Leinen los

»Donc , meine Kontakte bei der Polizei melden keine neuen Erkenntnisse zum Verbleib von Barral«, erklärte Henri Vicomte mit wichtigem Gesicht, als er mit seinem Laptop die Treppe herunterkam. Die Familie nahm nur mit einem müden Kopfnicken Notiz davon.

Marie erhob sich vom Fauteuil und ging am großen Sofa vorbei, auf dem ihre Tochter fläzte, wie immer mit ihrem Mobiltelefon in der Hand und ihren Airpods in den Ohren. Nur Yves hatte sich für eine Weile verabschiedet. Zunächst hatte er sie allen Ernstes gefragt, ob er sich ihren Porsche ausleihen dürfe, um eine kleine Spritztour zu machen. Doch den gab sie nicht mal ihrem Mann oder den Kindern, geschweige denn ihm. Man solle ihn kontaktieren, wenn es Neues gebe, er fahre dann eben so lange mit dem Beiboot nach Saint-Tropez, hatte er ihr mitgeteilt. Ein wenig beneidete Marie ihn um diesen Tapetenwechsel. Alles, die Stimmung in der Familie, das Haus, ja, die ganze Stadt, war geprägt von dieser furchtbaren Lethargie des tagelangen Wartens auf eine erneute Kontaktaufnahme. Jetzt musste endlich etwas geschehen, sonst würden sie ihre Zelte hier wieder abbrechen. Sie seufzte resigniert, nahm sich eines der Fläschchen Orangina aus dem Kühlschrank und trank es in einem Zug aus. Man musste den Tatsachen ins Auge blicken: Vielleicht war Barral ertrunken oder hatte einen Unfall gehabt, auf jeden Fall war er unauffindbar. Und mit ihm auch das Wissen um das Rätsel, nach dessen Lösung sie und ihre Familie schon so lange suchten.

»Wo ist denn mein Vater?«, fragte sie Bernadette, die, wie kurz zuvor ihr Bruder, aus dem ersten Stock kam und fahrig die oberen Knöpfe ihrer Bluse schloss.

»Er wollte noch ein wenig nach draußen, Madame«, erwiderte sie. »Ist das ein Problem?«

Marie schüttelte den Kopf. »Eigentlich nicht. Aber es dämmert schon, und die Mücken setzen ihm immer ziemlich zu.«

»Nicht, dass man wieder vergisst, ihn abends reinzuräumen«, feixte Henri.

»Hör auf, so zu reden!«, zischte Marie.

»Das war mein Fehler«, gab die Pflegerin zu. »Entschuldigen Sie noch einmal. Aber er wollte partout bis spät noch draußen sitzen. Dass er dann selbstständig auf die Jacht gefahren ist, hätte ich nicht für möglich gehalten, aber offenbar ist die Gangway für seinen Elektrorollstuhl kein Hindernis.«

»Wenn sich mein Vater etwas in den Kopf setzt, ist er davon nicht abzubringen. Aber vielleicht sollten wir die breite Gangway durch ein Brett ersetzen, über das er nicht mehr fahren kann, nicht dass er uns eines Tages ins Wasser fällt.«

Die Pflegerin verabschiedete sich, um sich mit einer Freundin auf einen Apéro zu treffen. Marie hatte keinen Grund gesehen, ihr den Wunsch abzuschlagen. Sie hatte sich sogar bereit erklärt, ihren Vater in etwa drei Stunden, gegen zehn, selbst zu Bett zu bringen.

Gerade, als sie sich mit einem Buch zurückziehen wollte, hörte sie durch die offene Terrassentür ein Gewirr von Stimmen, die aufgeregt durcheinanderredeten. Eine ungewöhnliche Geräuschkulisse für das ruhige, beschauliche Port Grimaud, noch dazu um diese Tageszeit. Neugierig trat Marie in den Garten und ging Richtung Wasser. Auf dem Kanal, der sich vor ihrem Haus zu dem großen Hafenbecken weitete, schien tatsächlich einiges los zu sein. Offenbar trieb dort herrenlos eine Jacht.

»Mon Dieu!« , schrie Marie so laut, dass sich ihre Stimme überschlug. Bei dem herrenlos herumdümpelnden Holzboot handelte es sich um die Comtesse , ihre eigene Jacht. Sie musste sich gelöst haben und war durch die Strömung abgetrieben worden. Und zwar mit … »Papa!« Sie konnte ihn nirgends im Garten sehen. Immer wieder rief sie: »Papa, Papa, Papa!« Es war ihr völlig egal, dass sie von den Schaulustigen sensationslüstern angeglotzt wurde. Ihr Rufen blieb unbeantwortet. Die Jacht entfernte sich immer weiter von ihrem Grundstück und damit vom rettenden Land. Und Yves war mit dem Beiboot längst weg.

