Guillaume Lipaire seufzte, als er an diesem Morgen Delphines Handyladen betrat. Wo war nur dieser verdammte Barral abgeblieben? Er konnte sich das nicht erklären. Erst war er so anhänglich, dass man ihn nicht losbekam, und nun verschwand er auf einmal spurlos.
Mit einem Kopfnicken grüßte er in die Runde, die sich in dem engen Geschäft zusammengedrängt hatte. Delphine stand hinter ihrem Tresen, allerdings anders als normalerweise mit dem Rücken zum Eingang, Quenot saß mit Lizzy Schindler an dem winzigen Tischchen, an dem Delphines Töchter bei ihrem letzten Besuch ihre Hausaufgaben gemacht hatten, und Jacqueline Venturino hatte es sich auf dem Boden bequem gemacht, den Rücken an die Wand gelehnt. Dass alle schon da waren, wunderte ihn ein wenig, normalerweise war er es ja, der sie zur Pünktlichkeit anhalten musste.
»Wir sollten allmählich anfangen mit unserer Besprechung«, mahnte die Ladenbesitzerin. »Erstens muss ich bald aufsperren, es ist ja gleich zehn, zweitens haben die Mädchen heute keine Schule. Sie sind zwar gerade in der Stadt unterwegs, aber wenn die jetzt auch noch reinschneien, wird’s richtig kuschelig. Und laut.«
»Gut«, sagte Guillaume, der sich in Ermangelung einer weiteren freien Sitzgelegenheit gegen den Tresen lehnte, »ich habe lange wach gelegen und bin zur Überzeugung gekommen, dass Barral erst gestern Abend aus der Kirche weggeschafft worden sein kann. Und es würde mich doch sehr wundern, wenn das Schlauchboot mit dem schwarz gekleideten Fantômas nichts damit zu tun hätte.«
»Ja, stimmt, der sah echt aus wie in dem Film«, pflichtete ihm Jacqueline bei. »Bloß wer könnte das gewesen sein?«
Paul Quenot räusperte sich. »Einer muss es ja aussprechen: Petitbon. Er war gestern nicht dabei, weil er eine heikle Fahrt hatte. Der Fall ist eindeutig. Wir sollten ihn …«
»Karim? Das glaubst du doch selbst nicht«, warf Jacqueline ein. »Er ist gar nicht der Typ dafür.«
Lipaire nickte. Karim war ein feiner Kerl, auf den man sich, da hätte er vor ein paar Tagen noch jeden Eid geschworen, unter allen Umständen verlassen konnte. Jedenfalls unter all jenen Umständen, in denen sie bisher miteinander zu tun gehabt hatten. Er kannte ihn seit Jahren, in denen er ihm ein väterlicher Freund geworden war, ihm viele seiner Lebensweisheiten offenbart hatte. Dieser Karim Petitbon sollte nun auf einmal ihn und all die anderen, einschließlich Jacky, die er anschmachtete wie ein Teenager, eiskalt hintergangen haben? Sollte der Junge eine Erpressung der überaus einflussreichen Familie Vicomte geplant und durchgezogen und obendrein in einer nächtlichen Aktion eine Leiche verschleppt haben? Er wollte das einfach nicht glauben. Und doch, wenn man eins und eins zusammenzählte …
»Wenn man eins und eins zusammenzählt«, nahm Delphine seinen Gedanken auf, »kann man aber fast zu keinem anderen Schluss kommen, als dass Karim den Scheiß gebaut hat. Schließlich wusste er als Einziger, wo die Leiche lag. Wenn er das mit der Erpressung war, dann hat er vielleicht schon das Geld bekommen. Und hat den Vicomtes deshalb gestern den toten Barral geliefert, damit sie ihn entsorgen können und ihnen in der Beziehung niemand mehr was anhängen kann.«
»Oder er hat ihn erst noch irgendwo anders versteckt und wartet drauf, dass sie bezahlen«, ergänzte Paul.
Lipaire hörte ihnen zu. Er musste eingestehen, dass ihre Überlegungen plausibel klangen – und hatte trotzdem keine Lust, das alles zu glauben. Es machte ihn traurig. Traurig, mal wieder als Vorbild für einen jungen Menschen versagt zu haben. Hatte er das zu verantworten? War auch ihm letzten Endes Geld wichtiger als Werte wie Freundschaft und Vertrauen?
