Ein Jahrmarkt in Azur

Karim Petitbon stellte seinen Roller auf dem staubigen Parkplatz direkt vor dem Eingang zum Azur-Park ab. Sie hatten sich gestern im Haus der Vicomtes für heute Abend hier verabredet. Karim war nach der Aktion auf direktem Weg nach Hause gefahren, wo seine Mutter ihn schon ungeduldig erwartet und ihm einen Tee gemacht hatte, weil er noch immer durchnässt war. Er hatte ihr eine irrwitzige Geschichte erzählt, warum er ins Wasser hatte springen müssen, die sie ihm jedoch allem Anschein nach geglaubt hatte. Geschlafen aber hatte er dennoch kaum. Zu viel war ihm durch den Kopf gegangen. Er war froh, dass er dann schon morgens auf dem Taxi zu tun gehabt hatte, das lenkte ab. Nach Schichtende war er gleich hierhergefahren, auch wenn er dadurch früher dran war als geplant.

Er zog sein Polohemd mit dem Logo der coches d’eau aus, stopfte es in seinen Rucksack und schlüpfte in ein ziviles T-Shirt. Es war gerade kurz nach sieben, er hatte also noch eine halbe Stunde Zeit zu entspannen, bevor die anderen kamen.

Der Mini-Freizeitpark, eigentlich eher ein fest installierter Jahrmarkt, der bei der ansässigen Jugend sogar noch beliebter war als bei Touristen, war eine Institution in der Gegend. Er lag zwischen Port Grimaud, Gassin und Saint-Tropez im Gewirr mehrerer Straßenkreuzungen und Kreisverkehre, die tagsüber oft heillos verstopft waren. Jetzt, in der Dämmerung, tauchten die blinkenden Neonleuchten der Buden und Fahrgeschäfte alles in buntes Licht. Schon von der Küstenstraße in Sainte-Maxime aus konnte man abends das blau beleuchtete Riesenrad sehen, das hinter den Häuschen von Port Grimaud hervorragte.

Für Karim war das Areal eine seiner ersten Kindheitserinnerungen: Solange er denken konnte, lockte der Park mit seinen Vergnügungen, die allerdings inzwischen etwas in die Jahre gekommen waren. Auch wenn nicht alle Einheimischen die schrille Atmosphäre hier mochten, die nicht so recht zum noblen Flair der Côte d’Azur passen wollte – Karim liebte sie. Vielleicht hatte das auch damit zu tun, dass in den Erinnerungen an seine früheren Besuche immer auch sein Vater dabei war, der mit ihm Autoscooter fuhr oder an der Schießbude einen Teddybären für ihn ergatterte.

Schon als Schüler hatte Karim sich dann bei verschiedenen Buden ein wenig Taschengeld verdient, und auch jetzt besserte er noch hin und wieder als Aushilfe sein Gehalt auf. Er passierte das Drehkreuz und warf einen Blick auf die riesigen Dinosaurier-Skulpturen, die als Hauptattraktion des Minigolfplatzes hübsch illuminiert im angrenzenden Wald standen.

»Salut , Manon«, grüßte er die Frau an der Tombola neben dem Eingang, die vor einem Wagen voller Plüschtiere, Plastikspielzeug und billigem Ramsch stand. Wie sie mit ihren Losen Geld verdiente, war Karim schleierhaft: Aus seiner Sicht gab es keinen Gewinn, der auch nur im Ansatz dem Gegenwert eines einzigen Loses entsprochen hätte. Warum sollte man dann eines kaufen? Manon winkte lächelnd zurück.

Heute war nur wenig los. Karim lief an den lärmenden Karussells vorbei und steuerte den Jachtsimulator an. Er würde noch ein paar virtuelle Hafenrunden in irgendeiner mondänen Marina drehen. Als sie am Vortag überstürzt das Haus der Vicomtes verlassen hatten, war ihm auf die Schnelle der Vergnügungspark als Treffpunkt eingefallen. Doch Guillaumes Reaktion darauf war seltsam gewesen: reserviert, fast gereizt. Ihn schien die ganze Sache wohl doch mehr mitzunehmen, als Karim gedacht hatte. Während er vorwiegend wegen des Nervenkitzels – und ein bisschen wegen Jacky – dabei war, schien der Deutsche sich Hoffnungen zu machen, dass er mit einem großen Coup in ein neues Leben starten könnte. Karim zuckte mit den Schultern: Was auch immer es genau war, was Guillaume bewegte, in einer knappen Stunde würde er es wissen.

