»Das ist nicht dein Ernst!«
Guillaume Lipaire war nicht ganz klar, worauf Quenot hinauswollte. Der Deutsche hatte der ganzen Gruppe ein paar Stunden zuvor im Azur-Park versprochen, für Wasserfahrzeuge zu sorgen, und genau das hatte er getan. Nun standen sie hier am Ufer des Kanals, wo friedlich ein Stand-up-Paddle und ein kleines Kajak dümpelten, in dem bereits die wie immer freudig lächelnde Jacqueline Platz genommen hatte. Daneben lag das »Boot« mit Madame Lizzy nebst Louis und Delphine darin.
Es war fast zwei Uhr nachts, doch keiner von ihnen schien müde oder erschöpft zu sein. Im Falle des Belgiers wäre ihm das aber fast lieber gewesen, dann hätte er sich vielleicht nicht so vehement über ihre Transportmittel beschwert. »Gut, wenn du unbedingt mit auf den Kahn willst, wir finden da auch zu viert Platz, vorausgesetzt, du nimmst den Hund auf den Schoß«, lenkte Lipaire ein, um die Sache zu beschleunigen.
»Welchen Kahn? Ich sehe keinen Kahn.«
Lipaire streckte den Arm aus und zeigte auf das Tretboot in Schwanenform. »An das 600-PS-Speedboot von den Dänen in der Grand’ Rue wollte ich nicht ran, das wäre doch zu auffällig gewesen. Und für die kurze Strecke …«
»Ich hätte mich nie darauf einlassen sollen. Du weißt, dass ich mit Wasser meine Probleme habe«, schimpfte Quenot, zog seine Stiefel aus und krempelte die Cargohose auf, wobei das martialisch aussehende Kampfmesser hervorblitzte, das er mit zwei Gummiringen am Unterschenkel festgeschnallt hatte.
»Dann hast du dich ja genau am richtigen Ort niedergelassen«, erwiderte Guillaume grinsend.
»Hast du an die Werkzeuge gedacht, Paul?«, wollte Delphine wissen.
»Klar.« Er deutete auf einen Handkarren, aus dem ein Spaten, eine Schaufel und mehrere Hacken herausschauten.
Sie luden alles in den Schwan, und Quenot stieg mit den Worten »Bevor ich mich da reinsetze, geh ich lieber mit dem Brett unter« auf das Stand-up-Paddle.
Lipaire hingegen kletterte zu den Frauen ins Tretboot, das angesichts dieser Besetzung so tief im Wasser lag, dass nur noch ein paar Zentimeter über der Oberfläche herausschauten. Er klemmte sich neben Delphine in den vorderen Sitz, aber erst als er die Pedale sah, wurde ihm klar, dass er nun für Vortrieb sorgen musste. Putain! Irgendwie musste er das bei seiner strategischen Planung übersehen haben. Da er jedoch schlecht Madame Lizzy darum bitten konnte, begann er nun zähneknirschend, in die Pedale zu treten. Geradezu majestätisch glitt der Schwan vom Steg in Richtung Kanal, wo Quenot auf dem Paddle und Jacqueline im Kajak bereits auf sie warteten.
»Wisst ihr, dass sich in Wien einmal ein Schwan in ein solches Tretboot verliebt hat, weil er dachte, es wäre ein paarungsbereites Weibchen?«, fragte Lizzy aus dem Heck. Lipaire kannte dieselbe Geschichte zwar aus Münster, aber da er bereits ziemlich außer Puste war, nickte er nur. »Man hat sie sogar mehrere Jahre zusammen im Zoo überwintern lassen. Nur mit Nachwuchs wollte es tragischerweise nie klappen.«
Nach ein paar Abzweigungen – Lipaire hatte darauf bestanden, nicht den direkten Weg zu nehmen, um nicht an seinem ehemaligen Häuschen vorbeizukommen – hatte der bizarre Konvoi sein Ziel erreicht: die Île Verte , jenes kleine Stück Land, das als Einziges beim Bau des Lagunenstädtchens vor über fünfzig Jahren unberührt geblieben war. Als sie am Rand der kleinen Insel festmachten, der mit Planken und metallenen Spundwänden gesichert war, nahm Guillaume im Augenwinkel einen Schwan wahr, der mit weit nach oben gerecktem Hals am Tretboot vorbeischwamm. Nur ganz selten verirrten sich die weißen Vögel in die Lagune. Womöglich hatten sie heute Nacht den Grundstein für eine weitere große Liebe gelegt.
Sie kletterten heraus und betraten das mit Schilf, Gras, ein paar mickrigen Pinien und Büschen bestandene Stückchen Land und luden ihre Werkzeuge aus.
»Mann, bei dem harten Boden hätte ich besser meine Motorhacke mitgebracht«, merkte der Belgier an, nachdem er mit nackten Füßen die ausgelaugte Erde betreten hatte.
