»Ist das nicht schön? Wir sind eine so wunderbare Familie. Ein Herz und eine Seele.« Die Worte von Chevalier Vicomte durchbrachen die Stille, die seit geraumer Zeit am Frühstückstisch herrschte.
Seine Stimme war fest, die Augen klar, wie Marie zufrieden feststellte. Sie freute sich für ihren Vater, aber ganz offensichtlich war sie die Einzige. Die anderen saßen mit griesgrämigen Gesichtern über ihre Kaffeetassen gebeugt und schlangen Croissants oder Baguettes in sich hinein, als könnten sie es kaum erwarten, dass diese Farce ein schnelles Ende fand. Doch Chevalier bemerkte das entweder nicht, oder er blendete es erfolgreich aus. Seit sein Lieblingsenkel Clément gestern Abend gekommen war, befand sich der alte Herr ohnehin im familiären Glückstaumel. Und Marie hatte nicht vor, diesen Zustand zu zerstören, zumal auch sie sich über die Anwesenheit ihrer beiden Kinder freute. Selbst unter diesen Umständen.
Ein lautes Schlürfen riss sie aus ihren Gedanken. Ihr Vater schob sich gerade einen Löffel des Breis in den Mund, auf den er zum Frühstück bestand: ein komplettes Croissant, in kleine Stücke zerrissen und aufgelöst in einem großen bol mit café au lait. »Mmmmh«, brummte er zufrieden, während ihm kleine Bröckchen aus dem Mund wieder zurück in die Schüssel fielen, woraufhin Yves theatralisch die Zunge herausstreckte und tat, als müsse er sich übergeben. »Das schmeckt und ist gesund«, jubilierte Chevalier, wobei kleine Spritzer der grauweißen Masse in alle Richtungen flogen. »Da wird man hundert Jahre alt.«
Henri verschluckte sich an seinem Kaffee und raunte ein »Wollen wir mal nicht den Teufel an die Wand malen«.
Marie störte das heute nicht weiter, sie war selig, dass ihr Vater so munter am Tisch saß, wo sie doch vorgestern schon befürchtet hatte, sie hätten ihn für immer verloren. Kaum hatte er den letzten Rest hinuntergeschluckt, sprangen die anderen auf, erleichtert, dass das vom Familienoberhaupt verordnete Zwangsfrühstück endlich zu Ende war.
Isabelle schnappte sich sofort ihr Mobiltelefon und versank in den unendlichen Weiten der sozialen Medien, Clément schrieb mit versonnenem Lächeln eine SMS, und Yves vertiefte sich in den Katalog mit den Privatinseln. Nur Henri schien nicht recht zufrieden. »Kommt jemand mit nach draußen, frische Luft schnappen? Einen kleinen Vitamin-D-Booster? Täte Papa sicher auch gut.«
»Seit wann bist du so besorgt um unsere Gesundheit?«, fragte Marie.
»Dieses Familiending beflügelt mich eben. Wie sieht es aus, machen wir einen kleinen Törn mit der Jacht, Isabelle?«
Das Mädchen sah kurz auf, vertiefte sich dann aber wieder in ihr Smartphone, ohne ihrem Onkel zu antworten.
»Na, dann eben nicht.«
Clément legte sein Handy weg, stand auf und klopfte seinem Onkel auf die Schulter. »Weißt du, was, Henri? Das mit der frischen Luft ist gar keine schlechte Idee. Man kann nie genug für seine Gesundheit tun. Hast du eine Zigarette für mich?«
Der Schriftsteller grinste und reichte ihm seine Packung Marlboro.
Sein Neffe zog die Stirn kraus. »Keine Gauloises ? Oder wenigstens Gitanes ?«
»Schon mal gelesen, was da alles Schädliches drin ist?«, erwiderte Henri lachend, während Clément auf die Terrasse trat.
Marie verkniff sich einen Kommentar. Seufzend setzte sie sich zu ihrem Vater und wischte ihm den Mund ab, da kam Clément bereits wieder herein. Sein Gesicht war starr und blass.
»Was ist los, sind dir Henris Zigaretten zu stark?«, fragte Yves.
»Da … liegt einer«, presste Clément hervor.
Yves grinste. »Seit wann stört es dich denn, wenn ein Typ vor dir liegt?«
»Er sieht aus wie … tot.«
Alle sprangen auf und liefen zur Terrassentür.