Er passierte die Schiffschaukeln, die neue Fortnite -Schießbude mit den martialischen Maschinengewehren und den Autoscooter, aus dessen Lautsprechern wie immer französischer Rap dröhnte. Von überallher riefen ihm die Angestellten einen Gruß zu oder winkten ihm freundlich. Er kannte sie alle. Sie waren eine eingeschworene Gemeinschaft und er schon seit vielen Jahren ein fester Teil davon. Kurz darauf betrat er den überdachten, aber zu allen Seiten offenen Bereich mit den Fahrsimulatoren und den großen Computerspielen. Sofort umgab ihn ein Gewirr aus Lichtern und synthetischen Klängen. Hier konnte man alles spielen, was blinkte und Lärm machte. Außerdem gab es einen Helikopter- und einen Formel-1-Simulator von überraschend guter Qualität. Doch weder Luft noch Straße waren sein Element, seine Welt war das Wasser.

»Salut , Karim. Hast du heute Schicht?«, fragte Rachid. Er war einer der Festangestellten hier, hatte wie er selbst nordafrikanische Wurzeln und war schwer in Ordnung, auch wenn er Karim gerne seine Arbeit machen ließ.

»Salut. Nein, ich bin einfach zum Spaß da.«

»Ist dir langweilig, Alter? Ich hätte schon noch was zu tun für dich«, sagte Rachid grinsend und zündete sich eine Selbstgedrehte an. »Der Formel-1-Sitz wackelt, den müsste man ausbauen und die Halteschiene neu annieten.«

»Da musst du wohl ausnahmsweise selbst ran. Ich würd stattdessen mal ein paar Hafeneinfahrten üben.«

Rachid nickte. »Klar, ist ja fast nix los. Die Schiene kann warten.«

Karim machte es sich im Cockpit bequem. Die Simulation war verblüffend echt. Er setzte die große VR-Brille auf, stöpselte sich gegen den Lärm seine kleinen Kopfhörer in die Ohren und startete das Spiel. Zuerst suchte er sich ein richtig langes Boot aus, einen beeindruckenden Zweimaster, und wählte die höchste Windwarnstufe, um die Sache ein wenig interessanter zu gestalten. Umso besser konnte er sich ablenken. Und tatsächlich tauchte er schon kurz darauf in die faszinierende Welt von Marinas, Lotsen und Kapitänen ein, befolgte akribisch die Anweisungen der fiktiven Hafenbehörden rund um den Erdball und legte ein ums andere Mal perfekt an. Als er in Fort Lauderdale eine Zwanzig-Meter-Jacht seitlich an ein knappes Kai steuerte, legte sich eine Hand auf seine Schulter und drückte zu. Zu Tode erschrocken riss Karim sich die Brille vom Kopf und blickte in das breite Grinsen von Paul Quenot.

»Na, Kleiner, noch immer nicht das Geld für einen eigenen voilier zusammen?«

»Das mit dem großen Geld geht manchmal schneller, als man denkt, Paul«, brummte er beleidigt, weil ihn ausgerechnet Monsieur Mäusestimme Kleiner genannt hatte.

Der Belgier legte misstrauisch die Stirn in Falten. »Ach ja? Was soll das heißen?«

»Nichts, Paul. Was gibt’s?«

»Ich will dich holen. Du hast ja anscheinend unser Treffen vergessen wegen diesem Kinderspielzeug da.« Dabei deutete er auf die Spielautomaten.

Karim zog sein Handy aus der Tasche. Putain! Er hatte tatsächlich unnötig Zeit verdaddelt.

»Kommst du endlich? Es gibt viel zu tun. Wir sind fast am Ziel«, drängte Quenot. Karim nickte, schälte sich aus dem Simulator und überquerte mit dem Belgier das Gelände. Kurz darauf standen sie vor der mächtigen Rampe namens Riverslide , einem Zwitter aus Rutsche und Wildwasserbahn – und der einzigen Attraktion, für die man keinen französischen Namen gefunden hatte.

