»Karim, wir müssen reden.«
Lipaire hatte bereits auf den Jungen gewartet, als der sein Schiff am Kai neben dem Fringale festmachte, sein Pausenschild daran befestigte und an Land sprang. Für das nun folgende Gespräch hatte sich der Deutsche extra seinen alten Panamahut und eine Sonnenbrille aufgesetzt, um mehr Autorität auszustrahlen. Er fühlte sich ein bisschen wie der Pate aus dem Film.
»Salut , Guillaume. Eigentlich wollte ich noch mal kurz zu Jacqueline, ich hatte vorher keine Gelegenheit, mich zu verabschieden …«
»Ach was, wir sehen sie ja heute Abend. Und darüber wollte ich sowieso mit dir reden. Unter anderem.«
Karim zuckte mit den Schultern. »Okay, sollen wir dann schnell einen Kaffee zusammen trinken?«
Lipaire schüttelte langsam den Kopf und bedeutete Karim, ihm zu folgen. Sie überquerten die Brücke in Richtung der Rue de L’Octogone und bogen dahinter rechts auf die kurze Treppe ab, die zum Kanal hinabführte. Hier gab es unter dem Brückenbogen, direkt am Kai, eine schattige Bank, die kaum jemand kannte, die Lipaire jedoch schon das eine oder andere Mal genutzt hatte, um eine Zigarre zu rauchen und über sein Leben nachzudenken, Geschäftspartner zu treffen – oder sich ungestört mit neuen Liebschaften unterhalten zu können.
Karim kratzte sich am Kopf, lächelte sein Gegenüber unsicher an und nahm schließlich auf der hölzernen Bank Platz. Lipaire setzte sich ebenfalls, ohne jedoch Hut und Sonnenbrille abzunehmen. Der Junge sah ihn mit hochgezogenen Brauen an.
»Wie gesagt, es gibt eine Sache, die besprochen werden muss, Karim.«
»Was wird das eigentlich hier? Spielst du jetzt den Paten, oder wie?«, fragte Karim mit unsicherem Lachen.
»Nein, nach Spielen ist mir nicht zumute. Ganz im Gegenteil sogar.«
»Sagst du mir jetzt endlich, was los ist?«
Guillaume zog eine Metallhülse aus seiner Hosentasche, holte die darin befindliche Zigarre heraus und zündete sie sich mit dem Feuerzeug in aller Ruhe an. Der Junge sollte ruhig noch ein wenig zappeln. »Ich dachte, ich hätte dir wenigstens die wichtigsten Prinzipien für ein erfolgreiches und sorgenfreies Leben beigebracht«, begann er schließlich bedeutungsschwer und ließ den Rauch aufsteigen. Er versuchte, ein paar Kringel in die Luft zu blasen, doch das misslang ihm, also fuhr er schnell fort: »Dazu gehört, neben Pünktlichkeit, Disziplin, nicht zuletzt, sondern sogar allen voran … «
»… nicht schlampig in den Details zu werden«, vollendete Karim gelangweilt den Satz.
»Das … auch, aber ich meine die Diskretion. Gerade in dem Gewerbe, in dem wir uns hin und wieder bewegen, ist sie sogar unerlässlich. Verstehst du das?«
Karim nickte. »Ist ja auch mein Gewerbe.«
»Gut. Ohne Diskretion können wir nie sicher sein, dass wir nicht auffliegen, bei unseren Extratouren. Wenn wir nicht sicher sein können, können wir nicht mehr ruhig schlafen, das wiederum macht uns fahrig und nervös. Und was passiert dann?«
Karim schien angestrengt nachzudenken. »Dann bauen wir Unfälle mit dem Boot?«
Lipaire atmete tief durch. »Wir begehen Fehler. D’accord? «
»Oui« , gab Karim kleinlaut zurück.
Lipaire sah, wie ihm allmählich dämmerte, worum es im weiteren Gespräch gehen würde. »Schön. Findest du also, du hast dich durch Diskretion und Verschwiegenheit ausgezeichnet, in letzter Zeit?«
»Na ja, ich hab doch ziemlich …«
»Ja?« Guillaume merkte, dass der Junge sich herausreden wollte. Aber das hier war ernst.
»Nein, finde ich nicht.«
»Und deswegen wird von der Million nur ein Bruchteil für uns übrig bleiben. Weil wir immer mehr werden.«
»Das mit der Million weißt du doch gar nicht.«
»Umso schlimmer, falls es sogar noch weniger ist.«
»Stimmt auch, irgendwie«, gab Karim zu.
»Siehst du.«
»Klar. Tut mir auch leid. Aber du hast doch selber gemerkt, dass sich Paul nicht hat abweisen lassen. Und Delphine hat eben ihre eigenen Schlüsse gezogen. Das ist ja nicht meine Schuld, oder?«
»Aha. Und was ist mit der Kleinen?«
»Jacqueline?« Karim lief rot an.
»Exactement.«
»Es war einfach … ich wollte ja gar nicht …«
»Du wolltest sie beeindrucken und hast deshalb vor ihr angegeben.«
Der Junge senkte den Kopf.
»Wenn du ein Mädchen beeindrucken willst, dann sei charmant, gib ihr das Gefühl, etwas Besonderes zu sein, etwas, was die Welt noch nicht gesehen hat. Hast du nie aufgepasst, wenn ich mit einer Frau rede?«
»Doch, schon. Aber, ehrlich gesagt, das wirkt schon manchmal ein bisschen übertrieben, und ich glaube auch nicht, dass moderne Frauen da so drauf …«
Lipaire winkte ab. »Jedenfalls sollst du nicht angeben, hörst du? Das hat noch nie jemanden weitergebracht, sondern macht nur Scherereien.«
»Immerhin hat Jacky verdammt viel über die Vicomtes gewusst, über die Geschichte der Gegend und über unser Städtchen hier.«
Natürlich hatte sie das. Und auch Delphines Fähigkeiten konnten ihnen nützlich sein, vielleicht sogar Paul Quenots schiere Muskelkraft. Aber hier ging es ums Prinzip. Und möglicherweise um ein paar Hunderttausend Euro.
»Ja, das war blöd«, begann der Junge nach einer längeren Pause. »Wollen wir dann einfach wieder zu zweit weitermachen?«
»Wie stellst du dir das vor? Die anderen wissen doch über alles Bescheid und werden sich kaum mit ein paar netten Abschiedsworten abspeisen lassen. Nein, jetzt müssen wir es so durchziehen, wie es nun mal ist. Aber wir brauchen nicht noch mehr Mitwisser. Ist das klar?«
»Klar.«
»Und du hast was gelernt?«
»Logisch, hab ich, Guillaume.«
»Was?«
»Na … ich meine«, Karims Miene hellte sich auf, »dass Jacky weiter dabei sein kann?«
Lipaire stieß entnervt den Rauch seiner Zigarre aus.
»Ab jetzt erfährt niemand mehr was von mir. Versprochen.«
Guillaume klopfte ihm auf die Schulter und stand auf. »Bist ein guter Junge. Aber du musst eben auch noch viel lernen. Sei froh, dass du einen weisen Freund wie mich an deiner Seite hast.«