anzulocken versuchte – er war auch der einzige Buchladen im Ort. Zumindest das, was einem Buchladen am nächsten kam.
Lipaire nahm noch ein paar letzte, hastige Züge von seiner Zigarre, dann schnippte er sie ins Wasser des Kanals. »Gehen wir.«
In dem Geschäft, das viel größer war, als es von außen wirkte, wurde man beinahe erschlagen von der Auswahl an billigem, buntem Krimskrams. Von lavendelverzierten Handyhüllen über Selfiesticks bis zu Sonnencreme gab es alles, was für Urlauber hier lebensnotwendig zu sein schien. Nur Bücher sah er nicht.
»Merde , gab es hier früher nicht auch mal was zu lesen?«, brummte er.
Delphine zeigte auf die Tageszeitungen in verschiedenen Sprachen, die neben dem Holzaufsteller mit Porzellanfiguren von Louis de Funès in seiner flic -Uniform aufgereiht waren.
»Du weißt, was ich meine. Bücher. Das sind so Dinger zwischen zwei Pappkartondeckeln …«
»Wie lange trägst du den Witz schon mit dir rum?«, konterte sie. Dann bedeutete sie ihm, ihr zu folgen, und ging durch Regalreihen voller Tischdecken mit Motiven der Provence in den hintersten Teil des Geschäfts. »Siehst du?«
Er nickte. Hier befand sich die überschaubare Leseecke. In einem Metallgestell standen jede Menge Schmöker für den Strand, darunter sogar Titel deutscher Krimiautoren, von denen Guillaume jedoch noch nie gehört hatte. Und tatsächlich: Ein paar Plätze waren auch von Büchern über die Region und die Stadt belegt. Dort würden sie bestimmt auch Fachliteratur über Gilbert Roudeau, den Architekten, finden. Lipaire spürte, wie das Jagdfieber von ihm Besitz ergriff, und nahm das erste Buch zur Hand.
Eine Viertelstunde später machte die Aufregung jedoch Ernüchterung Platz. Sie hatten alles durchgeblättert, was es in dem Geschäft über die Stadt und ihre Architektur zu finden gab, jedes Buch in der Hand gehabt, Titel wie Port Grimaud – Perle an der Côte d’Azur oder Eine Stadt in Azurblau durchforstet. Sogar einen Kalender mit der Aufschrift Lavendelzauber hatte er in seiner Verzweiflung durchgesehen. Doch alles, was sie über den Architekten fanden, waren oberflächliche Fakten, gepaart mit klischeehaften Sätzen wie Roudeau, eine Legende der mediterranen Architektur. Wahrscheinlich würden sie in den kostenlosen Makler-Prospekten, die an jeder Ecke angeboten wurden, bedeutend mehr nützliche Informationen finden.
»Hast du irgendwas Brauchbares?«, fragte er Delphine.
Doch die blickte genauso verzweifelt drein wie er. »Vielleicht fragen wir mal«, schlug sie vor.
Skeptisch blickte er in Richtung Verkäufer, der in einem fleckigen Polohemd hinter der Kasse stand und sich von einem Ventilator anwehen ließ. Er kannte den Mann, weil er bei ihm mangels Alternative seine Zigarillos kaufte, war aber auch im Lauf der Jahre nicht recht warm mit ihm geworden. Vielleicht auch deshalb, weil er sich der Gepflogenheit des Anschreibens hartnäckig verweigerte und stattdessen auf sofortiger und vollständiger Bezahlung seiner Waren bestand.
»Ach, sieh an, der Deutsche«, begrüßte ihn der Ladenbesitzer und schob dann wortlos eine dunkelblaue Schachtel mit der Aufschrift Hédon über den Tresen. Lipaires Lieblingssorte.
»Salut , Georges. Keine Rillos heute, ich bin noch versorgt. Aber wir suchen ein Buch, wo was Vernünftiges über den Architekten Roudeau drinsteht. Vielleicht eine Biografie?«
Der Mann blickte zwischen den beiden hin und her, dann brach er in lautstarkes Gelächter aus. »Ihr sucht … eine … Biografie?«, presste er hervor. »Ja, ja, sicher, schaut doch mal neben der Jura-Abteilung direkt hinter dem Philosophie-Regal.«
Es kostete Lipaire Mühe, sich eine böse Replik zu verkneifen. Gerade als er sich abwenden wollte, ertönte hinter ihm eine näselnde Stimme: »Kann ich Ihnen vielleicht helfen?«
Lipaire erstarrte. Er kannte die Stimme. Langsam drehte er sich um. »Commissaire Marcel, was für eine Überraschung.«
Auch Delphines Augen weiteten sich. Ganz offensichtlich wusste auch sie, wen sie da vor sich hatten.