Guillaume wartete dort bereits und rauchte, neben ihm Delphine, während Lizzy Schindler auf einem ramponierten Gartenstuhl saß, den Pudel auf dem Schoß. Ein wenig abseits lehnte Jacqueline an einer Absperrung und schaute in ihr Handy. Sie hatte die Haare wie immer zu einem wirren Knoten hochgesteckt, die große Brille ein wenig zu tief auf der Nase. Statt ihres sonst obligatorischen Sommerkleids hatte sie eine graue Jogginghose an, dazu ausgelatschte Sneakers und eine viel zu große Sweatjacke, die ihr auf einer Seite über die Schultern nach unten gerutscht war. Karim kannte jede Menge Frauen, bei denen dieses Outfit schlampig und abtörnend gewirkt hätte. Bei Jacqueline aber sah es aus, als sei sie gerade einer Modelkartei entstiegen. In diesem Moment blickte sie von ihrem Handy auf und ihm direkt in die Augen. Er fühlte sich ertappt und war froh, dass man sein Erröten im schummrigen Licht nicht sehen konnte.

»Echt coole Location für ein Treffen«, sagte sie, hob die Hand und klatschte mit ihm ab.

»Ja, findest du? War meine Idee«, gab Karim sich betont lässig. »Du magst den Park?«

»Mögen? Ich liebe ihn! Bin erst neulich die Riverslide gefahren. Wir hatten einen Riesenspaß, wie als Kinder. Am Schluss waren wir bis auf die Haut durchnässt.«

»Wir?«, fragte er misstrauisch nach.

»Ja, ich war mit … ach egal, kennst du wahrscheinlich eh nicht.«

Karims Stirn bewölkte sich. Ob sie einen Freund hatte, von dem er nichts wusste?

»Super Aktion gestern, oder?«, wechselte die junge Frau das Thema.

»Ja, das war ein guter Plan«, stimmte Quenot zu und klatschte ebenfalls mit ihr ab.

»Wir sind eine richtige Elitetruppe, was, Monsieur Paul?«, rief Lizzy Schindler von ihrem Stuhl aus. »Die Unverbesserlichen haben zugeschlagen!« Nur Lipaire und Delphine schienen sich der allgemeinen Feierstimmung nicht anschließen zu wollen.

Da machte der Deutsche einen Schritt nach vorn. »Könnten wir dann mal?«, drängte er. Dabei würdigte er Karim keines Blickes. Was hatte er bloß? Etwas beunruhigt hob der Junge ein Element des Bauzauns aus der Halterung, zog es ein Stück auf und ließ die anderen hineinschlüpfen. Als Jacqueline an ihm vorbeikam, nahm er den Duft ihres Parfüms wahr. Berauschend und gleichzeitig irgendwie … leicht und frech. Genau wie sie.

Inzwischen war die Sonne hinter den Hügeln verschwunden und die Temperatur ein wenig erträglicher. Er schloss den Zaun und gesellte sich zu den anderen, die bereits auf ein paar ausrangierten Minibooten aus Plastik Platz genommen hatten, die einst die Wasserrutsche hinuntergedüst waren. Die Bahn ruhte auf einem mächtigen Metallgerüst, das von unten ganz schön rostig aussah. Es roch nach Diesel und Abgasen, an mehreren Stellen tropfte es durch die Plastikteile und Rohre nach unten, und das Wasser bildete Pfützen im staubigen Boden. Immer wenn oben Leute rutschten oder mit den Booten durch die Röhren bretterten, hatte man das Gefühl, als stürze der Himmel ein.

Karim konnte an den Gesichtern der Übrigen ablesen, dass sie das nicht für den geeignetsten Treffpunkt hielten. Doch nirgends sonst konnte man sich so ungestört unterhalten wie hier. Außerdem fand Jacqueline es cool. Und das war das Wichtigste.

»Also«, hob Lipaire schließlich mit lauter Stimme an, um das Donnern zu übertönen. »Es gibt da etwas, was wir euch mitteilen müssen.«

Delphine nickte eifrig.

»Ja, das hätte nicht passieren dürfen«, meldete sich Quenot mit zerknirschtem Gesicht zu Wort. »Ich wollte das nicht. Auch damals nicht, in Guyana. Da waren es gleich drei auf einmal. Es haftet an mir wie Pech, eine Art Fluch, der mich …«

Lipaire sah ihn verständnislos an. »Ich weiß nicht, worauf du hinauswillst. Unser Plan hat alles in allem ganz gut funktioniert. Auch wenn du dir das mit der Leuchtpistole hättest sparen können.«

»Die Leuchtpistole? Das ist das Einzige, was dich stört?« Der Belgier blickte den Deutschen fassungslos an. »Du bist ein eiskalter Hund. Wegen uns ist er ins Wasser gegangen.«

»Er hat sich ein bisschen nass gemacht, na und?«, erwiderte Lipaire und blickte zu Karim, der mit den Achseln zuckte. Der kleine Tauchgang hatte ihm nun wirklich nichts ausgemacht.