Auf den ersten Blick konnte sie ihren Vater auf der Jacht nicht entdecken. Sie drehte sich um und lief zurück nach drinnen, um Henri und Isabelle zu holen. Irgendjemand musste ins Wasser, die Comtesse sichern und den alten Herrn retten – und zwar schleunigst. Nicht auszudenken, wenn er durch das Schaukeln mit seinem Rollstuhl ins Wasser kippen würde.

»Was ist denn los?«, wollte Henri wissen, als Marie ins Wohnzimmer stürmte.

»Was los ist? Papa ist los!«

Zusammen rannten sie wieder zum Steg und sahen hilflos dem Drama zu, das sich dort draußen auf dem Wasser abspielte. Henri schüttelte ungläubig den Kopf.

»Und papi ist da drauf? Wie schrecklich!« Isabelle klang, als würde sie gleich anfangen zu weinen.

»Wer hat denn das Boot vertäut?«, wollte Henri wissen.

»Yves natürlich, wer sonst«, raunte Marie ihrem Halbbruder zu. »Egal, Schuldzuweisungen bringen uns jetzt auch nicht weiter. Los, wir müssen etwas unternehmen!«

Henri zog die Schultern hoch. »Mist, das Dingi ist nicht da. Und wir können ja schlecht rüberschwimmen.«

Mit zusammengekniffenen Augen sah Marie ihn an. »Wieso denn nicht?«

»Wenn papi mit dem Rollstuhl über Bord geht, ertrinkt er doch!«, rief Isabelle mit schriller Stimme. »Ich spring rein und schwimm zu ihm.«

Marie schüttelte den Kopf und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Du allein kannst doch auf dem Boot gar nichts ausrichten, Kind.« Erzürnt sah sie ihren Halbbruder an. »Henri, das ist jetzt verdammt noch mal dein Job.«

»Ach ja? Weil ich der einzige Mann bin?«

»Zum Beispiel, ja.«

Henri lachte bitter auf. »Bist du verrückt? Erstens bin ich nicht mehr ganz nüchtern, zweitens kein Rettungsschwimmer und zugegeben nicht gerade der Fitteste. Wenn wir jetzt alle wie die Lemminge ins Wasser springen, ist Papa auch nicht geholfen. Nein, wir brauchen ein Boot.«

Noch bevor er den Satz zu Ende gesprochen hatte, hörten sie das Knattern eines Außenborders.

»Na also, da haben wir ja schon eins.« Henri deutete auf das Schlauchboot, das sich im Schneckentempo in ihr Blickfeld schob. Offensichtlich war es völlig untermotorisiert. Aber sie hatten keine Wahl.

»Wir müssen den Fahrer auf uns aufmerksam machen«, forderte Isabelle sie auf. Mit ihrer Mutter winkte und rief sie aus Leibeskräften, doch der Muskelprotz mit Tarnweste, der das Boot lenkte, schien sie nicht zu bemerken. Wahrscheinlich, weil der Motor zu laut war. Zudem standen auf den meisten Terrassen und Stegen inzwischen Schaulustige, die aufgeregt gestikulierten und lautstark durcheinanderredeten.

»Kannst du dich mal beteiligen, Henri?«, forderte Marie ihren Halbbruder auf.

»Soll ich jetzt auch noch das Winkemännchen geben?«

Die beiden Frauen funkelten ihn böse an.

»Na schön«, sagte er schulterzuckend, dann brüllte er: »He, Schlauchboot-Mann! Hierher!«

Tatsächlich wandte der Typ im Boot nun den Kopf, zog an der Pinne des Außenborders und drehte in ihre Richtung. »Meinen Sie mich?« Er besaß eine derartig helle Fistelstimme, dass Marie trotz der dramatischen Lage ein kurzer Lacher entfuhr.

»Schnell! Sie müssen uns helfen!«, rief Henri ihm zu.

Der Mann drehte den Motor hoch und steuerte auf sie zu.

»Nein, nicht hier, dort!«, schrie Marie und versuchte, ihm klarzumachen, dass sie ihn bei der Jacht brauchten. Doch er hielt stoisch Kurs und stoppte schließlich an ihrem Steg. »Worum geht es denn?«, wollte er wissen.

