»Bonsoir, maman … und alle anderen.« Der junge Mann blieb im Türrahmen stehen, offenbar überrascht von der versammelten Verwandtschaft, die ihm gegenüberstand und ihn mit großen Augen anstarrte.
»Clément, mein Junge, da bist du ja endlich«, rief Chevalier erfreut und breitete die Arme aus.
»Bonsoir, papi!« , sagte der und hob zur Begrüßung zwar die Hand, blieb aber stehen. Da noch immer keiner etwas sagte, fuhr er fort: »Stimmt irgendwas nicht?«
Marie war überrascht. Ihr Ältester war zwei Tage vor ihrer Abreise nach Port Grimaud verschwunden. Das allein war nicht allzu bemerkenswert. Er war ein Freigeist und pfiff auf Familienkonventionen, was sich schon angedeutet hatte, als er vor zehn Jahren im zarten Alter von siebzehn nach Paris abgehauen war. Sie hatte erst Monate später erfahren, wo er sich rumtrieb – und mit wem. Auch, dass er nach der Journalistenschule bei einem linken Satiremagazin angeheuert hatte, hatte sie erst mitbekommen, als Bekannte ihr mit unverhohlener Häme einen seiner Texte gezeigt hatten, der sich über das »überkommene Establishment« lustig machte. Also über sie. Selbst den Lebensgefährten ihres Sohnes, der als Zeichner bei derselben Zeitschrift arbeitete, kannte sie nur sehr oberflächlich – tat allerdings auch alles, damit das so blieb. Zwar gab sie sich in Gesprächen über Clément immer, als sei ihr Verhältnis so innig und vertraut, wie sie sich das gewünscht hätte. Doch in Wirklichkeit wusste sie über das Leben der meisten ihrer Angestellten mehr als über ihr eigen Fleisch und Blut. Vielleicht freute sie sich auch deswegen so, dass er nun da war. »Was machst du denn hier?«
»Du wolltest doch, dass ich komme, maman. «
Das stimmte zwar, allerdings hatte sie ihn lange vor ihrer Abreise darum gebeten. Und er hatte, wie gewohnt, mit der Bemerkung geantwortet, dass ihn »Familiengeschäfte« nichts angingen. Dass sie eine solche Aussage an ihrer empfindlichsten Stelle traf, war ihm natürlich bewusst. »Sicher, mon cher , aber ich dachte …«
»Wollt ihr denn nicht endlich euer Lied anstimmen?«
»Unser Lied?«, fragte Isabelle sichtlich irritiert.
»Na, so wie ihr alle dasteht, scheint ihr ja zu meinem Empfang was vorbereitet zu haben.«
»Wir wussten doch gar nicht, dass du kommen würdest. Warum bist du denn nicht gemeinsam mit uns angereist?«, wollte seine Schwester wissen.
Für einen Moment kniff Clément die Augen zusammen, dann grinste er wieder, als könne er kein Wässerchen trüben. Doch Marie war die kurze Irritation nicht entgangen. »Ich hatte noch etwas zu erledigen«, erklärte er schließlich. »Können wir uns eigentlich mal setzen?«
»Warst du beim Friseur und hast dir endlich ’ne richtige Weiberfrisur machen lassen?«, stichelte Yves in Anspielung auf den neuen Look seines Cousins.
Auch wenn Marie sich mit seiner sexuellen Orientierung zwar arrangiert, nie aber wirklich abgefunden hatte, fand sie sein Äußeres auch heute über jede Kritik erhaben: Die langen blonden Haare waren zu einem Dutt gebunden, wie das bei den jungen Kreativen in der Hauptstadt eben gerade angesagt war. Das Oberlippenbärtchen war frisch getrimmt, seine weiten Klamotten trug er wie immer mit einer demonstrativen Nachlässigkeit, die ehemals weißen Sneakers sahen aus, als hätten sie bereits mehrere Wüstendurchquerungen überstanden. Er roch wie immer ganz dezent nach einem Parfüm mit frischer Zitrusnote. Von dem lässigen Charme, den Clément mit dieser Erscheinung versprühte, konnte Yves mit seinen krampfhaften Versuchen, wie ein Immobilienmogul auszusehen, nur träumen.