»Warum nicht gleich ein paar Stangen Dynamit?«, brummte Lipaire, packte sich eine Spitzhacke und begann, den Boden zu bearbeiten.
»Putain , auf die Idee hättest du mich ja auch früher bringen können!«, gab Quenot zurück. »Wir haben in Dschibuti mal eine strategisch wichtige Brücke gesprengt. Hat Krater gemacht, dass man danach Karpfenteiche darin anlegen konnte.«
Seufzend hielt Guillaume ihm den Spaten hin. »Halt keine Volksreden, fang lieber an zu graben.«
»Soll ich mir inzwischen mal den Felsen genauer ansehen? Vielleicht ist da ja was versteckt«, schlug Jacqueline vor.
Lipaire, der nach wenigen Schlägen mit der Hacke bemerkte, dass er den anstrengendsten Part innehatte, winkte ab. Er durfte sich nicht zu sehr verausgaben, irgendjemand musste ja einen kühlen Kopf und damit den Überblick behalten. »Vielleicht mach ich das lieber, ich habe mir extra meine Stirnlampe mitgebracht, mit der kann ich den Stein gut ableuchten.«
»Du kannst mir die Lampe auch einfach geben.«
»Ach, die ist jetzt schon auf meinen Kopfumfang eingestellt. Hier, nimm die Hacke, und ich kümmere mich um den Stein.«
»Louiiiis, hörst du auf zu graben! Du machst dich doch ganz staubig«, rief von einer anderen Ecke aus Lizzy Schindler. Der Hund hatte, nachdem er alles akribisch mit seinen Markierungen versehen hatte, wie ein Wilder zu buddeln begonnen.
Mit einem Schulterzucken schnappte sich Jacqueline den Pickel, während Lipaire sich nunmehr dem Stein widmete. Es handelte sich um einen vielleicht drei Meter breiten Felsbrocken, gut einen Meter hoch. Außer einigen eingeritzten Initialen und Herzchen war er völlig naturbelassen. Zumindest konnte man im Schein der Stirnlampe nichts weiter erkennen. Wenn Roudeau seinen Schatz unter diesem Findling begraben hatte, würden Quenots windige Gartenwerkzeuge niemals ausreichen, ihn zu bergen. Man bräuchte dann mindestens einen Bagger, Kran oder tatsächlich ein paar Stangen vom Dynamit des Belgiers.
Der vermeldete gerade, dass er eine seltene Blumenart gefunden habe, die hier angepflanzt worden sei, doch von der Mehrheit der Anwesenden wurde beschlossen, dies nicht als Hinweis zu werten.
Wohl oder übel würde nun also auch Lipaire wieder mit dem Graben beginnen müssen.
»Ich hab was!«, rief Delphine, als er eben nach der Schaufel greifen wollte. Sie richtete sich auf und hielt einen ehemals weißen, völlig zerschlissenen Tennisschuh in den Lichtkegel von Guillaumes Lampe. Auf der Seite war schemenhaft ein eingesticktes Krokodil zu erkennen. »Ein Lacoste-Schuh, meint ihr, das bedeutet irgendwas?«
Jacqueline schwang sich die Hacke lässig über die Schulter und kam näher. »Was denn zum Beispiel?«
»Na ja, bei einem Tennismatch wird ihn hier drauf wohl kaum jemand verloren haben, oder?«, gab Delphine zurück. »Vielleicht soll uns die Richtung, in die das Krokodil guckt, irgendwas sagen«, mutmaßte sie weiter.
Auch wenn Lipaire das nicht gerade für wahrscheinlich hielt, fragte er: »Welche Richtung ist es denn?«
Delphine lächelte verlegen. »Keine Ahnung, jetzt ist er ja schon ausgegraben.«
Paul hantierte derweil noch immer wie ein Besessener mit seinem Spaten. Er schien die Welt um sich herum gar nicht mehr wahrzunehmen.
»Und wenn das Krokodil an sich uns irgendetwas sagen soll?«, meldete sich Lizzy Schindler zu Wort.
»Könnte auch sein. Nur was?« Delphine schien ratlos.
Da keinem der anwesenden Schatzgräber eine plausible Erklärung einfiel, widmeten sich alle wieder ihren schweißtreibenden Tätigkeiten, die bei der Seniorin aus Österreich darin bestanden, ihren Pudel davon abzuhalten, sich von oben bis unten einzustauben. »Louiiiiiis, jetzt lass das doch endlich, sonst müssen wir zum Hundefriseur, um dich …«
»Pscht!« Lipaire hob die Hand, und die alte Dame verstummte.
Auch die anderen lauschten in die Dunkelheit.
»Der Hund?«, flüsterte Jacqueline.