Marie schilderte ihm hektisch ihre Notlage. Der Fremde nickte verständnisvoll, dann erklärte er in zackig-militärischem Ton: »Werde mich um die Sache kümmern. Habe schon in der Straße von Hormus Ertrinkende aus einer sinkenden Fregatte gezogen. Verlassen Sie sich auf mich.« Dann gab er wieder Gas. »Ich nehme die Jacht mit dem Bootshaken in Schlepp«, piepste er über die Schulter. »Dann berge ich den Mann an Bord.«

Sie verfolgten ungeduldig, wie er zur Comtesse zuckelte und kurz davor mehrmals so laut hupte, dass die Schaulustigen wie auch die Vicomtes zusammenzuckten. Vielleicht irgendein Rettungssignal, mutmaßte Marie. Sie wischte sich die schweißnassen Hände an ihrem Rock ab und bemerkte, dass sie zitterte. Würde das alles gut gehen?


Guillaume Lipaire kauerte zusammen mit Jacqueline, Lizzy und ihrem Hund hinter ein paar Oleanderbüschen am Rande der kleinen Grünanlage, von der aus sie die Eingangstür zur Villa der Vicomtes gut im Blick hatten. Streng genommen handelte es sich um einen sandigen Platz, auf dem ein paar Bäumchen standen und auf dem die Hunde aus den umliegenden Häusern ihre Notdurft verrichten konnten. Louis schien das Versteck deshalb besonders gut zu gefallen, er hatte bereits sämtliche Ecken markiert.

»Wo bleibt sie denn?«, fragte Jacqueline und schaute zum dritten Mal innerhalb einer Minute auf ihre Armbanduhr. Sie meinte Delphine, die sie zum Kanalufer geschickt hatten, um die Lage zu sondieren und ihnen Bescheid zu geben, wenn es losgehen konnte. Lipaire linste aus dem Versteck – und sah im selben Moment die kleine Frau, die mit hochgezogenen Schultern und geducktem Kopf auf sie zurannte. »Sie sind jetzt alle draußen«, japste sie, als sie angekommen war.

Ein Blick auf seine Uhr verriet ihm, dass sie nur unwesentlich hinter dem Zeitplan lagen. Alles lief wie am Schnürchen. Nun mussten sie nur noch auf das Zeichen warten. Und das kam bereits nach ein paar Minuten in Form eines lauten Hupens. Sofort schlenderten sie betont unauffällig zur Haustür, blickten sich ein paar Mal um, dann steckte Guillaume den Schlüssel ins Schloss.

In dem Moment, als er die Tür aufdrückte, gesellte sich Karim wieder zu ihnen. Er war klatschnass. »Ich musste ins Wasser, sonst hätt ich die Comtesse nicht losgekriegt, ohne entdeckt zu werden«, beantwortete er den fragenden Blick seines Freundes.

»Gut, aber trockne dich drinnen ab. Wir wollen keine Spuren hinterlassen. Und passt ja alle auf, dass man euch vom Steg aus nicht sieht.« Dann öffnete Lipaire die Tür, und sie schlüpften hinein.

Im großen Salon eilte er sofort zum Fenster, schob die Vorhänge vorsichtig ein paar Millimeter zur Seite und spähte hinaus. Die Vicomtes standen aufgereiht wie die Hühner auf der Stange draußen und schauten gebannt aufs Wasser, auf dem ihr Segelschiff trieb. Daneben schipperte Quenot mit seinem Schlauchboot. Allerdings war der Alte noch immer nicht auf der Jacht zu sehen. Ob ihn die Pflegerin in die Kajüte gesperrt hatte? Letztlich egal, Hauptsache, die Ablenkung funktionierte. Und das tat sie offenbar. Denn nicht nur die Vicomtes hatten von der Sache Wind bekommen, auch aus den anderen Häusern tauchten immer mehr Menschen auf, als sie bemerkten, dass die Jacht führerlos auf dem Kanal trieb.

»Wo sollen wir eigentlich anfangen?«, wollte Delphine wissen.

Die Frage erwischte Guillaume auf dem falschen Fuß. Zwar hatte er bis hierhin alles geplant, wie sie nun aber weiter verfahren sollten, darüber hatte er sich noch keine Gedanken gemacht. Er war sich sicher gewesen, dass ihnen vor Ort schon etwas auf- oder einfallen würde.

»Ich hab vielleicht eine Idee«, meldete sich Jacqueline zu Wort.

Lipaire atmete erleichtert auf.

»Also, ich mach ja öfter Escape-Rooms.« Erwartungsvoll schaute sie die anderen an, doch die starrten nur fragend zurück. »Das sind Räume, aus denen man in einer bestimmten Zeit wieder rausmuss.«

»Du meinst ein Stundenhotel?«, fragte Delphine.

»Äh … nein!«

Mit einer auffordernden Handbewegung animierte Lipaire sie, weiter laut zu denken.