»Immerhin bekomme ich keine Geheimratsecken, liebster Cousin«, konterte Clément und nahm Yves damit sichtlich den Wind aus den Segeln. »Und nein, ich hatte andere Termine.«
»Ja, in deinem Alter war ich auch noch hinter jedem Rockzipfel her«, krächzte Chevalier Vicomte, worauf betretenes Schweigen folgte.
Erst eine Frage Henris durchbrach die Stille: »Dein Termin fand nicht zufälligerweise in Toulon statt?«
»Woher weißt du das?«, antwortete der junge Mann wie aus der Pistole geschossen, besann sich dann aber und fügte hinzu: »Ich meine: Was geht dich das überhaupt an?«
»Nun, es würde ziemlich gut ins Bild passen«, raunte Henri.
Die anderen blickten sich an. Auch Marie wurde nachdenklich.
Clément schien ihre Irritation zu spüren. »Was soll denn die Fragerei nach Toulon? Nur weil es da einen der im Moment angesagtesten club gay des Landes gibt, oder was?«
Maries Blick flog zu ihrem Vater, doch der schien die Bemerkung nicht mitbekommen zu haben. Es gab Dinge, die sie, zu seinem Besten, vor ihm verbarg. Sollte er nur weiter glauben, sein Lieblingsenkel sei ein unverbesserlicher Schürzenjäger.
»Nein, für deine Hobbys interessieren wir uns nun wirklich nicht. Wir haben andere Gründe, danach zu fragen«, erklärte Yves in ähnlich inquisitorischem Tonfall wie zuvor sein Onkel.
Marie wollte ihren Jungen nicht wie einen Angeklagten stehen lassen. Schon gar nicht mit Henri und Yves als Staatsanwälten. Also sagte sie: »Jetzt komm doch erst mal richtig rein und stell deine Tasche ab. Hast du Hunger?«
Clément schüttelte den Kopf. »Einen Kaffee könnte ich vertragen. Und danach ein kühles Blondes.«
»Ja, die kühlen Blonden haben mich auch immer am meisten fasziniert«, meldete sich Chevalier wieder aus dem Hintergrund.
Marie reagierte genauso wenig darauf wie der Rest ihrer Familie. Sie machte ihm einen Espresso mit der Kapselmaschine und brachte ihm eine Flasche Blonde de Saint-Tropez aus dem Kühlschrank. »Setzen wir uns doch«, schlug sie vor. Dann siegte ihre eigene Neugier: »Was hast du nun in Toulon gemacht, was dich so lange aufgehalten hat, mon cher ?«
Ihr Sohn blickte einen nach dem anderen an. »Ich … darüber kann ich nicht reden. Noch nicht.«
Alle Augen blieben auf ihn gerichtet, während er einen Schluck Bier nahm.
»Ich bin als Journalist an einer Sache dran. Ich kann nicht sagen, was es ist. Und meine Quellen gebe ich schon gar nicht preis.«
»Die Quellen deiner Befriedigung?«, ätzte Yves.
»Immerhin hol ich mir nicht eine Abfuhr nach der anderen, liebster Cousin.«
»Könnt ihr endlich mit euren kindischen Streitereien aufhören?«, schnitt Isabelle ihnen das Wort ab. »In welcher Zeit lebst du eigentlich, Yves, hm? Hast du solche Angst vor Schwulen, weil du befürchtest, dass du auf den Geschmack kommen könntest?«
»Sorry, Schwesterherz. Wir nehmen auch nicht alles …«, erklärte Clément mit einem Augenzwinkern. Dann trank er seinen petit noir in einem Zug aus.
