Karim gab so ruckartig Gas, dass seine Passagiere sich an ihren Sitzen festhalten mussten.
»Du hast es ja auf einmal sehr eilig«, stellte Lipaire fest.
»Je schneller wir die Infos bekommen, desto besser, oder?«
Das stimmte natürlich, aber Lipaire vermutete, dass seine Eile auch mit der Person zusammenhing, von der sie diese Auskünfte erhalten wollten.
Als sie angelegt hatten, versah Karim das Boot mit einem Zettel, auf den er den Hinweis Gleich zurück geschrieben hatte, dann überquerten sie im Gänsemarsch den Marktplatz, der um diese Zeit dicht bevölkert war. In der hinteren Ecke waren lautstark streitend die Boulespieler von der Vormittagsschicht zugange, was ihnen bereits eine erstaunliche Menge an Zuschauern beschert hatte. Vorneweg marschierte Quenot, gefolgt von Karim und Lipaire, und dahinter, in gemessenem Abstand, kam etwas steifbeinig Lizzy Schindler, die einen ziemlich widerspenstigen Louis an der Leine hinter sich herzog. Kurz darauf hatten sie die Eisdiele im Durchgang zum Marktplatz erreicht, an der um diese Zeit des Tages erwartungsgemäß ebenfalls die Hölle los war. Doch lange Schlangen stellten für Lipaire kein ernst zu nehmendes Problem dar: Schon als Kind hatte er auf dem Rummel eine Technik entwickelt, Wartende immer mehr an den Rand zu drängen, was auch hier in Frankreich ganz gut funktionierte, heute jedoch zu einigen empörten Reaktionen führte, die er geflissentlich ignorierte. Nachdem der Mann vor ihnen, der sich beim besten Willen nicht hatte überholen lassen, endlich die zwei riesigen Eisbecher für seine beiden Kinder bezahlt hatte, waren sie auch schon an der Reihe.
»Respekt, Lipaire, das nenn ich mal aktives Anstehen«, zischte ihm Lizzy beeindruckt zu.
Lipaire wandte sich an die Eisverkäuferin. »Jacqueline, darf ich dir Madame Schindler vorstellen?«, fragte er förmlich.
Die junge Frau lächelte sie aus ihrem sommersprossigen Gesicht an. »Bonjour, Madame. Ich bin Jacqueline Venturino.«
Lizzy hob die Hand zum Gruß, hielt aber mitten in der Bewegung inne. »Venturino?«
Diese Reaktion war Jacqueline offenbar gewohnt, denn sie antwortete gelangweilt: »Mein Vater ist der Bürgermeister, ja.«
»Ja, ich habe als résidente der ersten Stunde natürlich mitbekommen, dass der kleine Pierre Karriere gemacht hat.«
»Der kleine Pierre?«, wiederholte Jacqueline irritiert.
»Ach so, pardon , ich kannte Ihren Großvater gut.«
»Papi?«
Lizzy Schindler nickte. »Er nannte mich immer Sissi. Wegen meiner österreichischen Herkunft, wissen Sie?«, erklärte sie versonnen. Die Männer konnten sich nur zu gut vorstellen, wie diese Bekanntschaft ausgesehen hatte, und blickten peinlich berührt zu Boden.
»Hallo, könnten Sie sich mal entscheiden? Es gibt noch mehr Leute hier, die Eis wollen«, unterbrach eine Stimme mit unverkennbar bairischem Akzent von hinten das Kennenlernen.
Lipaire drehte sich um, zeigte auf Lizzy Schindler und flüsterte auf Deutsch: »Bitte gedulden Sie sich ein wenig, Madame Bardot ist gleich so weit.«
»Ach, das ist …« Mit großen Augen wandte sich der Tourist seiner Frau zu und flüsterte ihr etwas ins Ohr, worauf diese hektisch ihr Handy aus der Tasche zog, um unverhohlen Fotos von Lizzy Schindler zu schießen.
»Was kann ich für euch tun?«, wollte Jacqueline wissen. »Genauer gesagt: schon wieder?«
Lipaire machte einen weiteren Schritt auf die Eisverkäuferin zu und sagte leise: »Wir haben neue Informationen über Du-weißt-schon-wen.«
Sie lachte. »Ah. Der, dessen Name nicht genannt werden soll?«
Der Deutsche nickte.
»Also jetzt reicht es dann aber wirklich«, meldete sich wieder jemand in der Schlange hinter ihnen, diesmal eine Frauenstimme.
Jacqueline winkte dem Belgier. »Paul, kannst du schnell mal übernehmen?«
»Ich?« Quenot schien überrascht.
»Ja, du kommst doch so oft vorbei und kennst dich am besten aus.«
»Ist das so?«, platzte Karim überrascht heraus.