»Ach, kennen wir uns?«, fragte der Polizist, der sein Haar wie immer nach hinten gegelt und sein Hemd einen Knopf zu weit offen hatte.
»Wer kennt Sie nicht?«, entgegnete Delphine, um dann sofort auf ihr Thema überzuleiten. »Wissen Sie denn mehr über die Lokalgeschichte?«
»Lokalgeschichte? Durchaus, durchaus«, näselte der Polizist. »Ich kann ein vortreffliches Buch über die regionale Küche empfehlen. Inklusive Rezepten. Jedes mit einer begleitenden Weinempfehlung. Darin habe ich einen vorzüglichen Dessertwein entdeckt, den ich sehr …«
»Nein, so was suchen wir nicht«, unterbrach sie ihn. »Wir sind eher interessiert an etwas über … Roudeau.«
»Den Architekten?« Er kniff seine sowieso schon kleinen Augen noch mehr zusammen. »Ich habe Roudeau selbst einmal kennengelernt, wussten Sie das?«, sagte er mit stolzgeschwellter Brust.
»Das gibt’s ja nicht.« Delphines gespielte Bewunderung war derart übertrieben, dass Lipaire sicher war, der Kommissar würde es durchschauen.
»Nun, meine Liebe, ich würde nicht so weit gehen zu behaupten, wir seien Freunde gewesen, aber wir schätzten uns gegenseitig sehr. Als ich Anfang 2000 hierherkam …«
… war Roudeau schon ein Jahr tot , vollendete Lipaire commissaire Marcels Satz in Gedanken. Die Lebensdaten des Architekten hatte er in der letzten halben Stunde so oft gelesen, dass er sie parat hatte. Deswegen hörte er den selbstgefälligen Ausführungen des Polizisten gar nicht mehr zu. Erst als dieser die zahlreichen Geliebten erwähnte, die der Stadtplaner und Lebemann offenbar gehabt hatte, wurde er wieder aufmerksam. Das war ein Thema, das ihn interessierte. »Aber er war doch verheiratet, oder?«, fragte er nach.
»Sicher, sicher, das war er. Aber er betrachtete sich als Geschenk an die gesamte Damenwelt, da wollte er sich eben nicht beschränken.«
Genau wie du, dachte Lipaire. »Sehr interessant, vielen Dank, Monsieur le Commissaire «, versuchte er, dessen Vortrag zu beenden. Der nötigte ihnen aber noch ein Buch auf, das die besten Restaurants in Port Grimaud zum Thema hatte und von seinem Schwager verfasst worden war. Als ob Lipaire die nicht selbst kannte. Dennoch wollte er dem Polizisten diese Empfehlung lieber nicht ausschlagen, und so zählte er dem grinsenden Verkäufer das Geld in die Hand.
Als sie den Laden verlassen hatten, setzten sie sich jeder auf einen der Poller, die die Autos an der Fahrt über den Marktplatz hinderten. »Das war wohl nichts«, seufzte Guillaume. »Willst du das Buch?«
Delphine winkte ab. »Sehe ich so aus, als könnte ich mir ständig Essen im Restaurant leisten?«
Er beantwortete ihre Frage nicht. Stattdessen dachte er laut nach. »Hier in Port Grimaud werden wir nichts finden. Aber es muss doch was über Roudeau geben. Der war ja nicht irgendwer, sondern eine Legende unter den Architekten. Und immerhin mit commissaire Marcel befreundet, wie wir jetzt wissen.«
Sie lachten.
»Wir bräuchten etwas, wo es richtige Fachliteratur über Architektur gibt. Vielleicht in einer Universität? Nur, wie Studenten sehen wir beide ja nun wirklich nicht aus.«
Delphine grinste, dann schnalzte sie mit der Zunge. »Ich hätte da so eine Idee …«