»Lucas?« Marie Vicomte war perplex, derart unerwartet auf ihren Ehemann zu treffen. Sie hatte ihn in Uganda gewähnt, beim Aufbau seiner verdammten Schule, die ihm so viel wichtiger war als die Familie. Doch nun tauchte er plötzlich hier auf – ebenso überraschend wie gestern ihr Sohn. Die Männer in ihrer Familie schienen den dramatischen Auftritt zu lieben. »Was machst du denn hier? Ich dachte, du seist in Afrika.«
»War ich auch«, sagte er. »Aber ich war beunruhigt, weil sich keiner von euch bei mir gemeldet hat. Also, noch weniger als sonst.«
Er klang müde und sah auch so aus, fand Marie. Sein immer grauer werdendes Haar stand ihm wirr vom Kopf ab, seine Augenringe waren dunkler als sonst, die Schultern über seinem schmächtigen Körper hingen kraftlos herunter. Er wirkte deutlich älter als die einundfünfzig Jahre, die er auf dem gebeugten Buckel hatte.
»Ich hab dir doch gesagt, ich habe zu tun.«
»Ich will auch nicht immer abseitsstehen, wenn die Familie zusammenkommt.«
Für Isabelle und Clément war das das Stichwort. Sie liefen an ihrer Mutter vorbei und umarmten ihren Vater überschwänglich. Marie hingegen blieb, wo sie war.
»Salut , Lucas.« Henri tippte sich zur Begrüßung mit zwei Fingern an die Stirn. »Das ist ja ein Zufall, dass du gerade jetzt auftauchst.«
»Wie meinst du das: gerade jetzt?«
»Ach, denk dir nichts, Papa, das hat er gestern auch zu mir gesagt«, beruhigte Clément seinen Vater.
»Ich dachte, ihr könntet einen Mann mehr gebrauchen.«
Yves schüttelte den Kopf. »Wir haben eher einen zu viel.«
»Was willst du damit sagen?«
»Warum bist du denn so nass?« Henri zeigte auf die dunklen Flecken auf der Leinenhose seines Schwagers.
»Ich … hatte eine Autopanne. Musste den Reifen wechseln. Und da hat es ziemlich geregnet.«
»Geregnet?«, fragte Marie. Sie kniff die Augen zusammen.
Henri blickte demonstrativ zum Fenster. »Seit Tagen gab es kein Wölkchen am Himmel.«
Lucas blickte sie ratlos an. »Was soll denn das? Glaubt ihr mir etwa nicht?«
»Hm«, machte Henri, »wir hatten nur gerade Besuch. Vom Wasser aus.«
»Vom … würde mir mal jemand erklären, worum es hier geht?«
Marie berichtete ihm knapp, was geschehen war.
Ihr Mann wurde blass. »Mon Dieu , wir müssen sofort die Polizei rufen.«
»Den Vorschlag haben wir heute schon mal gehört. Von unserem anderen Neuankömmling«, brummte Henri und sah demonstrativ zu seinem Neffen. »Habt ihr euch abgesprochen?«
»Wer?«
»Du und dein Sohn.«
»Was hat denn Clément damit zu tun? Und wer ist überhaupt der Tote?«
»Barral«, antwortete Isabelle.
»Das ist doch …«
»Genau.«
»Merde.« Lucas dachte nach. »Ich wüsste vielleicht jemanden, der sich darum kümmern kann.«
»Stell dich hinten an«, gab Henri zurück.
»Meint ihr, er ist umgebracht worden?«
»Barral?« Marie zuckte mit den Schultern. »Ja, wahrscheinlich ist er das.«
Das Ganze wuchs ihr langsam über den Kopf. Offensichtlich hatten sie es mit eiskalten Verbrechern zu tun. Profis, die auch vor einem Mord nicht zurückschreckten. Die kaltblütig nachts Leichen durch die Gegend schipperten, um ihrem Standpunkt Nachdruck zu verleihen. Waren sie solchen Leuten wirklich gewachsen? Sie musterte ihre Familienmitglieder. Henri war, auch wenn sie ihn noch so sehr verachtete, der Einzige, dem sie zutraute, diesen Banditen die Stirn zu bieten. Von ihrem Mann hatte sie nicht allzu viel zu erwarten. Wie im täglichen Leben eben auch. Und ihre Kinder? Waren sie in Gefahr? Sie mussten auf jeden Fall auf der Hut sein, schon um Isabelles und Cléments willen. »Es ist besser, wenn wir uns die nächsten Tage bedeckt halten und warten, welche Forderungen kommen«, beschloss sie. »Man darf diese Leute nicht unterschätzen, das haben sie uns heute mit aller Deutlichkeit klargemacht.«
»Stimmt, Schwesterherz.«
Sie hasste es, wenn Henri sie so nannte, ließ ihn aber gewähren. Ihr Zusammenhalt war im Moment ihr höchster Trumpf.