Lipaire nickte. Das scharrende Geräusch, das Louis beim Buddeln verursachte, war einem Kratzen gewichen. Der Pudel war auf etwas gestoßen, und dieses Etwas klang groß und hohl. Wie eine Schatztruhe oder eine Geldkassette! Sie verjagten den Hund, und tatsächlich: Da war etwas! Mit vereinten Kräften befreiten sie den Fund von der Erde drum herum, bevor ihn Delphine feierlich aus dem Loch hob. Es handelte sich um eine blecherne Truhe, einen knappen halben Meter lang, mit einem Bronzerelief auf dem Deckel. Lipaire leuchtete darauf und sah ein Abbild von Port Grimaud in der Draufsicht. Er erschauderte. Hatten sie endlich gefunden, wonach sie suchten?
»Los, mach schon auf, Delphine!«, rief Jacqueline aufgeregt.
»Moment.« Quenot riss die Truhe an sich. »Wir müssen uns erst schwören, dass wir alles, was drin ist, brüderlich teilen.«
»Und schwesterlich«, fügte Delphine an.
»Und schwesterlich. Genau. Also, lasst uns schwören!«
»Wir sind hier doch nicht im Kindergarten. Dass wir danach teilen, ist völlig klar«, brummte Lipaire. »Jetzt lasst uns endlich nachsehen, was uns der Architekt hinterlassen hat!«
»Aber wir teilen. Geschwisterlich«, beharrte Quenot.
Delphine nickte, schnappte sich die Truhe wieder und hob den Deckel an. Die Scharniere knarzten schrill, dann stand das Behältnis offen. Gebannt starrten sie hinein, nicht fähig, auch nur einen Atemzug zu machen.
Die Enttäuschung, die sich jedoch schon wenige Augenblicke danach breitmachte, hätte größer kaum sein können. Es war fast ausschließlich wertloser Tand, den sie vorfanden: ein halbes Päckchen Gauloises mit einer Steuerbanderole von 1966, dem Gründungsjahr Port Grimauds, einige Mosaiksteinchen, wie man sie an mehreren Stellen der Stadt im Boden fand, ein paar kleine, sicher längst vertrocknete Farbdöschen, ein Zirkel, ein Aluminiumlineal und ein Tütchen Navettes , traditionelle Kekse aus der Provence, die schon frisch bisweilen so hart und trocken waren, dass man Angst haben musste, sich die Zähne daran auszubeißen. Dazu ein paar Bleistifte, ein bröckeliger Radiergummi, etwas Segeltuch und ein getöpferter, blau-grüner Fisch, Markenzeichen und Wappentier ihres maritimen Städtchens. Die Schale einer Muschel vervollständigte das traurige Bild.
»Also, dann teilen wir mal«, sagte Jacqueline augenzwinkernd. »Ich nehm die Gauloises für maman mit nach Hause, Delphine bekommt die Kekse für die Kinder, und Paul, du kannst das Lineal sicher für irgendeine Gartenplanung brauchen.«
»Das ist bestimmt wieder eines dieser gottverdammten Rätsel von Roudeau, oder?«, mutmaßte Delphine.
Lipaire nickte. Sie waren durch die Inschrift an der Wand der Architektenvilla zwar nicht auf den erhofften Schatz, aber immerhin auf einen weiteren Hinweis gestoßen. Wie bei einer großen Schnitzeljagd. »Jacqueline, wirst du schlau aus den Sachen? Kannst du daraus einen neuen Hinweis entschlüsseln?«
Die junge Frau sog die Luft ein. »Könnten wir das erst mal alles zusammenpacken und mitnehmen? Ein wenig Bedenkzeit und mehr Licht wären nicht schlecht. Und verlasst euch bitte nicht zu sehr auf mich, ich bin schließlich keine Dechiffriermaschine.«
»Aber ein ziemlich cleveres Mädchen, das muss man dir lassen«, lobte Lizzy Schindler. »Genauso g’scheit wie mein Louis, schließlich hat er als Einziger an der richtigen Stelle gegraben. Hab’s doch immer gewusst! Kriegst daheim was Feines, gell, mein kleiner Prinz.« Dabei streichelte sie dem Pudel über den struppigen, eingestaubten Kopf.
»Alles klar, ihr habt Jacqueline gehört: Wir packen die Kiste wieder ein, räumen unser Werkzeug zusammen und schauen zu, dass wir Land gewinnen«, ordnete Lipaire an.
»Moment«, wandte Quenot ein, »ich bin für einen geordneten Rückzug. Wir haben die Natur durcheinandergebracht, also müssen wir sie wieder in den Ursprungszustand versetzen.«
»Ach ja? Ich führe meinen Lacoste-Schuh also wieder seiner natürlichen Bestimmung zu?«, merkte Delphine spitz an.