Quenot fuhr fort: »Er träumt von einer Jacht – und auf einmal war die Gelegenheit da, ans große Geld zu kommen. Da hat er zugeschlagen.«
Er hat außerdem das Handy von Barral heimlich an sich genommen und hat den ersten Tipp zu dessen Boot auf sein Telefon bekommen , setzte Lipaire in Gedanken dazu. Ob er mit diesem ominösen Phantom hinter seinem Rücken gemeinsame Sache machte? Ihnen womöglich einen weiteren Hinweis verschwiegen hatte?
Die Ladenklingel ertönte, und der Junge erschien fröhlich pfeifend in der Tür. Zumindest das mit dem Jachtkauf konnte man also für den Moment ausschließen.
»Bonjour , da seid ihr ja. Habt ihr vergessen, mir Bescheid zu geben? Na, egal, jetzt bin ich ja da. Tag, Jacky, alles klar bei dir?«
Jacqueline Venturino lächelte gequält, niemand von den anderen antwortete ihm.
»Hey, was ist euch denn für ’ne Laus über die Leber gelaufen?« Petitbon hatte noch immer ein Lächeln im Gesicht.
»Die Laus auf der Leber wäre nicht das Problem, eher die im Pelz«, versuchte sich Quenot an einem für seine Verhältnisse erstaunlich ausgefeilten Wortspiel.
»Woher wusstest du überhaupt, dass wir hier sind?«, fragte Lipaire ihn in bemüht sachlichem Ton.
»Ich hab’s mir eben zusammengereimt.«
»Aha. Weil wir hier den meisten Platz haben, oder wie?«
Karim sah ihn irritiert an. »Gibt’s irgendein Problem, oder was?«
Guillaume setzte in kühlem Ton sein kleines Verhör fort: »Wie war deine Fahrt gestern Abend?«
»Hat alles gut geklappt. Ich hab ja gesagt, heikle Sache, aber niemand hat mich und meinen Fahrgast bemerkt. Aber ich kann echt nicht mehr darüber sagen, ihr versteht. Und ihr so?«
Lipaire zog die Brauen hoch. Er wusste, dass die anderen dasselbe dachten wie er: Karim machte sich immer verdächtiger.
»Und wir so?«, nahm Quenot seine Frage auf. Man merkte, wie angespannt er war.
»Ja, warum habt ihr mir denn nix vom heutigen Treffen gesagt?«
»Hast uns ja auch so gefunden«, gab Jacqueline kurz angebunden zurück.
»Wie lief’s gestern auf der Île Verte ? Mann, jetzt lasst euch doch nicht alles aus der Nase ziehen! Wie geht’s weiter, was habt ihr gefunden?«
»Vielleicht solltest du besser fragen, was wir nicht gefunden haben, Kleiner!«, blaffte Delphine ihn an. »Aber das weißt du ja eh, weil du die Leiche kurz vorher aus dem Sarkophag geholt hast, um die Vicomtes zu erpressen. Für wie blöd hältst du uns eigentlich?«
Nun war es also ausgesprochen. Lipaire merkte, wie ihm die Tränen in die Augen stiegen. Er versuchte jedoch krampfhaft, seine Emotionen im Zaum zu halten. Hatte er es wirklich nicht geschafft, dem Jungen ein paar mehr Werte zu vermitteln? Sicher, was er machte, war nicht immer ganz legal, schadete aber auch niemandem. Eine Erpressung allerdings …
Karim blickte einen nach dem anderen an. Guillaume sah, dass auch die Augen des Jungen feucht wurden. »Seid ihr völlig bescheuert?«, zischte er schließlich. »Nur weil ich gestern zum ersten Mal keine Zeit hatte, bin ich jetzt der Schwerverbrecher? Und was soll das Gelaber vom Sarkophag und der Leiche?«
»Sollen wir dir jetzt deinen eigenen Coup vorbeten, oder wie? Wenn du uns das Ding hier vermasselst, dann zieh dich warm an!« Quenot schlug die Beine übereinander, wobei seine Hose nach oben rutschte und den Blick auf sein Kampfmesser freigab. Guillaume wusste nicht, ob das Absicht gewesen war, aber er war froh, dass der Belgier an seiner Stelle den Part des Anklägers übernahm.