»Wir haben den alten Mann auf dem Gewissen«, kiekste Quenot. »Ich kann an nichts anderes mehr denken. Und du? Verschwendest nicht einmal einen einzigen Gedanken daran.«

Lipaire zog die Brauen zusammen. »Wen, bitte, haben wir auf dem Gewissen?«

»Na, den alten Vicomte. Der ist doch gestern von der Jacht gekippt, als ich mit dem Boot daran angezogen habe, oder etwa nicht?«

Guillaume lachte kehlig auf. »Chevalier Vicomte? Der erfreut sich des Lebens wie eh und je.«

»Er war gar nicht auf der Comtesse. Haben wir allerdings auch erst später rausgefunden«, erklärte Delphine.

»Verdammt, warum sagt mir das denn keiner? Ihr lasst mich ernsthaft einen ganzen Tag in dem Glauben, dass ich den alten Herrn um die Ecke gebracht habe?«

»Wenn du ein Handy hättest, hätte ich dir ja eine SMS geschrieben, aber so … Komm doch mal im Laden vorbei, ich mach dir einen Sonderpreis.«

»Sieh’s doch mal positiv, Paul«, versuchte Jacqueline den Belgier ein wenig aufzurichten. »Niemand ist ums Leben gekommen, du bist also auch nicht am Tod von irgendwem schuld.«

Quenot seufzte und senkte den Blick, während Karim ungeduldig zu Lipaire schaute. Er war gespannt, was die anderen zum Spruch an der Wand sagen würden und wie sie nun weitermachen wollten. Denn wenn er ehrlich war, hatte er selbst noch nicht einmal die Spur einer Idee, sosehr er über die Sache auch gegrübelt hatte.

»So, nachdem wir das geklärt hätten, geht es um etwas Wichtigeres. Delphine, zeig den anderen bitte, was du im Haus gefunden hast.«

Sie langte in die Gesäßtasche ihrer Jeans, faltete ein Blatt Papier auf und hielt es Quenot hin.

»Merde , das ist doch …« Der Belgier verstummte.

Karim nahm ihm den Ausdruck aus der Hand. Für einen Moment wurde ihm regelrecht schwarz vor Augen. Er atmete flach. Mechanisch zeigte er Lizzy Schindler das Bild. Als auch Jacqueline es gesehen hatte, schnarrte Lipaire, der sich heute anhörte wie der strenge Hausmeister von Karims ehemaligem collège : »Es handelt sich hier um ein Foto des toten Barral, aufgenommen im Haus der Vicomtes. Samt Erpresserschreiben, das Delphine bei ihnen gefunden hat. Wir haben es vorsichtshalber mitgenommen.«

Alle sahen den Deutschen gebannt an, dann sagte Quenot: »Das heißt, dass sie ihn umgebracht haben?«

Guillaume schüttelte den Kopf. »Zur Klärung dieser Frage bringt uns das Foto gar nichts. Denk doch bitte nach, bevor du redest.«

»Oui, mon commandant!« Der Belgier schlug theatralisch die Hacken zusammen, doch Lipaire ließ sich davon nicht beirren: »Ich gehe davon aus, dass jemand die Vicomtes erpressen will. Mit dem Wissen um Barrals Tod.«

Jacqueline bekam große Augen. »Also ist noch eine dritte Partei im Spiel?«

Karim strahlte sie an. Woher hatte sie nur diese wahnsinnige Auffassungsgabe?

»Könnte sein. Aber da wir den Toten ja entdeckt haben, halten Delphine und ich die These für viel wahrscheinlicher …«, er machte eine Pause, bevor er mit zu Schlitzen verengten Augen fortfuhr, »dass es in unseren Reihen eine undichte Stelle gibt.«

Während die anderen nach Luft schnappten, ergoss sich wie zur Bestätigung ein Schwall Wasser aus der Rutsche über alle Anwesenden.