»Was ist los? Gehen wir endlich zum Strand?«, fragte Chevalier vom Tisch aus, doch niemand beachtete ihn. Stattdessen starrten sie gebannt auf den Anlegesteg, auf dem tatsächlich ein Mensch zu liegen schien.
»Oh, mein Gott«, entfuhr es Marie. Sie spürte, wie ihre Knie nachgaben.
Clément war sofort bei ihr und legte den Arm um sie. »Geht’s, maman ?«
»Ich glaube schon …« Sie wand sich aus der Umarmung ihres Sohnes, öffnete die Tür und ging nach draußen. Nach ein paar Schritten blieb sie mit weit aufgerissenen Augen stehen.
Die anderen sahen ihr von drinnen hinterher. »Was ist denn?«, rief Isabelle. »Siehst du irgendwas?«
Marie drehte sich um. »Das ist Barral.«
»Barral? Bist du sicher?«
»Überzeugt euch doch selbst.«
Vorsichtig, als sei der Boden an diesem Morgen besonders rutschig, kamen sie einer nach dem anderen aus dem Haus und gingen zum Steg.
Nach einer endlos scheinenden Zeit presste Henri hervor: »Merde.«
»Mein Gott, ich habe noch nie eine echte Leiche gesehen.« Isabelle schien den Tränen nahe, wandte aber den Blick dennoch nicht ab.
»Und was machen wir jetzt?«, fragte Yves.
»Wir rufen die Polizei, was sonst?«, antwortete Clément.
»Bist du irre? Hast du vergessen, was deine Mutter dir gestern erzählt hat?«, fuhr Yves ihn an.
Henri nickte. »Wir wollten uns hier im Geheimen mit ihm treffen, wenn das rauskommt, was meinst du, wo sie als Erstes anfangen nachzuforschen? Wie sieht denn das aus, wenn bei uns die police judiciaire rumschnüffelt?«
Marie holte tief Luft. »Das muss eine weitere Warnung des Erpressers sein. Vielleicht bekommen wir bald auch noch den nächsten Brief. Die Leiche muss jedenfalls schnellstens hier weg. Bevor ihn jemand sieht.« Ihr Blick ging zum Grundstück nebenan. Zwar lag der Mann so, dass er von dort eigentlich nicht entdeckt werden konnte, aber sie wusste um die Neugier ihres holländischen Nachbarn.
»Bringen wir ihn erst mal ins Haus«, schlug Clément vor. »Dann überlegen wir weiter. Vielleicht finden wir bei ihm ja sogar neue Forderungen des Erpressers. In der Tasche oder …«
»Auf keinen Fall«, kreischte Isabelle, und Yves stimmte ihr zu: »Das ist noch ekliger, als wenn Opa frühstückt. Ich krieg hier drin sonst nie mehr einen Bissen runter!«
»Henri, was meinst du?« Marie wandte sich an ihren Halbbruder. Auch wenn sein Umgang mit Mord und Totschlag lediglich literarischer Natur war, so verfügte er doch über das größte theoretische Wissen, was solche Situationen anging.
»Lass mich nachdenken.« Dann untersuchte Henri, wie Yves es vorgeschlagen hatte, die Taschen des Toten. »Nichts«, konstatierte er. »Wir müssen ihn irgendwie abdecken … der Teppich unter dem Esstisch.«
Marie riss die Augen auf. »Der Perser?«
»Hast du eine bessere Idee?«
Fünf Minuten später hatten Yves, Clément und Henri Barrals sterbliche Überreste in den Teppich eingerollt. »Gut gemacht, Clément«, sagte Yves keuchend. »Du weißt eben, wie man Männer einwickelt.«
»Du bist wirklich ekelhaft.«
»Das Kompliment kann ich nur zurückgeben, lieber Cousin.«
»Wir sind noch nicht fertig«, ermahnte sie Henri und zeigte auf die Teppichrolle, an deren Ende Barrals Füße von den Knöcheln abwärts herausschauten. »Holt mal jemand was zum Zudecken?«
Clément stand auf und kam kurz darauf mit einer karierten Decke zurück.
»Das ist die von papi «, entfuhr es Isabelle entsetzt.
»Ist doch eh so warm. Und ich glaube, er hier braucht sie dringender«, kommentierte ihr Bruder. »Ich hab unserem alten Herrn gesagt, dass wir spontanen Besuch bekommen haben, dem etwas kalt ist.«
Nachdem sie auch den Rest des Toten eingewickelt hatten, trugen sie ihre schwere Fracht zum Haus.