Der Junge hingegen rang sichtlich um Fassung. »Ihr lasst ihm das einfach so durchgehen? Jacky? Madame Lizzy?«
Die Frauen schwiegen.
Mit bebender Stimme wandte er sich an Guillaume. »Kannst du vielleicht auch mal was dazu sagen?«
Lipaire hatte befürchtet, dass es dazu kommen würde. »So leid es mir tut, aber du hast die anderen ja gehört«, murmelte er.
Karim schnaubte. »Eben. Aber du? Traust du mir das auch zu?«
Lipaire zuckte nur mit den Schultern und vermied den direkten Blickkontakt.
»Okay, dann kann ich ja gehen. Habt ihr euch ausgerechnet, dass es billiger kommt, mich einfach rauszukicken, oder wie?« Damit machte er auf dem Absatz kehrt, rannte aus dem Laden und stieß beinahe mit Delphines Töchtern zusammen.
»Mes puces , wollt ihr euch einfach ein bisschen Geld aus der Schublade nehmen und euch noch ein schönes Eis holen? Wir sind gerade mitten in einer Besprechung«, sagte die lächelnd zu den Kindern.
»Na gut, aber dann muss schon eine Crêpe oder eine Galette bei Sandrine drin sein, okay? Und dazu für jede von uns ein Diabolo Menthe «, protestierte die Ältere der beiden, worauf ihre Mutter seufzend nickte.
Als die Mädchen wieder draußen waren, bemerkte Lizzy Schindler: »Hat ihn ganz schön getroffen, das Ganze, wie?«
Quenot winkte ab. »Ach was. Man kann einfach niemandem trauen. Das war das Erste, was ich bei der Legion gelernt habe.«
»Er hat sogar richtig feuchte Augen bekommen«, murmelte Jacqueline.
Lipaire wusste selbst nicht mehr, was er glauben sollte und was nicht. Noch dazu, weil sie gerade etwas ganz anderes zu tun hatten: Sie mussten den Inhalt der vermaledeiten Kiste entschlüsseln – und außerdem überlegen, welche Konsequenzen das Verschwinden der Leiche für sie haben würde.
»Sagt mal, eigentlich ist es doch gar nicht so schlecht, wenn der Tote weg ist, oder? Haben wir schon nix mehr zu schaffen mit ihm«, schien Delphine schon wieder seine Gedanken zu erraten.
»Stimmt«, kommentierte er. »Damit haben wir ein Problem weniger.«
»Höchste Zeit also, uns der Kassette zu widmen, die mein treuer Louis gestern durch Einsatz seines untrüglichen Instinkts und seiner einmaligen Spürnase aufgefunden hat«, fand Lizzy Schindler.
Alle nickten, und Delphine bückte sich ächzend, zog eine Schublade an ihrem Ladentisch auf, holte die Metallkiste heraus und stellte sie vor sich auf die Theke. Der Deckel war noch etwas staubig, aber Delphine musste ihn bereits vom gröbsten Schmutz befreit haben. Die Schatulle an sich war aus dickem Blech, der Deckel mit der Draufsicht auf die Lagunenstadt jedoch schien tatsächlich aus Bronze gegossen. Er war ziemlich schwer, wie Lipaire schon gestern aufgefallen war. Ein schönes Erinnerungsstück, für das er im Geiste bereits ein Plätzchen in jenem Haus reserviert hatte, das er sich hoffentlich bald würde kaufen können. Doch dafür galt es erst, Roudeaus Rätsel zu lösen.
»Ich geh mal pissen«, vermeldete Quenot, was ihm verwunderte Blicke der Frauen und ein Kopfschütteln von Lipaire einbrachte. Was für ein ungehobelter Klotz er doch war.
Inzwischen machte sich Delphine daran, den Inhalt der Truhe vor sich auszubreiten – die Mosaiksteinchen, die Kekse, die kleinen Farbdöschen, die Gauloises , Zirkel, Lineal, die Muschel, die Stifte nebst Radiergummi sowie das Segeltuch und den rundlichen Fisch aus Ton.