»Also, ich würde sagen, wir suchen vor allem nach Zwischenböden oder Hohlräumen, schauen auf die Unterseiten der Tischplatten, in Lampenschirme und so weiter. So würde man im Escape-Room auch vorgehen.«

Als sich keiner rührte, verkündete Lipaire: »Ihr habt sie gehört, an die Arbeit!«

Alle schwärmten aus und begannen geschäftig, nach etwas zu suchen, von dem sie weder wussten, ob es da war, noch, was es überhaupt sein sollte. Lipaire selbst kam gar nicht dazu, mitzumachen, denn er musste ständig hinter den anderen herräumen, um ihre Spuren zu beseitigen. Allein dass Karim überall im Haus nasse Fußabdrücke hinterließ, hielt ihn auf Trab. Und dann musste er seinen Komplizen auch immer wieder klarmachen, dass das, was sie ihm zeigten – das Preisschild einer gläsernen Karaffe etwa oder die auf einer Seite mit Tabakwerbung aufgeschlagene Illustrierte –, nicht das sein konnte, was sie finden wollten.


Auf dem Bootssteg sahen die Vicomtes atemlos dabei zu, wie der Camouflage-Typ versuchte, seinen lächerlichen Plastik-Bootshaken an der Comtesse festzumachen. Immer, wenn er abrutschte, wurde das vom Raunen der umstehenden Gaffer auf ihren Terrassen begleitet. Wie Marie diese neureichen crétins hasste!

»Der stellt sich total bescheuert an«, kommentierte Isabelle aufgeregt. »Ob wir jemand anders fragen sollen?«

Henri lachte bitter auf. »Siehst du irgendjemanden, der infrage käme, Schätzchen?«

»Henri hat leider recht«, musste Marie zugeben und strich ihrer Tochter sanft übers Haar. »Bestimmt wird alles gut.« Dass sie selbst erhebliche Zweifel daran hatte, behielt sie für sich.

Nun probierte der wenig begabte Retter, die beiden Boote mit einer Leine zu verbinden, doch immer, wenn sich ein wenig Spannung aufbaute, ging der Knoten auf. Einmal riss eine Öse am Schlauchboot aus, ein andermal löste sich ein Karabiner.

»Was für ein grässlicher Dilettant!«, zischte Marie genervt. »Das Einzige, was der jemals gerettet hat, ist wahrscheinlich eine Plastikente. Aus den Fluten seiner Badewanne.«

»Respekt, Schwesterherz«, erklärte Henri grinsend. »Ein richtig poetisches Bild.«

»Spar dir deine Komplimente für bessere Zeiten«, brummte sie zurück. »Ruf ihm lieber zu, dass er endlich an Bord gehen und nach Papa sehen soll.«

Doch die Distanz war zu groß, Henris Stimme drang längst nicht mehr zu dem Mann auf dem Boot durch. Sie waren zur Untätigkeit verdammt.


Auf dem Schlauchboot wusste Paul Quenot genau, was er zu tun hatte. Alles lief nach Plan. Jetzt musste er zum nächsten Schritt übergehen. Mehrmals hatte er den Haken angesetzt, an der Jacht geruckt, dann die Leine zum Einsatz gebracht und dafür gesorgt, dass sie sich jedes Mal wieder löste. Jetzt näherte er sich mit dem Schlauchboot erneut dem hölzernen Rumpf der Comtesse und versuchte, an Bord zu klettern, wobei er sich immer wieder absichtlich zurückgleiten ließ. Erst nach zahlreichen missglückten Versuchen setzte er zu einem gezielten Sprung Richtung Reling an, hielt sich mit beiden Händen daran fest, machte einen beherzten Klimmzug und schwang sich an Bord.

Aber wo um alles in der Welt war der Alte? Der Belgier sah sich um. An Deck keine Spur von ihm.

Eigentlich hätte der Mann hier oben sitzen sollen. Quenots Puls beschleunigte sich. Was, wenn sich der Rollstuhl durch das Rucken, das durch die missglückten Schleppmanöver verursacht worden war, bewegt hatte und der Senior ins Wasser gerutscht war? Hektisch stieg er die Treppe hinab, die unter Deck führte, doch auch dort war kein Mensch zu sehen.

»Merde!« , zischte er und ballte seine rechte Hand zur Faust. Er bemerkte, wie sein Blutdruck in die Höhe schoss. »Nicht schon wieder!« Er kletterte zurück nach oben und schüttelte den Kopf. Das konnte doch alles nicht wahr sein! Hatte er erneut einen Menschen auf dem Gewissen, obwohl er ihm gar nichts hatte tun wollen? Wahrscheinlich war er verflucht, weil er in seiner Zeit bei der Legion zu viele Männer ins Jenseits befördert hatte. Dabei wollte er doch einfach nur noch Gärtner sein und ein friedliches Leben führen.

»Kann man helfen?«, hörte er eine Stimme rufen. Zwei junge Männer in einem schnittigen Elektroboot schauten zu ihm herauf.