»Na, dekorieren Sie um?«
Die Männer blieben wie erstarrt stehen, als sie die Stimme ihres Nachbarn vernahmen. Jarno van Dijk besaß wirklich das Talent, immer im falschen Moment zur Stelle zu sein. Er hatte die Zweige der Hecke ein wenig zur Seite gebogen und starrte aus seinem teigigen Gesicht zu ihnen herüber.
Henri fing sich als Erster. »Ja, muss manchmal sein.«
»Wäre bei mir vielleicht auch mal wieder nötig. Auch wenn ich nicht über so schwere Teppiche verfüge.«
»Qualität hat nun mal ein ganz schönes Gewicht. Also los, ihr zwei«, trieb Henri seine Neffen an. Die lächelten gequält und gingen weiter.
»Wenn ich helfen kann … Sie brauchen nur was zu sagen.«
»Ja, können Sie«, mischte sich Marie ein.
»Gern. Wie denn?«
»Indem Sie uns jetzt einfach in Ruhe machen lassen.«
Beleidigt verschwand das Gesicht des Holländers wieder hinter der Hecke.
»Wohin jetzt mit ihm?«, fragte Yves, als sie auf der Terrasse standen.
Marie schaute sich um. Auch sie wollte den Toten keinesfalls im Haus haben. »Dorthin.« Sie deutete auf einen kleinen Spalt zwischen Hecke und Haus.
Als sie ihn abgelegt hatten, standen sie mit gesenkten Köpfen und verschränkten Händen vor dem Bündel und blickten darauf wie bei einer Beerdigung. »Und jetzt?«, fragte Yves schließlich.
»Also, ich hätte da jemanden, der sich der Sache annehmen könnte.« Henri blickte in die Runde. Er schien darauf zu warten, dass er den Auftrag zur Kontaktaufnahme erteilt bekam.
»Ich kenne notfalls auch jemanden«, sagte Clément.
»Du?« Isabelle schien erstaunt.
»Ja, ich. Ich bin viel … unterwegs. Aber wenn Onkel Henri gute Verbindungen hat, nutzen wir vielleicht besser die.«
»Nein, ist schon in Ordnung, ich muss mich nicht immer um alles kümmern.«
Da mischte sich Marie ein. »Ich werde das übernehmen.«
Wieder trat eine gespannte Stille ein.
»Das Pärchen, das neulich da war …«
»Diese Speichellecker?«
»Ja, Yves, genau die. Aber ich meine eher die Gruppe, der sie angehören. Da gibt es einen Bestatter. Der kann ihn unbemerkt zu jemandem in den Sarg legen, dann sind wir diese Sorge für immer los.«
Henri pfiff durch die Zähne. »Schwesterchen, vielleicht solltest du mich in Zukunft beim Entwickeln meiner Plots beraten.«
»Spar dir deinen Sarkasmus. Das ist keines deiner Geschichtchen, das ist die Realität. Ich werde alles Nötige veranlassen. Und nun lasst uns wieder reingehen. Wir haben Wichtiges zu besprechen.«
»Was ist denn jetzt noch?«
Isabelle klang, als brauche sie eine Pause, aber darauf konnte Marie keine Rücksicht nehmen. »Wir haben einen Toten, aber noch immer keine konkreten Forderungen von dem, der ihn hier abgelegt hat. Was hat das alles zu bedeuten?«
»Stimmt«, pflichtete Isabelle ihr bei. »Was will er uns damit sagen?«
»Auf jeden Fall will er uns warnen, das ist schon mal klar«, konstatierte Marie. »Ein Toter vor der Tür, das ist ein eindeutiges Zeichen, dass jemand es verdammt ernst meint.«
Nachdenklich nickend folgten sie ihr ins Haus.
»Wer erpresst uns?«
»Na, unsere nächtlichen Besucher, würde ich meinen, oder?«, mutmaßte Yves.
»Es muss auf jeden Fall jemand gewesen sein, der wusste …« Marie blieb so abrupt stehen, dass ihre Kinder gegen ihren Rücken prallten. Erst dann sahen sie, weshalb ihre Mutter so unvermittelt stehen geblieben war: Neben Chevalier Vicomte saß ein Mann am Tisch.