Der Feldherr

»Also, gehen wir den Plan, wie wir uns Zugang verschaffen, noch einmal durch.«

Lipaire sog scharf die Luft ein. Er hatte keine Lust, Quenots Ausführungen erneut lauschen zu müssen. Schlimm genug, dass sie wegen der militärischen Pedanterie, mit der der Belgier ihnen den Plan – Guillaumes Plan, um genau zu sein – immer wieder vorbetete, seit über zwei Stunden hier festsaßen. Inzwischen hatte sich die Luft in der engen gardien -Wohnung unerträglich aufgeheizt. Kein Wunder, es gab ja nur das winzige Fenster neben der Tür zum Lüften. Für Treffen dieser Größe war das Miniappartement einfach nicht ausgelegt. In der Kürze der Zeit hatte er aber nichts Besseres auftreiben können. Und damit gerechnet, dass die Nachmittagshitze sie alle zur Eile antreiben würde. Doch da hatte er die Rechnung ohne den Ex-Soldaten gemacht. Der stand vor dem mit Post-its übersäten Küchentisch und gefiel sich sichtlich in seiner Feldherrnrolle.

Guillaume musterte die Gesichter der anderen: Sie wirkten ebenso gelangweilt. Nur Karim schien es nichts auszumachen, sich in der klaustrophobischen Enge ganz nah an Jacqueline quetschen zu können. Die hingegen sah nicht ganz so glücklich aus und schielte immer wieder verstohlen auf die Uhrzeitanzeige ihres Handys. Warum fuhr sie Quenot nicht einfach in die Parade? Hatte sie Angst, ihre Cannabisquelle könne versiegen?

Delphine und Lizzy schienen ebenfalls wie auf Kohlen zu sitzen. Da der Küchentisch als Kommandozentrale herhalten musste, hatten sie auf seinem Hochbett Platz genommen, von wo aus sie nun mit baumelnden Beinen nach unten schauten. Was Lipaire obendrein störte, war, dass Pudel Louis wegen der Hitze wild hechelnd die Bettdecke vollsabberte.

Der Belgier schien das alles gar nicht wahrzunehmen. Wie ein General vor der entscheidenden Schlacht hielt er die abgebrochene Antenne von Lipaires Küchenradio als Zeigestab in der Hand und wies auf die Notizen auf dem Tisch. Guillaumes Notizen. Der hirnlose Muskelberg spielte sich auf, als habe er gerade die Idee zur Landung in der Normandie gehabt.

»Die Pflegerin schiebt den alten Vicomte Punkt neunzehnhundert auf das Segelboot«, erklärte Quenot im militärischsten Tonfall, zu dem seine hohe Stimme fähig war. Dabei zeigte er auf einen Klebezettel mit der Aufschrift heute Abend, 19h, Chevalier, Boot.

Lipaire seufzte demonstrativ. Er hatte wirklich neunzehnhundert gesagt.

»Genau zehn Minuten später tritt Karim in Aktion und löst das Tau der Jacht von der Anlegestelle«, fuhr Quenot ungerührt fort und zeigte mit der Antenne auf ein weiteres Post-it. »Zur gleichen Zeit starte ich mit dem kleinen Schlauchboot von Guil­laumes Kunden, die im Moment nicht vor Ort sind. Die von mir erzeugte Ablenkung nutzen die anderen, um das Haus zu entern.«

»Warum mach das eigentlich nicht ich?«, warf Karim ein. »Ich meine, wenn es sonst drum geht, mit einem Boot zu fahren, übernehme ich das doch auch immer.«

»Wir sind das doch jetzt schon öfter als nötig durchgegangen«, antwortete Lipaire, der diese Tortur endlich beenden wollte. »Du kennst dich am besten mit Seemannsknoten aus, also machst du das Boot los.« Er verschwieg, dass er lieber Karim mit ins Haus der Vicomtes nahm als den Ex-Soldaten mit seinen vielen Messern und sonstigen Waffen, bei denen man sich nie sicher sein konnte, ob er sie nicht doch irgendwann benutzen würde. »Außerdem kennst du das Haus.«

»Ich auch«, meldete sich plötzlich Lizzy Schindler.

»Pardon?«

»Ich war doch auch schon in dem Haus zu Gast.«

Ein paar Sekunden war es still, alle schauten die Frau überrascht an, die unablässig ihren Hund streichelte. Sie drückte den Pudel Delphine in die Hand und machte sich an den Abstieg vom Hochbett, wofür sie stolz jede Hilfe ablehnte. Delphine folgte ihr mit dem Vierbeiner.