Er musste sich zusammenreißen, vielleicht war der Alte ja noch zu retten. »Könnt ihr tauchen und den Grund absuchen? Vielleicht ist einer über Bord gegangen.«

»Vielleicht? Wieso vielleicht?«

»Keine Zeit für Erklärungen.«

Die beiden nickten. »Hier? Rings um die Jacht?«

»Genau. Beeilt euch, es ist ein alter Mann im Rollstuhl!« Quenots Stimme klang nun selbst in seinen eigenen Ohren schrill. Die beiden Jungs hatten bereits ihre Shirts ausgezogen und sprangen ins Wasser. Und er würde die Sache von hier oben überwachen, schließlich war Wasser nicht unbedingt sein Element. Schon als Kind hatte er so ungern den Kopf untergetaucht, dass man ihn als Quietscheente verspottet hatte.

»Rien du tout« , konstatierte einer der Jungs nach ein paar Minuten. Er und sein Kumpel waren immer wieder abgetaucht, um kurz darauf kopfschüttelnd wieder an der Wasseroberfläche zu erscheinen. Auch Quenot konnte von hier oben nichts auf dem Grund des Kanals erkennen. Ob der elektrische Rollstuhl unter Wasser noch ein Stück weitergefahren war? Der Belgier presste die Lippen aufeinander und sah auf seine Survival-Uhr. Wenn der alte Herr tatsächlich in den Kanal gerollt war, war ihm nicht mehr zu helfen: Seit er an der Jacht angekommen war und wie verabredet gehupt hatte, waren schon über zwanzig Minuten vergangen.

»Unvorhersehbarer Kollateralschaden, das mit dem Alten«, zischte Paul sich selbst zu, dann bat er die beiden Helfer, vom Wasser aus seine Schleppleine am hinteren Messinghaken der Comtesse zu befestigen.

»Wir können die Jacht in Schlepp nehmen. Unser Motor hat viel mehr Leistung als dein Mini-Außenborder.«

Paul winkte ab. »Danke, aber es kommt nicht auf die Größe an. Auch nicht bei Booten. Ich habe im Tschad mehrere Wochen einen militärischen Hochseeschlepper gefahren. Der war auch untermotorisiert.«

»Im Tschad?«, hakte der Größere der beiden stirnrunzelnd nach, während er sich noch immer im Wasser befand.

»Genau. Nigerianisches Grenzgebiet. Richtung Mali. Im Herbst 2013 muss das gewesen sein.«

Der Große sah seinen Kumpel verwundert an. »Ich dachte immer, dass die drei Länder gar keinen Zugang zum Meer haben. Die liegen doch im Inneren Afrikas.«

Quenots Augen flackerten. Er leckte sich nervös die Lippen, dann sagte er schnell: »Ja, denken viele.«

Bevor der andere nachhaken konnte, fuhr Quenot fort: »Also, ich gehe zurück auf mein Zodiac. Und ihr könnt auf euer Boot und euch abtrocknen, nicht dass ihr euch noch erkältet. Gute gemeinsame Aktion, Männer. Danke, im Namen des Gefallenen.«


Im Wohnzimmer der Vicomtes wurde Guillaume Lipaire langsam unruhig. Sie hatten nicht ewig Zeit. Noch einmal würden sie nicht hier reinkommen, solange die Vicomtes in Port Grimaud waren. Jedenfalls nicht so leicht.

»Ach, schau mal an«, hörte er Lizzy rufen, die vor der Küchenzeile stand.

Sofort lief Lipaire zu ihr. »Was gefunden?«

»Gefunden ist zu viel gesagt. Aber die Arbeitsplatte hier …«

»Ja?«

»Die war damals viel breiter.«

»Damals?«

»Ja, ich weiß das so genau, weil …«

»Kann ich mir schon denken. Aber bitte, konzentrieren Sie sich auf unsere Mission, Madame Lizzy.«

Sie nickte, und Guillaume ging zurück in den Wohnbereich, wo Delphine sich gerade mit dem Schraubenzieher eines Multifunktionswerkzeugs an einer teuer aussehenden Stehleuchte zu schaffen machte. »Niemand darf merken, dass wir hier waren, das ist doch allen klar, oder?«, fragte er in die Runde, blickte dabei aber bewusst Delphine an.