»Ja, wir sind …«, Jacqueline zwinkerte dem Belgier mit einem Auge zu, »… alte Freunde, stimmt’s?«
»Ihr seid …«
»Mensch, Karim, könnten wir die Freundschaftsverhältnisse nicht später klären?«, drängte Lipaire. »Wir haben im Moment Wichtigeres zu tun. Und wenn Jacqueline meint, dass die Schlägervisage ihrem Geschäft nicht schadet, wird das schon so sein.«
Karim verkniff sich einen weiteren Kommentar, dann kam die junge Frau aus der Eisdiele, die Tasche mit ihren Unterlagen über der Schulter. Sie stellten sich ein wenig abseits.
»Ah, du hast alles dabei, gut.« Lipaire nickte zufrieden. »Madame Schindler, wollen Sie erzählen, was Sie uns eben gesagt haben? Vielleicht … nicht in allen Details, Sie wissen schon.«
»Nennt mich bitte Lizzy«, sagte sie und sah dabei in die Runde. Dann steckte sie eine Zigarette auf ihre Spitze, zündete sie an, blies genüsslich den Rauch aus und brachte die junge Frau auf den neuesten Stand. Die zog währenddessen ihre Unterlagen aus der Tasche und blätterte darin herum. Als die alte Dame geendet hatte, nickte Jacqueline. »Auf die vielen Geliebten bin ich auch gestoßen, das hatte ich euch auf dem Boot schon gesagt. Und das mit den Rätseln … kommt mir auch bekannt vor. Aber ich dachte nicht, dass uns das irgendwie weiterbringt. Excusez-moi , Madame Lizzy, aber dass er seine … Geliebten mit irgendwelchen Spielchen gelockt hat, finde ich ein bisschen abgeschmackt. Eigentlich war ich immer ein Fan von Roudeau, aber dadurch hat er doch ein bisschen verloren bei mir.«
»Bei mir auch«, stimmte Karim ihr zu.
Lipaire war nicht überrascht. »Natürlich.«
»Jacky«, zischte es da von der Eisdiele her.
»Ja?« Jacqueline stand auf und ging zu Quenot.
»Da ist … also, da will einer die Sorte Greenleaf. Aber ich find die nicht. Was soll das sein? Citron ? Aspérule ? Oder grüner Tee?«
Die junge Frau grinste. »Das ist doch unsere Spezialmischung«, flüsterte sie.
Quenot schlug sich gegen die Stirn. »Ah, klar! Und wo … ich meine, wie viel …?«
»Excusez-moi , aber da muss ich mal schnell helfen.« Die Eisverkäuferin zwängte sich wieder hinter den Tresen, fingerte aus einer Schublade unter den Kühlaggregaten ein kleines Tütchen, ließ es heimlich in eine Eiswaffel gleiten, die sie oben mit einer Kugel Minzeis verschloss, und gab sie dem Kunden. Nachdem er bezahlt hatte, ließ sie Quenot wieder allein und gesellte sich zu den anderen. »Wo waren wir?«
»Bei den Rätseln«, antwortete Lipaire.
»Hier, deine Unterlagen.« Karim gab ihr die Bücher zurück. »Mit den Seiten, die du vorher aufgeschlagen hattest.«
Lipaire schüttelte den Kopf, beugte sich zu Karim und zischte: »Hast du nicht zugehört?«
»Wobei?«
»Neulich, bei meiner Lektion für dich.«
»Was hast du denn für Rätsel gefunden, Kindchen?«, fragte Lizzy.
»Also, es gab wohl immer mal wieder Leute, die versucht haben, Botschaften aus den Bauten von Roudeau herauszulesen. Ich meine nicht nur so allgemeine Aussagen und Intentionen der Architekten wie Die Natur muss als Lebensraum erhalten bleiben , wir müssen uns einander als Gemeinschaft wieder mehr bewusst werden oder so.«
»Das wollen uns Architekten mit ihren Häusern sagen?« Lizzy schüttelte ungläubig den Kopf. »Früher ging es darum zu zeigen, wer am meisten zu bieten hat.« Versonnen blies sie den Rauch in die milde Vormittagsluft.
»Kann schon sein, dass an anderen Orten der Côte d’Azur oder drüben am Villenhügel von Saint-Tropez solche Botschaften wichtiger waren. Jedenfalls haben ein paar Menschen den Verdacht geäußert, dass Roudeau künstlerisch noch viel mehr im Sinn hatte, als adrett aussehende Fischerhäuschen zu bauen. Sie meinten eben, die Bilder und Muster, die er hier in Port Grimaud benutzt hat, könnten eine versteckte Aussage beinhalten.«
Alle hörten ihr gespannt zu.
»Nehmen wir mal die Farben als Beispiel. Ihr wisst ja, dass die Häuserreihen hier bunt sind. Keine zwei gleichen stehen nebeneinander.« Sie zeigte auf die Gebäude ringsherum. »Da haben manche eben ein Muster rausgelesen. Oder aus dem Höhenprofil der Dächer. Keines von denen ist gleich hoch.«
Lipaire runzelte die Stirn. Natürlich gab es Höhenunterschiede, aber dass so peinlich genau darauf geachtet worden war, dass tatsächlich ein System hinter dieser Unordnung steckte, erstaunte ihn. Dieser Architekt war voller Überraschungen und Geheimnisse.
