Etwa fünf Stunden, nachdem sie losgefahren war, befand sich Jacqueline Venturino wieder auf dem Rückweg von der Universitätsbibliothek in Cannes. Natürlich hatte sie letztlich in Karims Bitte eingewilligt – aber nicht, weil sie ihm oder den anderen einen Gefallen tun wollte. Nein, sie arbeitete auf eigene Rechnung.
»Putain!« , schimpfte sie, als sie in Sainte-Maxime auf die Uferpromenade abbiegen wollte. Einer dieser idiotischen deutschen Wohnmobilfahrer wollte sie partout nicht einfädeln lassen. Dabei würde sie mit ihrem Motorroller sowieso gleich an der täglichen Feierabend-Blechlawine zwischen hier und Saint-Tropez vorbeiziehen. Wer einigermaßen Hirn hatte, war auf zwei Rädern unterwegs – oder gleich auf dem Wasser. Jacqueline war stolz auf ihren fahrbaren Untersatz. Sie hatte ihn sich von ihren Einkünften gekauft. Den Einkünften aus ihrem Drogenverkauf. Ihr offizieller Job in der Eisdiele hatte ihr immerhin den Erwerb eines Helms und eines praktischen Topcases ermöglicht, in dem sie ihre Studienunterlagen, ihre Grasvorräte und allerlei Krimskrams verstaute. Und heute eben die Ergebnisse ihrer Recherche in dieser besonderen Sache. Dabei war sie auf einige überraschende Details gestoßen, die die anderen bestimmt sehr interessant finden würden.
Als sie sich zwischen einen Lkw und ein monströses SUV mit aufgeklebten Totenköpfen und der Aufschrift »Roberto Geissini« gequetscht hatte, scherte sie sofort nach links auf die Gegenfahrbahn der Küstenstraße aus und setzte zum Überholmanöver an, natürlich nicht, ohne den gestreckten Mittelfinger für den Wohnmobilfahrer zu vergessen. Sie hatte es eilig, um halb acht traf sich die Gruppe auf Karims Boot – und alle warteten sicher sehnsüchtig auf ihre Ergebnisse.
»Ich hab zusammen mit den Kindern Sandwiches vorbereitet. Wer mag was? Ich hätte im Angebot: Schinken-Käse, Artischocke-Thunfisch-Ei, Ziegenkäse-Feige und gegrilltes Gemüse. Und jeder kann sich eine Packung Saft nehmen, die Kinder bringen den immer aus der Schule mit. Gibt es da umsonst, mehr oder weniger …« Delphine stellte ihren Plastikkorb auf eine der Sitzbänke des Wassertaxis und griff sich selbst das größte der belegten Brote.
»Sehr schön, danke, Delphine! Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen«, tönte Guillaume Lipaire überschwänglich und zog sich ebenfalls eines der Sandwiches heraus. Jacqueline hingegen winkte ab. Sie brannte darauf, den anderen mitzuteilen, was sie alles in Erfahrung gebracht hatte. Die aßen schweigend, während Karim das Boot ein Stück in den Golf hinauslenkte, wo sie sich in Ruhe besprechen wollten. Wie eine Galionsfigur stand Paul Quenot in Tarnklamotten vorn am Bug und hielt mit einem Fernglas Ausschau. Wonach, das wusste Jacqueline nicht. Zwar hatte sich Lipaire geziert, den Belgier mitzunehmen, aber sie hatte sich für ihn starkgemacht, worauf sofort auch Karim für ihn Partei ergriffen hatte. Keiner wird zurückgelassen , das war schon als Kind Jacquelines Devise gewesen, und sie war während ihrer nunmehr zweiundzwanzig Lebensjahre immer gut damit gefahren.
»Luft ist rein. Motor kann gedrosselt werden«, schnarrte der Belgier, und Karim verlangsamte die Fahrt. Dann setzten sie sich im Halbkreis auf die Bänke um Jacqueline mit ihrem Tablet, den handschriftlichen Unterlagen, einigen Büchern und den Kopien.
»Magst du immer noch nichts essen, Jacky?«, fragte Delphine in besorgtem Ton.
Sie ist schon jetzt so etwas wie die Mutter der Kompanie, dachte Jacqueline und lächelte. »Danke. Später vielleicht. Also, fangen wir mal an. Ich hab den halben Nachmittag lang exzerpiert«, begann sie.