»Oh«, antwortete die, »dann schraub ich die Kabel einfach wieder … also, das ist gleich erledigt.«

Verzweifelt raufte er sich die Haare. So würde das nichts werden, sie würden nichts finden, zu viele Spuren hinterlassen, auffliegen, zur Zielscheibe der Vicomtes werden … Fahrig eilte er zum Fenster. Durch den Spalt zwischen den Vorhängen sah er, dass die Segeljacht noch immer auf dem Kanal dümpelte, allerdings nun nicht mehr allein. Quenots Boot schwamm direkt daneben. Wenigstens lief alles nach Plan. Allerdings entdeckte er neben dem Schlauchboot zwei junge Männer im Wasser, die ab und zu untertauchten. Was, um Himmels willen, hatte der verrückte Belgier da nur wieder angerichtet? Eigentlich war das doch ganz anders besprochen gewesen. Klar, die Ablenkung war ihm gelungen, aber den Teil mit dem nicht mehr Aufsehen als nötig hatte er ganz offensichtlich ignoriert. Immerhin verschaffte ihnen das noch ein bisschen mehr Zeit, es sah nicht so aus, als würde sich das Chaos auf dem Wasser bald auflösen.

»Die sehen krass aus. Wie teuer sind die denn?«

Lipaire drehte sich um und sah, wie Karim ehrfürchtig den gläsernen Weinschrein betrachtete. Auch die anderen horchten auf, was Lipaire ärgerte. Nun war wirklich nicht der Zeitpunkt, eine solche Frage zu erörtern. »Keine Ahnung. Sechsstellig. Es gab mal eine Auktion, bei der eine von ihnen versteigert wurde.«

Karim pfiff durch die Zähne. »Nehmen wir doch einfach die Flaschen mit, dann müssen wir nicht mehr umständlich irgendeinen Schatz suchen.«

»Putain , Karim«, platzte Lipaire der Kragen. »Das Ding ist aus Panzerglas und einbruchsicher. Und außerdem sind wir keine gottverdammten Diebe. Jedenfalls nicht so direkt.«

»Ausdrucksweise!«, gab der Junge grinsend zurück.

»Jaja, schon gut. Ich weiß eben nicht mehr, wo mir der Kopf steht.«

»Hast du schon mal davon getrunken?«, mischte sich Jacqueline ein.

»Spinnt ihr?« Guillaumes Stimme klang schrill. Er hatte zwar schon den einen oder anderen bewundernden Blick drauf geworfen, sich aber nie daran vergriffen. Es gab schließlich Grenzen. »Was glaubt ihr, was da los wäre? Wahrscheinlich ist der eh längst ungenießbar.«

»Nein, noch immer vollmundig und sanft«, krächzte plötzlich eine dünne Stimme.

Lipaire wollte schon antworten, da wurde ihm bewusst, dass die Stimme zu keinem von ihnen gehörte. Ein Schauer lief ihm über den Rücken.

»Rund und harmonisch, von samtenem Rot«, tönte es wieder.

Jetzt realisierten es auch die anderen. Mit schreckgeweiteten Augen standen sie da.

»Was … wer war das?«, hauchte Jacqueline.

»Es kam von dahinten.« Karim zeigte auf den Weintresor.

Lipaire näherte sich langsam, stellte sich auf Zehenspitzen, lugte über die Glasvitrine – und zuckte zurück, als habe er einen elektrischen Schlag bekommen. Kreidebleich drehte er sich zu den anderen um.

»Könntest du den Herzinfarkt vielleicht auf später verschieben?«, fragte Delphine.

»Der Alte ist hier drin.«

»Wer?«

»Chevalier Vicomte.« Lipaire flüsterte den Namen nur, auch wenn er gleichzeitig dachte, dass das ziemlich sinnlos war. Er musste schon die ganze Zeit da gewesen sein, alles gehört haben, was sie gesagt hatten.

»Aber … der Opa sollte doch auf der Jacht sein«, zischte Delphine.

Da meldete sich Chevalier wieder. »Was soll ich denn auf dem Boot, Marie?«

»Marie?«, wiederholte Delphine und blickte die anderen fragend an.

Lipaire verstand sofort und gab ihr ein Zeichen, weiterzusprechen. Offenbar verwechselte der Alte sie mit seiner Tochter. Das könnte ihr Ausweg sein.

Delphine verstand und erwiderte mit gespreizter Stimme: »Ich … ja, oh mein Vater, weil ich eben gedacht habe, du wärest gern noch ein Weilchen auf dem Boote.«

»Boote?«, formte Lipaire lautlos mit den Lippen und warf ihr einen erstaunten Blick zu. Sie schaute sich nur demonstrativ um, was wohl so viel bedeuten sollte wie: Hier spricht man eben so.