Lipaire konnte sich keinen rechten Reim auf dieses Sammelsurium machen. Eigentlich sah das Ganze nach einer Art Zeitkapsel aus, wie man sie oft in den Grundstein großer Gebäude packte: Zeugen des Entstehungsjahrs. Doch hier musste mehr dahinterstecken. Roudeau wollte dem Finder damit etwas sagen, Hinweise auf den Schatz geben, den es zu heben galt.
Schon öfter hatte er sich den Kopf darüber zerbrochen, was das wohl für ein Schatz sein mochte, dass auch die Vicomtes so vehement hinter ihm her waren: Handelte es sich um wertvollen Familienschmuck, der dem Architekten irgendwie in die Hände gefallen war? Oder um eine Kiste voller antiker Goldmünzen, die Roudeau beim Bau der Lagunenstadt gefunden hatte? Noch tappten sie im Dunkeln.
»Also, die Muschel sieht aus wie die am Haus, ihr wisst schon, vor der Brücke«, sagte Lizzy mit Blick auf den Inhalt der Schatulle.
»Na ja, und den Fisch gibt es beinahe überall«, fügte Jacqueline an. »Auf den Hausnummern, den Brunnen, den Flaggen und so.«
»Wenn mich nicht alles täuscht, sind das Farbmuster der Häuser oder der Fensterläden«, fuhr Lipaire fort. »Vielleicht deuten sie ja in der Kombination auf einen bestimmten Straßenzug, was meint ihr?«
Die anderen nickten.
»Also müssen wir das Ganze wohl verstehen wie eine … Rätselkiste?«
»Klar, fast wie eines von den Escape-Spielen, die haben auch immer irgendwelche Gimmicks in der Box. Da war Roudeau seiner Zeit aber wirklich mehr als fünfzig Jahre voraus!«, erklärte Jacqueline.
»Und alle Sachen haben irgendwie mit der Stadt zu tun. Wie ein Puzzle, das wir zusammensetzen müssen«, bemerkte der Deutsche.
Jacqueline wurde auf einmal ganz hibbelig. »Genau! Und unser Spielfeld ist Port Grimaud. Wie Rom in dem Dan-Brown-Film.«
Guillaume runzelte die Stirn. Für wen hatte Roudeau dieses Rätsel ursprünglich konzipiert? Sicher nicht für ihn und die anderen Unverbesserlichen. Aber für wen dann? Für seine Nachkommen? Oder tatsächlich für die Vicomtes? Denen Barral zuvorgekommen war, der dann die Lösung zu Geld machen wollte, bevor er …
»Aber was, bitte, sagen euch die Navette -Kekse?«, wollte Delphine wissen.
Sie schüttete alle fünf Stück aus der porösen Tüte, roch daran und legte sie wieder hin. »Ziemlich ranzig schon, das Ganze«, fand sie.
Quenot kam aus der winzigen Toilette und wischte sich die Hände an der Hose ab. Lipaire dachte noch über das Gebäck nach und wollte eben darauf hinweisen, dass es in mehreren Läden des Örtchens angeboten wurde, als der Belgier sich drei Kekse auf einmal griff und in den Mund schob.
»Mann, hab ich einen Kohldampf. Ich muss echt aufpassen, dass ich nicht in den Unterzucker komm, da verlier ich manchmal die Kontrolle.« Es krachte hörbar, als er die steinharten Stückchen zerbiss. »Ah, Orangenaroma. Sind aber übel trocken. Delphine, hast du bitte mal ein Glas Wasser?«
Lipaire schloss die Augen und zählte bis fünf. Danach war sein Ärger fast so etwas wie Mitleid gewichen. »Die Dinger sind wahrscheinlich älter als du. Deine Verdauung möchte ich haben. Aber lass wenigstens die letzten zwei übrig, sie könnten uns ja zum Schatz führen. Also, wir teilen uns auf, jeder nimmt sich eine Spur vor. Wer kümmert sich um was? Und Paul, du hast ab jetzt Keksverbot, dass das klar ist.«