Isabelle stand auf und hauchte ihrem Bruder demonstrativ zwei Küsschen auf die Wangen. »Schön, dass du dich mal wieder blicken lässt.«
»Ich wollte einfach meine attraktive Schwester in Wirklichkeit sehen, nicht immer nur auf Insta.«
Marie war sich nicht ganz sicher, ob in der Bemerkung ein Vorwurf lag oder er sich tatsächlich freute.
»Kommt July eigentlich auch noch … oder wie heißt dein Typ noch mal?«
»Du weißt genau, dass er Julien heißt, Yves. Aber keine Angst, er hat wohl geahnt, dass du auch da bist.«
»Lass uns doch die Frage von vorhin noch klären«, insistierte Henri.
»Welche Frage?« Clément schien echt nicht zu wissen, worauf sein Onkel hinauswollte.
»Die Frage, wo du dich die ganze Zeit aufgehalten hast.«
»Hab ich das nicht längst gesagt? In Toulon, bei Recherchen …«
Henri gab sich damit nicht zufrieden. »Komm schon, es ist doch nun wirklich ein großer Zufall, dass du just zwei Tage vor unserer Anreise verschwunden bist und ausgerechnet jetzt auftauchst, kurz nachdem bei uns eingebrochen wurde. Solche Zufälle, ich kann das nur immer wieder betonen, gibt es nur in schlechten Kriminalromanen.«
Clément bekam große Augen. »Bei uns wurde was ?«
»Vergiss das Streichholzheftchen aus Toulon nicht«, mischte sich Yves ein.
»Danke, aber darauf wäre ich schon noch gekommen.«
»Also ehrlich, was soll das alles bedeuten?« Clément blickte ratlos einen nach dem anderen an. »Maman , Isabelle, papi , könnte mich mal einer von den normalen Menschen darüber aufklären, was hier vor sich geht?«
Marie übernahm die Aufgabe, Clément auf den neuesten Stand zu bringen. Nicht zuletzt, um damit Henri und Yves in die Parade zu fahren, die sich in ihrer Rolle als Ankläger allzu wohl fühlten. Als sie geendet hatte, blieb es eine Weile still. Sie konnte ihrem Sohn ansehen, dass er die Neuigkeiten erst einmal sortieren musste.
Schließlich sagte er: »Krasse Geschichte. Aber habt ihr euch schon mal überlegt, dass es bei uns wie in jedem Haus in Port Grimaud jemanden gibt, der hier ein und aus gehen kann, wie es ihm passt? Weil er den Schlüssel anvertraut bekommen hat?«
»Wen meinst du denn?«, fragte Isabelle.
»Na, unseren gardien. «
»Lenk nicht von dir ab, Kleiner, indem du andere beschuldigst«, brummte Henri.
»Ich muss von nichts ablenken, oder stehe ich hier vor irgendeinem Tribunal?«
Yves nickte seinem Onkel zu: »Ist schon wahr, was Henri sagt. Du bist doch andauernd hier im Haus. Meinst du, ich weiß nicht, dass du es ständig als Liebesnest benutzt? Möchte nicht wissen, wo ihr’s überall schon getrieben habt, du und dieser …«
»Genug!« Clément zischte das Wort mit einer Schärfe, die Marie gar nicht an ihm kannte. Sein Cousin offenbar auch nicht, denn er verstummte sofort. Sie würde das Thema fürs Erste auf sich beruhen lassen, aber bei der nächsten Gelegenheit hatte sie mit ihrem Sohn ein Hühnchen zu rupfen. Er wusste, dass Julien nicht willkommen war. Weder hier noch in einem ihrer anderen Anwesen. Doch das war nichts, was sie im Familienplenum diskutieren würde. »Jetzt beruhigen wir uns erst einmal alle. Es war ein aufregender Tag, da ist es nur allzu verständlich, wenn die Nerven blank liegen. Wir sollten das nicht an uns auslassen, verstanden? Lasst uns lieber unsere Gegner ins Visier nehmen, wer weiß, was die als Nächstes vorhaben.«