Guillaume Lipaire sah misstrauisch in die Runde. Sie saßen alle um einen Tisch im großen Grillrestaurant des Azur-Park, einer seitlich offenen, überdachten Halle, in der eine Menge Gäste Platz fanden. Dennoch hatte man sich, anders als man es zum Beispiel aus Deutschland kannte, gegen ein schnödes Selbstbedienungsrestaurant mit Chicken-Nuggets und Fischstäbchen entschieden, sondern für einen veritablen Restaurantbetrieb samt Kellnern. Und die Schweinerippchen, die sich hier über Stunden am Grill drehten, waren tatsächlich von solider Qualität. Dennoch verspürte er nicht den geringsten Hunger. Nicht einmal seine Zigarre schmeckte ihm, und er nippte lustlos an seiner Bierdose. Eigentlich war er ja eher Weintrinker, jedenfalls, seit er in Frankreich lebte, aber dem Weinkeller der Rôtisserie du Parc traute er dann doch nicht.
Nun war auch noch sein Hemd nass, nur wegen Karims bescheuerter Idee, sich ausgerechnet unter einer tropfenden Wasserrutsche zu treffen. Nach der unfreiwilligen Dusche hatten sie hierhergewechselt und für alle frites , Rippchen und Salat bestellt. Während Delphine, Karim und Jacqueline ordentlich zulangten, hielt sich Lizzy strikt an das Grünzeug. Quenot nagte missmutig an ein paar Spareribs, wobei ihm Louis jeden Bissen in den Mund zu zählen schien. Wahrscheinlich spekulierte der Hund auf den Knochenteller. Lipaires Portion blieb gänzlich unangetastet. Eine Sache hatte ihm ganz gewaltig auf den Magen geschlagen: Jemand aus ihrer Gruppe spielte falsch, arbeitete auf eigene Rechnung. Gerade war er dabei gewesen, seinen Widerwillen gegen ihre Zusammenarbeit abzulegen, da bekam sein Misstrauen neue Nahrung. Das hatte man eben davon, wenn man sich mit derart unverbesserlichen Gaunern einließ.
Die anderen schienen ähnlich zu denken, denn die Unbeschwertheit, die noch gestern unter ihnen geherrscht hatte, war einem gegenseitigen Belauern gewichen. Zugetraut hätte Lipaire es auf den ersten Blick keinem – außer vielleicht Quenot. Und dann, nach genauerem Hinsehen, doch wieder jedem. Dieser Menschenschlag nahm es mit der Ehrlichkeit eben nicht so genau. »Also, Leute«, begann er schließlich, »bevor wir weitermachen, müssen wir wissen, wer das Ding mit der Erpressung dreht. Möchte es vielleicht irgendwer gleich zugeben?«
Alle senkten den Blick, wie Kinder in der Schule, die sich vor einer drohenden Abfrage schützen wollen. »Es passiert ihm oder ihr auch nichts, das garantiere ich.« Er blickte in die Runde. »Vorausgesetzt, derjenige gibt es jetzt freiheraus zu.«
»Wer sagt uns eigentlich, dass nicht du es bist?« Quenot klang angriffslustig, anscheinend war sein Nervenkostüm durch die Vorfälle angeschlagen.