»Ich bin aber lieber bei euch«, krächzte der Alte. Immerhin hatte er ihre Schmierenkomödie nicht durchschaut. »Ist denn das Boot noch immer beschädigt, Yves?«

Wieder tauschten sie gehetzte Blicke, bis Karim antwortete: »Nein, war ja nur das Ruder verklemmt. Der nette, hilfsbereite Wassertaxifahrer hat es schnell und hervorragend repariert.«

»Nur das Ruder, verstehe.«

»Vielleicht wär’s besser, wenn du jetzt ein bisschen schläfst«, ging auf einmal Lizzy Schindler dazwischen. Eine Zeit lang sagte der Alte nichts, bis er plötzlich eine Antwort hauchte, die Lipaire in diesem Zusammenhang überhaupt nicht verstand: »Tarte au miel?«

»Ich glaub, er hat Hunger«, sagte Delphine.

»Nein, das glaube ich nicht«, erwiderte Lizzy grinsend.

»Warum?«

»Wartet ab«, blieb die alte Dame nebulös.

»Ma douce tarte au miel , habe ich etwa eine Verabredung vergessen?«

Delphine schaute Lizzy Schindler mit zusammengezogenen Brauen an: »Kennt ihr euch?«

»Ach was, der Alte ist im Delirium«, flüsterte Jacqueline. »Wahrscheinlich Unterzucker. Das kenn ich von Paul. Wenn der zu wenig gegessen hat, wird er zum Tier.«

»Unterzucker? Zum Tier? Kennst du?«, wiederholte Karim mit heiserer Stimme.

Da rief Lipaire sie zur Ordnung: »Könntet ihr euch bitte mal konzentrieren, mon Dieu ? Habt ihr vergessen, weswegen wir hier sind? Wir versuchen, Roudeaus Rätsel zu lösen, damit wir …«

»Roudeau«, zischte da Chevalier Vicomte. »Roudeau, wenn ich dich in die Finger bekomme! Ich kenne dich. Bin im Bilde. Alles kannst du nicht vor mir verstecken.«

Aufgeregt blickte Lipaire zu den anderen. »Was hast du denn gefunden, du alter Fuchs?«

Ein kehliges Lachen ertönte von hinter der Vitrine. Ob der Alte sie durchschaut hatte?

»Das Bild. Ja, ich weiß es längst. Ich habe es gesehen. Habe … hindurchgesehen.«

»Kommt das nur mir so vor, oder hat der mächtig einen an der Klatsche?«, flüsterte Delphine.

Doch Lipaire hob mahnend einen Zeigefinger. Sicher, es war offensichtlich, dass der Patriarch der Vicomtes ziemlich wirr im Kopf war. Aber auch wenn das, was er sagte, nicht für sie bestimmt war, so konnten die Bilder, die dem alten Vicomte durch den Kopf schossen, doch einen realen Hintergrund haben. Bilder! Guillaume blickte sich um. Es gab nur ein einziges Bild im Raum. Ziemlich seltsam, wenigstens ein paar Familienfotos hätte er doch erwartet. Aber es hing nur ein großes Ölgemälde an der Wand gegenüber der Vitrine. Lipaire schaute hektisch auf seine Armbanduhr: Sie wollten eigentlich längst wieder draußen sein. Ihnen blieb nur noch diese eine Chance. Ehrfürchtig ging er auf das Gemälde zu. Es zeigte eine Stadtansicht von einem der breiten Kanäle aus, mit Blick ins Hinterland und einer winzigen, dicht bewachsenen Insel im Vordergrund, der Île Verte.

Die Blicke der anderen folgten Lipaire gespannt, als er das Bild vorsichtig abhängte. Es war schwerer als gedacht, und er geriet leicht ins Straucheln, setzte es aber sicher ab. In die Wand dahinter war als Relief ein Spruch eingelassen.

»Auf diesen Felsen werde ich meine Gemeinde bauen, und die Pforten der Hölle werden sie nicht überwältigen.« G. R.


Marie Vicomtes Augen waren feucht, als sie vom Bootssteg aus zu dem kleinen Schlauchboot blickte, das in Kriechfahrt auf sie zukam, die Comtesse im Schlepp.

Isabelle kullerten Tränen über die Wangen. »Er kommt zurück. Sie scheinen Opa nicht gefunden zu haben!« Sie hatten gesehen, dass zwei weitere Männer in den Kanal getaucht waren, doch was genau vor sich gegangen war, hatten sie nicht erkennen können.

»Ob wir einen Hubschrauber anfordern sollten?«, dachte Marie laut. »Und die Polizei, die Küstenrettung, was weiß ich … nicht auszudenken, wenn er wirklich über Bord gegangen ist …«

Henri atmete resigniert aus. »Nach der langen Zeit hätte Papa doch keine Chance mehr.«

Marie schluckte. Was er da sagte, klang so schrecklich endgültig. Aber vielleicht war er ja in der Kajüte.

»Mann über Bord. Suche verlief ohne Ergebnis«, erklärte der tätowierte Muskelberg, als er mit seinem Schlauchboot endlich am Steg ankam.