Karim warf ihr einen erschrockenen Blick zu. »Oh nein, hast du was Schlechtes gegessen?«
Lipaire stieß dem Jungen lachend den Ellenbogen in die Seite, worauf der rot anlief und stotterte: »Kleiner … Scherz.«
»Dann lass mal deine Ergebnisse hören, Madame la Professeure !«, bat der Deutsche schließlich, und Jacqueline begann zu erzählen. »Also, was ja allgemein bekannt sein dürfte, ist, dass Gilbert Roudeau nicht von hier, sondern aus Lothringen stammt. Er wurde 1912 in Metz geboren und hat in den Vierzigerjahren sein Architekturdiplom an der Uni in Marseille abgelegt. Übrigens war er mit dem Vichy-Regime ziemlich über Kreuz, auch wenn er anscheinend nicht aktiv in der Résistance gekämpft hat. Nach dem Krieg hat er sich für Großprojekte interessiert. Bei einigen nennenswerten Hochhausprojekten in Paris, Lyon und … Moment … genau, Marseille. Bis Mitte der Fünfzigerjahre war er öfters mit von der Partie, wenn auch nicht in der vordersten Reihe. Dann endlich, Ende der Fünfziger, bekam er seinen ersten eigenen Prestigebau: ein zylinderförmiges Hochhaus in seiner Geburtsstadt. So ein Hotelturm für eine der großen Ketten. Der fand zu seiner Zeit ziemliche Beachtung. Er hing damals einem modernen Urbanismus an: schlichte Formen, Betonbauten im vertikalen Raum, alles ganz schnörkellos.«
»Quadratisch, praktisch, gut, also?«, warf Lipaire ein. »Kann man sich gar nicht vorstellen, wenn man sich sein späteres Werk so ansieht.« Kopfschüttelnd wies er hinter sich auf die liebliche Silhouette von Port Grimaud.
Die anderen nickten und sahen fragend zu Jacqueline.
»Ja, Moment, das, wovon ich gerade gesprochen hab, waren ja nur seine architektonischen Kinderschuhe.« Sie war ein klein wenig stolz auf diese Formulierung. »Das alles endete für ihn leider nicht besonders glorreich: Er musste nämlich Anfang der Sechzigerjahre ins Gefängnis.«
»Ach, sieh mal einer an!«, versetzte Delphine und schluckte den letzten Bissen ihres Sandwiches hinunter. »Hatte der Herr Architekt Dreck am Stecken?«
Jacqueline schüttelte den Kopf. »So kann man das nicht sagen.«
»Was hat er denn verbrochen? Drogen verscherbelt?« Lipaire warf Quenot einen finsteren Blick zu.
»Nicht im Geringsten. Nach heutigem Stand war er nämlich völlig unschuldig in Haft. Es handelte sich bei der Streitigkeit um eine berufliche Frage. Bei einem der Folgeprojekte des Turms in Metz wurde er als Planer für den Einsturz eines Gebäudeteils verantwortlich gemacht, bei dem mehrere Arbeiter zu Tode kamen. Er hat aber aus dem Gefängnis heraus das Urteil bis in die letzte Instanz angefochten und wurde freigesprochen. Die verlorene Zeit in Haft konnte ihm natürlich niemand mehr zurückgeben.«
»Na ja, das sollte für unsere Sache eigentlich nicht von Bedeutung sein«, fand Lipaire, doch Jacqueline hob ihren rechten Zeigefinger und sagte: »Moment, nicht so voreilig.«
»Das stimmt«, mischte sich Paul Quenot ein. »Gefangenschaft macht immer was mit Leuten. Wenn ich da an meine Zeit in Guyana denke – ich kam als ein anderer Mann wieder aus den Kerkern der Hölle zurück.«
»Du warst in Guyana in Gefangenschaft? Warum das denn?«, fragte Jacqueline.
»Ein paar Tage Arrest, weil er Orchideen auf seiner Stube gezüchtet hat«, beantwortete Lipaire die Frage für ihn.
Nachdem sich das Gelächter gelegt hatte, kehrte Jacqueline wieder zu ihren Rechercheergebnissen zurück. »Also, ich wollte euch ja noch erklären, dass Roudeaus Gefängnisaufenthalt aus zwei Gründen für uns interessant ist. Erstens: Ratet mal, wer damals Bauherr des Großprojektes war?«
Die anderen zuckten mit den Achseln.
»Ich sag’s euch einfach: Maxime Vicomte. Der Vater vom jetzigen Familienoberhaupt Chevalier Vicomte.«
Karim pfiff durch die Zähne, und Lipaire raunte: »Hochinteressant.«
»Aber das ist noch nicht alles. Schaut euch mal das hier an!«
Mit diesen Worten stellte sie ihr Tablet in die Mitte, sodass alle auf den Bildschirm sehen konnten, und ließ den Film laufen, auf den sie in den Tiefen des Internets gestoßen war: ein ARTE-TV-Interview von 1998 mit Gilbert Roudeau, Architecte et Marin , also Architekt und Seemann, wie es in der Untertitelung hieß, auf einem Boot in den Kanälen von Port Grimaud. Auch wenn Jacqueline den Inhalt bereits kannte, blickte sie ebenso gebannt wie die anderen auf den kleinen Computer.
Zunächst ging es im Gespräch um Roudeaus Vision eines Dorfes im Wasser, in dem jeder leben konnte wie ein Segler oder Fischer, mit eigenem Bootssteg vor dem Häuschen. Kein Haus sollte dem anderen gleichen, alle im Stil eines südfranzösischen Dorfes erbaut, aber angelegt wie Venedig oder die Insel Murano. Dann sprach er von der architecture douce , einer lieblichen, weichen Architektur, angelehnt an die Dörfer der Umgebung, nicht in die Vertikale gebaut, sondern mit klar horizontaler Ausrichtung, als Abkehr von der modernistischen Betonarchitektur. Schließlich wollte der Journalist wissen, wie es zur Gründung von Port Grimaud kam, und Jacqueline war gespannt, wie die anderen reagieren würden. Das war die Stelle, um die es ihr vor allem ging.
