Die Mitglieder der Familie Vicomte saßen in verschiedenen Ecken des weitläufigen Wohnzimmers, und Marie hing ihren Gedanken nach, als Henri plötzlich hereinstürzte und keuchend vor dem Tisch stehen blieb.
»Was ist denn mit dem los?«, fragte Yves, als sei sein Onkel gar nicht da.
Marie spürte, wie ihr kalt wurde. Was immer es auch war, Henris Verhalten verhieß nichts Gutes.
Der atmete tief durch, hob dann seine Hand, in der er ein Blatt Papier hielt, und sagte leise: »Das muss unter der Tür durchgeschoben worden sein.«
»Was ist es denn?«, fragte Isabelle.
»Eine deiner unbezahlten Rechnungen?«, ätzte Yves.
Henri legte das Blatt auf den großen Esstisch vor Chevalier Vicomte.
Yves, Isabelle und Marie versammelten sich um den Patriarchen und beugten sich über das Schriftstück. Es handelte sich um ein Foto, eigentlich den Ausdruck eines Fotos, das sah man an den verwaschenen Farben. Das Bild zeigte einen Mann am Boden, die Augen geschlossen. Er lag seltsam verrenkt da, was den Eindruck erweckte, als sei er …
»Tot?«, fragte Marie. Die Tatsache, dass sie hier vermutlich eine Leiche anstarrte, ließ sie erschaudern. Henri nickte.
»Wer hat das denn gebracht?«, wollte Isabelle wissen.
»Wer?« Henri blickte sie verständnislos an. »Wer immer das war, ist in der Dunkelheit längst über alle Berge.«
»Klar! Weil du nicht gleich nachgeschaut hast«, maulte Yves.
»Immerhin hab ich das überhaupt erst entdeckt.«
»Calmez-vous! Hört auf zu streiten!« Chevaliers raue Stimme brachte die beiden zum Schweigen. Entgeistert schauten sie ihn an. »Das Papier«, flüsterte er. »Zeigt mir das Papier!«
»Natürlich.« Henri schob ihm das Foto noch näher hin. Da deutete Chevaliers knochiger Finger auf eine Stelle am Rand des Bildes. Henri riss die Augen auf. »Es stimmt! Seht ihr denn nicht? Der Fußboden!«
»Mon Dieu , das ist hier bei uns«, entfuhr es Marie. Das Mosaik, das von dem Mann nur halb verdeckt wurde, ließ keinen anderen Schluss zu.
»Barral?«
Marie nickte. »Ja, das könnte er sein. Nach den Fotos zu schließen, die wir vom Ehepaar Valmer bekommen haben. Seine Freundin hat sie ihnen mitgegeben.«
»Ich erinnere mich auch an seine Posts bei Insta. Da ist er zwar nicht oft drauf, aber … es gibt keinen Zweifel.« Isabelle hielt sich die Hand vor den Mund und ließ sich auf einen Stuhl fallen.
»Wir haben auch noch ein Briefchen bekommen«, sagte Henri, drehte das Blatt um und las vor. »Ich weiß über die ganze Sache Bescheid. Dachtet ihr, dass ihr damit durchkommt? Falsch. Dafür werdet ihr bezahlen. Macht euch auf etwas gefasst – und haltet euch zur Verfügung, konkrete Forderungen folgen.«
Marie griff sich das Papier und las den Text, der auf die Rückseite des Fotos gedruckt war, wieder und wieder. Kraftlos ließ sie das Blatt irgendwann sinken und setzte sich neben ihre Tochter.
»Wer weiß, vielleicht will der Typ uns alle killen, wie diesen Barral«, kreischte die hysterisch.
»Schwachsinn«, herrschte Yves sie an. »Er hat doch Forderungen, die er stellen will, das hast du doch gehört!«
Henri stimmte ihm zu. »Sieht so aus. Seine Forderungen kennen wir nicht, aber das mit dem Boden bedeutet …«
»Das bedeutet, Barral war irgendwann vor uns schon hier, und dann hat ihn jemand kaltgestellt. Ich meine: Er ist definitiv tot, oder, Onkel?«, fragte Yves.
Henri zog die Schultern hoch.
»Du musst es doch wissen.«
»Ich? Was soll das heißen?« Seine Miene verhärtete sich.
»Na, mit Leichen kennst du dich ja angeblich aus.«
»Ach so, ja. Es scheint so. Aber was für eine Botschaft an uns soll denn das sein? Warum hat man uns das Bild untergeschoben? Und was weiß er angeblich alles über uns?«
»Na, er denkt, wir haben ihn umgebracht, oder?«
Plötzlich meldete sich Chevalier wieder zu Wort: »Jetzt wird mir alles klar.«
Gebannt blickten sie ihn an. Nach einer Pause, die Marie ewig vorkam, erklärte er: »Deswegen ist er nicht gekommen. Weil er tot war.«
»Wirklich hilfreich, danke, papi «, erklärte Yves in süßlichem Tonfall, doch ein strenger Blick von Marie brachte ihn zum Schweigen.
»Yves liegt richtig, denke ich. Irgendjemand muss den toten Barral hier im Haus gesehen haben«, dachte Henri laut. »Nicht nur das: gefunden und fotografiert.«
»Und weggeschafft. Oder wo ist er jetzt?« Isabelle schien der Verzweiflung nahe. »Ich meine, wenn er nicht mehr hier ist. Aber hier war. Mein Kopf dreht sich.« Ihre Mutter nahm sie in den Arm.