Lipaire wartete geduldig, bis die beiden Frauen unten waren. »Sie waren zu Gast bei den Vicomtes, Madame?«

»Das habe ich nicht gesagt. Aber das Haus hat ja vor gut zwanzig Jahren noch Gilbert Roudeau gehört, wie wir alle wissen. Und bei dem war ich hin und wieder eingeladen.«

Lipaire warf erst Karim einen Blick zu, dann Jacqueline und Delphine. Vermutlich würde eine Nachfrage nur wieder eine von Lizzy Schindlers anzüglichen Geschichten zur Folge haben, also verzichteten sie darauf.

»Je mehr Ortskundige, desto besser«, warf Quenot ein. »Und Delphine ist wichtig, falls wir auf einen Laptop oder so was stoßen, den wir knacken müssen.«

»Und ich?«, fragte Jacqueline und wischte sich eine widerspenstige Strähne aus der Stirn. »Alle haben eine Aufgabe, aber ich …«

»Du bist die Allerwichtigste«, polterte Karim dazwischen, was eine peinliche Stille nach sich zog, die erst von Quenot unterbrochen wurde, der mit dem Zeigestab auf den Tisch klopfte. »Gut. Guillaume, du hast das mit der Pflegerin fest vereinbart, ja? Was, wenn Chevalier gar nicht auf das Boot will?«

Lipaire presste die Worte durch seine Zähne. »Auch wenn ich dir keinerlei Erklärungen schulde: Ich stehe schon länger in geschäftlichen Beziehungen zu Mademoiselle Bernadette. Und sie hat mir versichert, dass Chevalier, wenn er abends seine Medikamente bekommen hat, erst einmal ein bisschen weggetreten ist. Dieses Zeitfenster nutzt sie.« Lipaire wollte Quenot nun nicht mehr die Bühne überlassen. »Dann beginnt der wichtigste Teil der Aktion: Während die Vicomtes der Comtesse dabei zusehen, wie sie im Hafenbecken dümpelt, entern wir ihr Haus und suchen nach Hinweisen auf den Schatz. Damit rechnen sie nicht, und das nutzen wir aus!« Er reckte die Faust in die Höhe, und Karim entfuhr ein: »Ha!«

»Genau, Karim, ha! Dann sind nämlich wir am Drücker, die …«

»Moment, wer sind wir eigentlich?«, unterbrach ihn Delphine.

Lipaire war irritiert. »Ich verstehe nicht ganz. Wir sind Karim, dann natürlich meine Wenigkeit …«

»Das ist mir schon klar. Aber wir haben gar keinen Namen.« Sie blickte in fragende Gesichter. »Himmel, einen Namen für unsere Gruppe eben.«

Jacquelines Miene hellte sich auf. »Genau. In jedem vernünftigen Film hätten wir einen. Nennen wir uns doch: Die glorreichen Sechs. «

»Wir brauchen keinen …«

»Oder Die Unbestechlichen «, schlug Karim vor.

Lipaire war der Verzweiflung nahe. »Die Unverbesserlichen würde wohl besser passen«, presste er resigniert hervor.

»Ja, genau!« Jacqueline schien begeistert, ihre blauen Augen leuchteten. »Die Unverbesserlichen schlagen zu! Mann, das wär ein Titel fürs Kino …«

Fassungslos wurde Lipaire Zeuge, wie einer nach dem anderen die Worte erst murmelnd, dann immer enthusiastischer wiederholte. Irgendwann gab er seinen inneren Widerstand auf. Wenn es half, diesen Haufen unverbesserlicher Dilettanten auf ihr Ziel einzuschwören, sollte es ihm recht sein. »Also gut. Wir, Die Unverbesserlichen , entern das Haus des Architekten.« Auch wenn ihm der Satz ein bisschen peinlich war, verfehlte er seine Wirkung nicht. Er sah die Begeisterung in den Gesichtern seiner Mitstreiter. Jetzt fand Lipaire sogar Gefallen an seiner Rolle als Zeremonienmeister. Immerhin hatte er dadurch Quenot mit seinem langatmigen Strategiegeschwafel zum Schweigen gebracht. »Bon , wie gesagt, Paul hupt, wenn er bei der Jacht angekommen ist. Das ist unser Zeichen fürs Reingehen. Dann brauchen wir nur noch eins, wenn wir wieder rausmüssen, nicht, dass wir überrascht werden, wenn die Vicomtes plötzlich zurückkommen.«

Nun sah der Belgier offenbar seine Chance gekommen, wieder das Wort zu ergreifen. »Da hab ich mir schon was überlegt.« Er grinste. »Eine Überraschung.«

»Das ist kein Kindergeburtstag«, schnaubte Lipaire. »Wir müssen das Signal schon verstehen, sonst laufen wir denen in die Arme.«

»Ihr werdet es verstehen, das verspreche ich euch.«

Lipaire sagte nichts mehr. Auch wenn er einen persönlichen Groll gegen Quenot hegte, musste er zugeben, dass der – für seine Verhältnisse – bisher recht gewissenhaft gehandelt hatte. »Na dann: Die Unverbesserlichen machen sich ans Werk!«