»Ich sehe das wie Paul«, pflichtete Jacqueline dem Belgier bei. »Sieht ja fast aus, als hätten wir hier ein Grab ausgehoben.«
Lipaire horchte auf. »Jacqueline, du bist sogar ein richtig schlaues Mädchen. Sagt mal: Was wäre denn, wenn wir es tatsächlich als letzte Ruhestätte nutzen?« Erwartungsvoll blickte er die anderen an. Doch die schienen nicht zu verstehen. »Na, wir haben mit Barral immer noch einen Toten rumliegen, der auf seinen endgültigen Bestimmungsort wartet!«
»Drück dich halt nicht immer so geschwollen aus«, meckerte Delphine.
»Zumindest kann er hier in Frieden ruhen, an diesem besonderen Fleckchen Erde wird auch in den nächsten Jahren nicht allzu viel verändert werden.« Je mehr er darüber nachdachte, desto genialer fand Guillaume diese Lösung. Schon eine Weile hatte er überlegt, wie sie diesbezüglich weiter vorgehen sollten, denn die Sache mit dem Sarkophag in der Kirche hatte eine Schwachstelle: Roudeaus Geburtstag stand bevor, bei dem jedes Jahr in einer feierlichen Zeremonie der Sarkophag geöffnet wurde, um frische Blumen, Sand und etwas Salzwasser als Grabbeigaben zu erneuern. Dabei würde Barrals Anwesenheit natürlich für allerlei Unbill und ganz und gar unnötige Verwicklungen sorgen. »Also los, wir sollten keine Zeit mehr verlieren. Das würde allerdings heißen, dass wir ihn mangels anderer Beförderungsmöglichkeiten mit dem Tretboot hierherbringen müssten.«
»Eh schön, die Fahrt ins Jenseits in einem Schwan anzutreten«, fand Lizzy Schindler. »So hätte es sich König Ludwig seinerzeit bestimmt auch gewünscht.«
»Über den Styx zum Hades auf einem Schwane gleitend … Warum nicht?«, sagte Lipaire mehr zu sich selbst als zu den anderen. »Auch wenn es nur ein Plastikschwan ist: Es gibt Schlimmeres!«
So traten sie wenig später mit ihren drei speziellen Wasserfahrzeugen die kurze Fahrt zur Kirche François d’Assise an. Die Stadt lag friedlich und ruhig da. Doch plötzlich durchbrach das Knattern eines Außenborders die Stille. Es kam näher.
»Los, schnell, alle hier in die Lücke, und dann kein Wort mehr.« Lipaire lenkte den Schwan in einer scharfen Rechtskurve zwischen zwei Segeljachten von gut und gern fünfzehn Metern Länge. Sie hielten sich an den Fendern und Leinen fest und duckten sich in den Schatten der Schiffe, doch der Schwan war und blieb nun mal ein Schwan. Sie würden mit Sicherheit ein seltsames Bild abgeben, wenn man sie entdeckte.
Dann glitt ein langes Schlauchboot an ihnen vorbei. Gebannt folgten sie ihm mit ihren Blicken. Am Steuer konnte Guillaume eine Gestalt erkennen, die komplett in Schwarz gekleidet war. Ihr Kopf wurde von einer ausladenden Kapuze verdeckt.
»Wenn ihr mich fragt, hat der Typ selber keine Lust, von irgendjemandem gesehen zu werden«, flüsterte Delphine.
»Soll ich ihn mir kaufen?«, fragte Quenot.
»Klar, willst du ihm mit deinem Brett hinterherpaddeln und dann die nicht vorhandenen Lichter auspusten?«, zischte Lipaire. »Oder sollen wir dir den Schwan leihen?«
»War nur ein Angebot. Muss ja keiner annehmen.«
Die weitere Fahrt zur Kirche verlief störungsfrei. Am Kai verabschiedeten sich Lizzy und Jacqueline – der Umgang mit Toten, noch dazu im Zustand, in dem sich Barral nach so vielen Tagen wahrscheinlich befand, sei nichts für ihre empfindsamen Gemüter. Lipaire war das nur recht: Die Verbliebenen würden reichen, ihre Fracht zur Île Verte zu bringen. Auf Quenots Muskelkraft wollte er allerdings nicht verzichten, auch wenn er ihm ansah, dass er lieber den beiden Frauen gefolgt wäre.
In der Kirche sprach keiner ein Wort. Sie sahen dem Belgier dabei zu, wie er den Deckel des Sarkophags aufhebelte, die schwere Platte beiseiteschob – und regungslos davor verharrte. Dass ausgerechnet der Ex-Soldat solche Probleme mit Toten hatte, machte ihre Arbeit nicht gerade leichter. Lipaire trat neben ihn und wollte gerade etwas sagen, da erstarrte auch er. Schließlich gesellte sich Delphine zu ihnen, und alle drei blickten fassungslos in den Steinsarg. Er war leer.