»Die Leiche befindet sich vermutlich bei dem, der uns das Foto samt Erpresserschreiben gebracht hat«, sinnierte Henri weiter.
»Und was will er uns damit sagen?« Yves’ Stimme klang schrill, auch er schien langsam die Nerven zu verlieren.
Henri blickte einen nach dem anderen an. »Sagen? Haben will er etwas, das ist doch klar. Und ich vermute, es handelt sich bei den Forderungen, die er ankündigt, um das, was alle von uns wollen.« Er machte eine Pause, dann beendete er seinen Satz: »Geld. Genau genommen nichts Neues, dasselbe hat Barral ja auch vorgehabt.«
»Moment, Barral wollte uns etwas verkaufen«, präzisierte Marie. »Das ist was anderes.«
»Nun, wenn du auf diesem feinen Unterschied bestehst. Das ändert aber nichts an der aktuellen Lage.«
»Meint ihr, der Erpresser hat Barral auf dem Gewissen?«
»Du denkst, er hat ihn hier bei uns im Haus getötet, dann das Foto gemacht, um uns alles in die Schuhe zu schieben? Nicht unmöglich, aber das wäre schon ein ausgebuffter Coup«, erklärte Henri nachdenklich.
»Moment mal, Superbrain«, ging Yves dazwischen. »Und wenn wir seinen Forderungen einfach nicht nachgeben? Was kann er uns denn schon? Wir haben mit Barrals Tod ja nichts zu tun.«
Henri lächelte milde. »Und du meinst wirklich, dass die Polizei das auch so sieht? Ein Toter, in unserem Haus, per Foto dokumentiert … Dazu Mails und SMS, die belegen, dass wir mit ihm in Kontakt standen, dass es um große Summen Geld ging. Willst du es darauf ankommen lassen?«
Yves schwieg.
»Zunächst können wir ohnehin nur abwarten. Diese Warnung soll uns bis zu seiner nächsten Kontaktaufnahme erst einmal in Unruhe versetzen, vermute ich.«
»Damit hatte der Unbekannte ja zumindest schon Erfolg«, sagte Marie bitter.
»Das kann ja wohl nicht wahr sein«, wimmerte Isabelle. »Wir sind doch alle unschuldig.«
»Ist das so?« Henri ließ die Frage im Raum stehen.
Marie musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen. »Was willst du damit sagen?«
»Gar nichts. Übrigens: Wo ist eigentlich Clément? Schon komisch, dass er sich diesmal gar so lange absentiert. Ausgerechnet …«
Marie rang nach Luft. »Wenn du glaubst, du könntest meinem Sohn irgendetwas anhängen, musst du früher aufstehen!«
Plötzlich sprang Isabelle auf. »Das Streichholzheftchen. Das war also doch von Barral. Und jetzt sind meine Fingerabdrücke drauf.«
»Kein Problem, Cousinchen, ich besuch dich auch in deiner Zelle und bring dir eine Feile mit«, versetzte Yves sarkastisch.
»Connard!« Der jungen Frau schossen die Tränen in die Augen, und sie flüchtete sich wieder in die Arme ihrer Mutter.
Yves versuchte sich an einer neuen Theorie. »Und wenn dieser Barral seinen Tod nur fingiert hat? Um noch mehr rauszuholen, ohne dass er was hergeben muss? Die Valmers sollen seine Freundin noch mal richtig in die Mangel nehmen, vielleicht hängt die auch mit drin …«, brummte er und ballte die Fäuste.
Marie winkte ab. »Das würde sich für sie doch kaum lohnen. Die Summe, die Barral gefordert hat, ist sowieso schon horrend hoch. Und er wusste, wie dringlich es für uns ist. Damit hatte er Druckmittel genug.«
»Allerdings«, stimmte Henri ihr zu. »Mein Vorschlag: Lasst seine Freundin erst mal in Ruhe, und wir kümmern uns um diese Angelegenheit hier.« Er zeigte auf den Brief mit dem Foto des toten Barral. »Das hat jetzt Vorrang, alles Weitere muss warten.«
Sie dachten noch über den Vorschlag nach, als auf einmal wieder die Stimme Chevaliers erklang. »Macht es so.« Ratlos blickten sie sich an. War das nun eine ernst zu nehmende Anweisung eines Mannes, der aus dem bisher Gesagten ein Resümee zog? Oder eine zusammenhangslos hinausposaunte Nichtigkeit? Marie wusste es nicht, und sie sah den anderen an, dass es ihnen genauso ging. Doch so oder so erschien ihr die Vorgehensweise sinnvoll. Solange nicht klar war, mit wem sie es zu tun hatten, wäre es das Beste, erst einmal diese Frage zu klären. »Also, von wem könnte das Schreiben mit dem Foto sein?«, begann sie deshalb.
»Genau, wie sollen wir den Typen finden?«, fragte Yves.
»Vielleicht müssen wir das gar nicht«, antwortete Henri. Die fragenden Blicke seiner Familienmitglieder beantwortete er umgehend. »Wir können auch nach der Leiche suchen. Wenn wir die haben, haben wir auch den Erpresser.«