Also doch. Marie konnte es nicht fassen. Nein, das durfte einfach nicht sein. Mechanisch legte sie ihren Arm um Isabelle, die von einem heftigen Weinkrampf geschüttelt wurde.

»Trotzdem danke. Sie haben Ihr Bestes gegeben«, hörte sie ihren Halbbruder sagen.

»War lange Jahre in der militärischen Seenotrettung tätig«, schnarrte der Mann auf dem Schlauchboot stolz. Jetzt erst fiel Marie sein Akzent auf. Belgier, vermutete sie.

»Ja, das sieht man«, murmelte Henri vielsagend. Der erfolglose Retter machte die Leine von der Jacht los und warf sie in sein Boot. Henri vertäute das Holzschiff wieder am Steg. »Ich werde nun eine Leuchtpatrone für den Verblichenen abschießen. Als letzten Salut. Achtung!« Der Mann zog eine Signalpistole aus seiner Weste. Mit einem Zischen stieg die Munition in den Himmel, öffnete sich hoch über den Dächern Port Grimauds zu einer roten Kugel und tauchte alles in unwirkliches Licht.


Im Salon starrten Lipaire und die anderen noch immer gebannt auf die Worte, die hinter dem Bild erschienen waren, als es draußen derart laut krachte, dass sie alle zusammenzuckten. Guillaume spürte, wie sein Herz schneller schlug. Jemand hatte geschossen.

Wenige Sekunden später drang flackerndes rötliches Licht durch die Fenster herein und verwandelte ihre Gesichter in gespenstische Masken. »Das Zeichen!«, zischte Lipaire.

Die Erstarrung fiel schlagartig von ihnen ab, sie rannten wild durcheinander, versuchten, alles, so gut es ging, wieder in den Zustand zu versetzen, den sie vorgefunden hatten. Guillaume zog sein Handy heraus und fotografierte den Spruch und das Bild, dann hängte er das Gemälde wieder auf. Den alten Herrn ließen sie einfach in seinem Rollstuhl sitzen.

»Wir müssen raus, beeilt euch!« Keuchend rannte Lipaire zur Haustür und riss sie auf. Mit hektischen Handbewegungen bedeutete er den anderen, sich zu beeilen. Einer nach dem anderen lief hektisch an ihm vorbei, erst Karim, der an der Tür jedoch Jacqueline den Vortritt ließ, dann Lizzy Schindler mit Hund, die in der Eile gar nicht mehr so gebrechlich wirkte. Guillaume wollte ihnen schon folgen, da bemerkte er, dass noch jemand fehlte. »Putain , Delphine, was machst du denn da?«, zischte er, als er sie reglos vor einem kleinen Sekretär stehen sah.

»Ich … da ist etwas, das du dir ansehen solltest.«

»Wir haben keine Zeit mehr, wir müssen …«

»Komm her!«, zischte sie mit einer solchen Schärfe, dass er ihr ohne weitere Worte Folge leistete.

Sie zeigte auf ein Blatt, das auf der Arbeitsfläche des Tischchens lag. Lipaire erschrak. »Merde« , presste er hervor.

»Was jetzt?«

»Steck’s ein – und dann nichts wie raus.«


Marie Vicomte schüttelte niedergeschlagen den Kopf und sah auf die Planken ihres Bootsstegs. »Lasst uns reingehen, ich ertrage es hier draußen nicht mehr. Und wir müssen den Rettungsdienst alarmieren.«

»Was passiert denn jetzt mit der Firma?«, fragte Henri, als sie über die Terrasse das Haus betraten.

Marie blitzte ihn zornig an. »Kannst du nicht mal warten, bis sie ihn geborgen haben?«

Ihr Bruder hob abwehrend die Hände.

»Die Leuchtkugel hätte papi gefallen. Wie traurig, dass er sie nicht mehr sehen konnte«, schluchzte Isabelle.

»Ja, das war schön«, krächzte da eine dünne Stimme. Eine Stimme, die Marie bekannt vorkam. »Papa?«, fragte sie, auch wenn sie wusste, dass sie sich das nur einbildete. Sie schluchzte auf.

»Wer flennt denn da?«, tönte die Stimme.

»Papi?« Isabelle schaute ihre Mutter ungläubig an.

»Irgendwie klingt ihr ganz anders als gerade noch. Tut mir leid, ich muss heute noch weg. Meine tarte au miel wartet ja auf mich. Sie wird sich nur noch ein wenig frisch machen.« Die drei sahen sich ratlos an, dann bewegte sich Marie in die Richtung, aus der die Worte gekommen waren, und warf einen Blick hinter den gläsernen Weinschrank, wo ihr Vater mit leuchtenden Augen und rosigen Backen quicklebendig in seinem Rollstuhl saß.