»Einige haben versucht, diese Unterschiede in Zahlen auszudrücken«, fuhr Jacqueline fort, »um so möglicherweise einen Code zu erhalten. Aber etwas Sinnvolles ist da nicht rausgekommen.«
»Wäre ja auch zu schön gewesen«, murmelte Lipaire. »Sonst noch irgendwelche Besonderheiten?«
»Eins noch. Port Grimaud ist ein Ort ohne Symmetrie.«
»Was?« Karim schaute sich nach allen Seiten um. »Sieht gar nicht so schief aus, auf den ersten Blick.«
»Asymmetrisch. Nicht schief«, verbesserte Jacqueline. »Das ist ein Unterschied.«
»Ja, sicher. Darf man nicht verwechseln.« Karim lief rot an.
Lipaire grinste in sich hinein.
»Was ich meine, ist: Roudeau hat peinlich genau darauf geachtet, dass die Fassaden nicht symmetrisch sind, also die Fenster untereinander oder die Anordnung der Türen. Solche Sachen. Nirgends sollte man eine Symmetrieachse ziehen können.«
»Warum?« Es interessierte Lipaire tatsächlich, weshalb man so viel Energie darauf verschwenden sollte, etwas gerade nicht geordnet erscheinen zu lassen.
»Also, wenn ihr mich fragt: Einerseits wollte er mit Port Grimaud einen Ort schaffen, der wirkt, als sei er wie ein echtes provenzalisches Dorf über Jahrhunderte gewachsen. Den Eindruck hätte man natürlich nicht, wenn alles wirken würde, als sei es auf dem Reißbrett geplant worden. Aber vielleicht hat er auch gespürt oder gewusst, wie Menschen echte Schönheit empfinden. Gesichter zum Beispiel, die symmetrisch sind, wirken auf die Menschen eher abstoßend. Asymmetrische dagegen werden oft als schöner empfunden.«
»Das stimmt«, murmelte Karim versonnen. Als er bemerkte, dass es alle gehört hatten, räusperte er sich. »Das hab ich auch schon mal … gelesen.«
»Wie auch immer: Keine Ahnung, ob uns das was hilft«, schloss die junge Frau, »aber es gibt hier keine symmetrischen Gebäude.«
»Bis auf eines.«
Alle blickten zu Lizzy Schindler, die sich auf eine Bank gesetzt hatte und ihren Pudel streichelte. Lipaire hatte gedacht, sie habe gar nicht mehr zugehört.
»Es gibt eines?«, fragte er. »Sicher?«
»Ja, natürlich.«
Sie schauten sich um, entdeckten aber nichts.
»Welches denn?«, fragte Jacqueline.
»Ich kann es euch zeigen.«
»Bitte.« Lipaire machte eine einladende Handbewegung, und Lizzy erhob sich.
»I’ll be back« , rief Jacqueline dem Belgier zu, und sie folgten der alten Frau und ihrem Hund durch einige Gassen und über mehrere Brücken. Das dauerte seine Zeit, denn sie lief nur mit langsamen Trippelschritten und blieb immer wieder stehen, wenn Louis irgendwo eine Spur erschnüffelte oder sein Revier mittels Beinheben markierte. Irgendwann verlor Lipaire die Geduld. »Ich will Sie keinesfalls drängen, und ein Spaziergang mit Ihnen ist wirklich ein großes Vergnügen, aber könnten wir die Sache nicht etwas beschleunigen? Ich habe heute noch …«
»Wir sind ja schon da«, sagte sie. »Von hier aus kann man es sehen.«
»Ja? Wo denn?«
Sie streckte einen Finger aus und zeigte auf ein Haus an der Spitze einer Landzunge, die ins Wasser ragte.
»Das?«, entfuhr es Guillaume. Karim und er warfen sich einen Blick zu.
»Ja, das«, bestätigte die alte Dame.
»Sicher?«
Jacqueline nickte. »Jetzt seh ich es auch. Das Haus ist tatsächlich symmetrisch.«
Karim stieß seinen Freund in die Seite und deutete auf eine Frau, die etwas abseits stand und das Haus ebenfalls betrachtete. »Das ist doch …«
»Delphine«, vollendete die Eisverkäuferin seinen Satz. »Was macht die denn hier?«
»Sie hat ein Auge auf das Haus.«
»Sie … aber woher wusste sie denn davon?«
»Wir kennen es. Und wir kennen die Besitzer«, brummte Lipaire.
»Jetzt spannt uns nicht auf die Folter. Wem gehört es?«, drängte Jacqueline.
»Na, jetzt den Vicomtes, aber früher war es das Haus von Gilbert Roudeau!«