»Ich?« Lipaire lachte ein wenig zu forsch auf. »Würde ich dann so vehement darauf bestehen, dass wir es aufklären müssen?«
»Kann auch ein Ablenkungsmanöver sein«, konterte der Belgier und sah die anderen Beifall heischend an. »Bei der Legion lernt man viel über Psycho-Kriegsführung. Mir macht man so leicht nichts vor.«
Lipaire schnaubte. »Ach ja? Gehörten Erpressungen denn da auch zum Unterrichtsstoff?«
»Nein, natürlich nicht«, empörte sich Quenot. »Ich bin außerdem Legastheniker. Ich kann gar keinen Erpresserbrief schreiben.«
»Kann ja jeder behaupten.«
»Dafür gibt es Rechtschreibprogramme. Wenn ich die nicht hätte, oh Mann …«, wandte Karim ein. »Also, nicht dass ich dir was anhängen will, Paul.«
Der Belgier kiekste zurück: »Du und Lipaire, ihr seid doch die Einzigen, die das Foto machen konnten. Schließlich waren wir anderen nie zusammen mit Barral im Vicomte-Haus.«
»Ach, und wer sagt das?« Nun wurde auch Karims Ton schärfer. »Was, wenn du schon vor uns drin warst?«
»Oder mit deiner Drohne durchs Fenster reingeflogen bist«, merkte Delphine an. »Nur so als Idee, ohne dich direkt verdächtigen zu wollen, natürlich.«
»Lächerlich! Du mit deiner Fähigkeit, dich in alle möglichen Handys und Computer reinzuhacken, solltest mal ganz leise sein.«
Delphine zeigte ihm den Vogel.
»Also, dann bin ich zumindest raus.« Jacqueline hob beide Hände. »Ich bin weder ein Computernerd, noch hab ich ’ne Drohne.«
»Dich verdächtigt ja auch niemand«, beeilte sich Karim zu sagen.
»Sagt wer?«, mischte sich nun auch noch Lizzy Schindler ein. »Nicht persönlich nehmen, Liebes, ja? Aber immerhin bist du die Tochter des Bürgermeisters.«
»Was soll das denn heißen?«, fragte Jacqueline zurück.
»Madame Lizzy, so leid es mir tut, aber auch Sie gehören zum Kreis der Verdächtigen«, merkte Lipaire in sachlichem Ton an. »Also, rein theoretisch jedenfalls und ohne irgendeine Vorverurteilung machen zu wollen.«
»Ich?« Die alte Dame schien aus allen Wolken zu fallen.
Lipaire nickte. »Wir wissen nicht genau, wie lange Barral schon dalag, als Karim und ich ihn gefunden haben. Jeder hätte sich Zugang verschaffen und das Foto machen können. Theoretisch gesprochen, wie gesagt.« Obwohl er diesen Punkt vor den anderen so offensiv vertrat, formte sich in seinen Gedanken ein Verdacht, den er nicht wahrhaben wollte.
»Ich hab ja noch nicht mal ein Handy, mit dem man solche Fotos schießen könnte.«
»Aber vielleicht Ihr … Bekannter?«
»Welcher denn?« Lizzy Schindler schüttelte den Kopf. »Dass ich mir das in meinem Alter und meiner Position sagen lassen muss …«
Lipaire wollte eben fragen, welche Position sie meinte, da kam Delphine ihm zuvor: »Mensch, Leute, so kommen wir nicht weiter. Wir sollten uns vielleicht auch mal drüber unterhalten, was unsere Aktion bei den Vicomtes gebracht hat.«
Quenot kniff die Augen zusammen. »Ach, möchte da etwa jemand vom Thema ablenken?«
»Da bin ich ganz bei Delphine. Jetzt gebt es einfach zu, dann können wir weitermachen«, beharrte Lipaire.
Der Belgier wollte das nicht hinnehmen. »Klingt immer noch, als könntest du es gar nicht sein. Nur weil du hier immer den Gruppenleiter spielst …«
»Ich hab die ganze Sache doch ins Rollen gebracht, warum hätte ausgerechnet ich jetzt …«
»Karim und du, ihr seid von euch aus auf mich zugekommen, also war ich’s auch nicht!« Damit verschränkte Quenot die Arme vor der Brust wie ein trotziges Kind.
»Ich erst recht nicht, ich hab den Erpresserbrief ja gefunden«, vermeldete Delphine.
Lizzy zischte erbost: »Ich vielleicht?«
»Also, für Jacky leg ich die Hand ins Feuer.« Karim lächelte das Mädchen an, das nur mit den Augen rollte.