Roudeau, gekleidet in ein weit aufgeknöpftes Fischerhemd, so wie Pablo Picasso auf vielen der Fotos, die man von ihm kannte, antwortete mit seiner Respekt einflößenden, tiefen Stimme: »Ich verdanke die Inspiration dem wohl dunkelsten Moment in meinem Leben. Ich saß im Gefängnis – wegen einer schlimmen Sache, die ich aber nicht zu verantworten hatte. Noch nie in meinem Leben hatte ich solche Enge in mir gefühlt wie in dieser Gefangenschaft, solch einen Drang nach der Weite des Meeres, der Freiheit des Südens. Und so griff ich zum letzten Bleistiftstummel und malte meine erste maison de pêcheur an die Wand, inklusive Grundriss, Terrasse und Anlegeplatz. Ein Fischerhaus, wie es hier später so viele geben sollte. Mein Zellengenosse fragte mich, was das sei, und ich erklärte ihm: Wenn ich wieder in Freiheit wäre, dann wäre das meine Bestimmung, für die ich arbeiten, mehr noch, für die ich leben würde, bis zum letzten Atemzug. Und was tat er? Statt mich zu verlachen, bekräftigte er mich darin, ja, er gab mir etwas, das den Stein erst richtig ins Rollen brachte. Ich werde es ihm nie vergessen. Leider starb er bald nach unserer gemeinsamen Zeit. Er hat sich in einem anderen Gefängnis das Leben genommen. Ich konnte mich viel später dadurch ein wenig revanchieren, dass ich seinen Traum einer Sozialsiedlung verwirklicht habe, die ich auf einer Anhöhe mit Blick auf Port Grimaud in Gassin gebaut habe. Von dort oben hat er mein Lebenswerk immer vor Augen.«
Nun fragte der Interviewer nach, was denn die Sache gewesen sei, die ihm der Fremde gegeben habe. Jacqueline ließ Roudeaus Gesicht keinen Moment aus den Augen, als er antwortete: »Wie meinen Sie das? Es … ist … keine Sache. Es handelte sich um Ideelles: Mut, Unterstützung, Inspiration. Und einige ziemlich gute Tipps.«
Jacqueline stoppte die Wiedergabe.
»Habt ihr das bemerkt? Wie er hier stockt und fast ins Stottern gerät? Der weltläufige, souveräne Architekt? Auf einmal ist er richtig unsicher. Und dieses Flackern in seinen Augen: als habe er sich ertappt gefühlt.«
Die anderen sahen sie erstaunt an.
»Na ja«, erklärte sie, »wir haben ein Seminar, da analysieren wir die Mimik von Politikern, Showstars und so, um sie selber in Rollen besser und authentischer darstellen zu können, versteht ihr? Ich finde das interessant. So haben wir gelernt zu spielen, dass wir etwas zu verbergen haben. Roudeau wurde hier bei etwas ertappt, das sag ich euch.«
Lipaire, Quenot und Delphine warfen sich skeptische Blicke zu, während Karim sie versonnen ansah.
Jacqueline war enttäuscht von ihrer Reaktion. Sahen sie denn nicht, was sie sah? Es war doch offensichtlich. »Na, egal, machen wir weiter. Was ich sonst noch habe, würde jetzt höchstens noch in die Ecke Klatsch und Tratsch passen, das ist vielleicht gar nicht mehr so wichtig. Und auch ein bisschen abgeschmackt«, sagte sie und steckte ihr Tablet zurück in die Tasche.
»Wer weiß, lass doch mal hören, Jacky«, bat Karim jedoch. »Du erzählst so toll.« Als ihn alle verwundert ansahen, räusperte er sich und fügte nüchtern hinzu: »Man merkt, dass du dich gut in die Materie eingearbeitet hast.«
Sie zuckte mit den Achseln. »Ach, keine Ahnung. Er war wohl ziemlich interessiert an Frauen. Vielen Frauen, wenn ihr versteht, was ich meine.«
»Dasselbe hat uns schon commissaire Marcel erzählt, stimmt’s, Guillaume?«, gab Delphine zu bedenken.
»Ja, anscheinend war er ein Playboy der ganz alten Schule. Wie man ihn sich hier in der Gegend so vorstellt«, sagte Lipaire mit einem begeisterten Lächeln auf den Lippen.
»Ich würde eher sagen, was das angeht, war er ein Scheusal«, widersprach Jacqueline. »Er hatte anscheinend mehrere Affären gleichzeitig im Ort, obwohl er verheiratet war. Wenn ihr mich fragt, waren Frauen für den die reinsten Lustobjekte.«
»Meint ihr, es wäre interessant, sich mal mit einer von Roudeaus Geliebten zu unterhalten?«, fragte Karim in die Runde.
Jacqueline war skeptisch. »Schon, aber die wird man wohl kaum googeln können, oder?«
»Das vielleicht nicht. Aber zufälligerweise kenne ich eine von denen. Und ihr übrigens auch.«