Lipaire kam sich immer mehr vor wie ein Kindergärtner. Er beschloss, mit einem Vorschlag zur Güte das Thema erst einmal abzuschließen, auch um selbst noch ein wenig darüber nachdenken zu können: »Also, wir machen es so: Wer die bescheuerte Idee mit der Erpressung hatte, kommt später allein zu mir, wenn wir hier durch sind, okay? Dann muss er es nicht vor der ganzen Gruppe zugeben.«
»Ja, Papa, so machen wir’s«, antwortete Jacqueline augenzwinkernd.
»Schön. Also, wir sollten uns überlegen, was uns die Inschrift hinter dem Bild sagen könnte. Das muss doch ein Hinweis sein, oder? Eines von Roudeaus Rätseln.«
Alle nickten, dann blickten sie zu Jacqueline.
Die seufzte. »Okay, also, wie ging der Satz noch mal genau?«
Lipaire konnte den Vers inzwischen auswendig, so oft hatte er ihn in Gedanken durchgekaut. »Auf diesen Felsen werde ich meine Gemeinde bauen. Und die Pforten der Hölle werden sie nicht überwältigen.«
»Vielleicht sollten wir ihn mal aufschreiben, damit ihn alle vor Augen haben«, fand Delphine und zog einen Kugelschreiber aus ihrer Handtasche, den sie Quenot hinhielt.
»Ich? Wieso ich?«
»Weil eben«, herrschte Delphine ihn an und legte ihm eine Serviette hin.
Quenot zuckte mit den Achseln und begann, in krakeliger Kinderschrift angestrengt zu schreiben, wobei er die Zunge zwischen die Lippen schob. Bereits beim vierten Wort hatte Lipaire das Gefühl, mehr Fehler als Buchstaben auf der Serviette zu sehen.
»Gut, dass du Gärtner und kein Schriftsteller geworden bist«, sagte Karim grinsend.
Delphine schien zufrieden. »Das mit der Legasthenie stimmt anscheinend.«
»Ablenkungsmanöver«, brummte Lipaire.
Jacqueline nahm Quenot Stift und Serviette ab und schrieb das Bibelzitat auf die Rückseite.
»Felsen, wo gibt es hier Felsen …« Guillaume horchte seinen eigenen Worten nach und bemerkte, wie idiotisch sie waren. Hier gab es überall Felsen. Die Zitadelle von Saint-Tropez war auf einem Felsen erbaut, das Château de Grimaud, Gassin und auch das Örtchen Plan de la Tour.
»Ob er die vorn im Wasser meint?«, dachte Karim laut. »Wenn man nach Saint-Trop’ fährt, gleich bei der Fabrik, ist alles voll davon.«
Lipaire nickte. Er hatte vor Jahren einmal mit dem Schlauchboot eine ziemlich unangenehme Begegnung mit diesen schroffen Klippen unter der Wasseroberfläche gemacht und hielt sich seither akribisch an die gelben Tonnenmarkierungen, wenn er auf dem Meer unterwegs war.
Jacqueline legte die Stirn in Falten. »Aber dass er seine Gemeinde auf Felsen bauen wollte, die unter Wasser liegen, macht das Sinn?«
»Nein, sicher nicht«, gab Karim gleich klein bei.
Wenn der Junge so weitermachte, lieferte er sich der Damenwelt völlig schutz- und wehrlos aus, dachte Lipaire. Dabei hatte er ihm doch schon erklärt, wie er es anstellen musste.
»Hier unten war ja früher alles Sumpfland. Da ist es nicht besonders wahrscheinlich, dass Roudeau das Gebiet gemeint hat, auf dem unser kleines Lagunenstädtchen entstanden ist«, merkte Jacqueline an.
Lizzy Schindler nickte und schob Louis ziemlich unsanft von ihrem Schoß, bevor sie sich nach vorn lehnte. »Und wenn er etwas hat verstecken wollen, dann sicher nicht da. Hier blieb doch kein Stein auf dem anderen. Ich war ja praktisch von Anfang an dabei. Bagger haben wirklich jedes Fleckchen umgegraben.«
»Das ist so nicht ganz richtig.« Alle blickten zu Delphine. »Na ja, ich mein ja nur, es gibt da schon einen Ort, der noch ganz ursprünglich ist. Ihr wisst doch, die seltsame kleine Insel im hinteren Kanal, mit dem Gras und den paar Büschen drauf.«
»Klar, das letzte Stück original belassener Boden, die Île Verte. Die war doch auch auf dem Gemälde im Haus der Vicomtes zu sehen! Ich komme täglich daran vorbei«, rief Karim.
Auch Guillaume Lipaire kannte die Stelle, hatte aber nie wirklich verstanden, was es damit auf sich hatte, denn besonders hübsch sah das Ganze tatsächlich nicht aus.
»Ist da nicht auch ein Felsen drauf?«, fragte Jacqueline.
Karim Petitbon nickte. »Ein kleiner, ja. Mehr ein großer Stein. Eine Art Findling, oder wie man das nennt.«
»Das könnte es durchaus sein«, dachte Lipaire laut. »Würde auch erklären, warum der Architekt, der hier alles so schön und harmonisch gestalten wollte, ausgerechnet dieses unansehnliche Stückchen Brachland hat bewahren lassen. Auf diesen Felsen will ich meine Gemeinde bauen. Es war ein besonderer, emotionaler Ort für ihn. Weil es der letzte Rest des ursprünglichen Bodens war, auf dem alles entstand. Und wenn man einen Schatz verstecken will, wo tut man das?«
»In einer Kiste?«, vermutete Quenot.
Lipaire zog nur mitleidig die Augenbrauen hoch.
»An einem besonderen, emotionalen Ort«, versuchte sich Delphine an einer Antwort.
»Exactement, ma chère Delphine!« , sagte Lipaire grinsend. »Ob wir uns die Insel im Schutz der Dunkelheit vielleicht nachher mal ansehen wollen?« Er blickte in den letzten Rest Dämmerung, der am Himmel zu erkennen war.
Nach und nach hellten sich auch die anderen Gesichter auf. Nur Karim winkte ab. »Auf mich könnt ihr dabei leider nicht zählen, ich hab noch eine späte Fuhre. Unaufschiebbar, ich hab fest zugesagt. Ist ein ziemlich schwieriger Kunde, tut mir leid.«
Mit einem Schlag meldete sich bei Lipaire wieder dieses ungute Gefühl im Bauch. Warum war Karim auf einmal nicht mehr mit vollem Eifer bei der Sache, kümmerte sich lieber um seine Privatinteressen? Noch dazu, wo Jacqueline auch mit von der Partie sein würde? Irgendetwas gefiel ihm daran ganz und gar nicht. Automatisch wanderten seine Gedanken wieder zu dem Erpresserbrief. Natürlich hätte theoretisch jeder dafür verantwortlich sein können, wie er es vorhin gesagt hatte. Aber wenn er ehrlich war: Sonderlich wahrscheinlich war es nicht gerade, dass etwa Lizzy Schindler nachts in das Haus geklettert war. Oder Quenot, den sie selbst ja erst in die Sache hineingezogen hatten. Oder … es war zum Verrücktwerden: Ob er es wollte oder nicht, die plausibelste Erklärung war, dass Karim oder er selbst das Foto geschossen hatten. Letzteres konnte er zu hundert Prozent ausschließen. Und war der Junge nicht auch erstaunlich gefasst gewesen, als er den Toten entdeckt hatte? Vielleicht war er von dem Fund ja gar nicht überrascht worden. Vielleicht … Er wollte nicht weiterdenken.
Die Aussicht, möglicherweise schon heute Nacht ans Ziel zu gelangen, half ihm ein wenig, diese düsteren Gedanken fürs Erste zu verdrängen. »Wir treffen uns um zwei Uhr beim Bootseinstieg gegenüber vom leer stehenden Strandhotel. Das ist spät, aber wir brauchen den Schutz der Nacht. Ich organisiere uns ein Transportmittel, da unser Fahrer ja leider Besseres zu tun hat. À plus! «