»Wahrscheinlich ist es wirklich am besten, wir warten ab, was die Erpresser, also die Typen, die uns vorgestern Abend den Besuch abgestattet haben, konkret von uns wollen, und gehen dann zum Schein auf ihre Forderungen ein«, fuhr er fort. »Wir sollten sie aber keine Sekunde mehr aus den Augen lassen. Sie sind offenbar ebenfalls hinter dem her, wonach wir suchen. Und wenn sie haben, was wir wollen, schlagen wir zu.«
Marie Vicomte blinzelte in die untergehende Sonne und sah ihrem Mann, ihrem Neffen Yves und ihrem Halbbruder hinterher. Zusammen mit Louis Valmer trugen sie die ungewöhnlich schwere Teppichrolle aus der Haustür zu dem kleinen, weißen Transporter mit der fingierten Aufschrift einer Wäscherei in Sainte-Maxime, die es in Wirklichkeit gar nicht gab. Darin wartete Madame Valmer bereits mit laufendem Motor. Marie war erleichtert, den Toten wieder loszuwerden. Diese Valmers machten ihre Sache echt gut. Dass Marie sie während ihres derzeitigen Aufenthalts in Port Grimaud bereits zum zweiten Mal brauchte, beunruhigte sie allerdings ein wenig. Denn auch wenn das Ehepaar und die restliche Truppe von Royalisten glühende Verehrer des alten französischen Adels und damit selbstredend auch der Vicomtes waren, erfuhren sie mit jeder Aktion mehr über die Familie, ihre Struktur und ihre Machenschaften. Vielleicht würden sie dieses Wissen irgendwann zu nutzen versuchen, und sei es nur, um als besonders privilegierte Günstlinge behandelt zu werden. Wenn der Einfluss der Vicomtes wie erhofft bald wieder wachsen würde, würden auch jene Anhänger, die sie sich gerade mehr und mehr zu ihren Vertrauten machten, mit aufgehaltener Hand dastehen. So waren die Menschen nun mal, und die Valmers machten da garantiert keine Ausnahme.
»Kann ich Ihnen ein wenig zur Hand gehen?«
Marie erschrak. Sie hatte den Mann gar nicht kommen sehen, der wie aus dem Nichts aufgetaucht war und nun mit ausgestreckten Armen zu den Teppichträgern hastete.
»Danke, commissaire Marcel, bemühen Sie sich nicht«, presste Henri mit rotem Kopf hervor.
Commissaire Marcel ? Marie erstarrte. Ob er etwas ahnte, einen Tipp bekommen hatte?
»Aber nein, das ist doch kein Problem, ich helfe gern«, erwiderte er noch immer lächelnd. »Sieht recht schwer aus, was Sie da zu tragen haben.«
Die Männer zuckten nur mit den Schultern.
»Eine Leiche wird ja wohl nicht darin versteckt sein, hoffe ich? Das wäre dann mein Spezialgebiet.«
Marie schluckte, doch dann merkte sie erleichtert, dass die anderen genau richtig reagierten: Sie lachten gekünstelt, und der Polizist stimmte in das Gelächter ein.
»Ein schwerer alter Perser. Familienerbstück, muss jetzt aber zur Reinigung, Sie verstehen«, sagte Henri, während sie weitertrugen.
»Riecht ein wenig streng«, befand commissaire Marcel.
»Ja, leider«, erklärte Lucas schnell. »Dummerweise ist meinem Schwiegervater ein Malheur darauf passiert.«
»So ist das mit zu viel Alkohol, in dem Alter«, fügte Henri hinzu.
Marcel warf ihm einen verständnisvollen Blick zu. »Lassen Sie mich doch bitte helfen. Schließlich müssen wir von der Polizei zusehen, dass wir in Ihren tollen Büchern auch gut wegkommen, Monsieur l’Auteur. Vielleicht schreiben Sie ja auch mal über einen flic namens Marcel, der in Saint-Tropez heldenhaft seinen Dienst versieht? Mein Einverständnis haben Sie.«
Marie zog die Stirn in Falten. Wenn sie nicht alles täuschte, spielten Henris Romane ausnahmslos in Paris und Bordeaux, auch wenn sie das nur aus Erzählungen wusste. Ihr fehlte beim besten Willen die Zeit für solch seichte Büchlein. Wenn schon, dann beschäftigte sie sich mit ernsthafter Literatur. Aber warum wanzte sich der Polizist so an ihren Bruder heran? War er wirklich so eitel, wie man ihm nachsagte? Unterschätzte sie womöglich Henris Popularität?
»Ach ja? Das ist natürlich ein interessantes Angebot«, versetzte Henri, wandte sich dem commissaire zu und bat Valmer, Yves und Lucas, allein weiterzutragen. Der fehlende vierte Mann brachte sie für einen Moment ins Straucheln, wobei sie beinahe ihre heikle Fracht hätten fallen lassen. Doch schließlich gelang es ihnen, das Bündel in den Wagen zu wuchten.
Henri fragte derweil: »Dürfte ich Sie denn wirklich einmal porträtieren, in einem meiner Bücher, Monsieur? Natürlich so, dass man Sie nicht erkennt.«
Commissaire Marcel strahlte über beide Ohren. »Natürlich, gerne auch so, dass man mich identifizieren kann, ich habe nichts zu verbergen, und meine Aufklärungsrate ist untadelig. Verfügen Sie über mich, hochverehrter Monsieur Bécasse!«
»Vicomte. Bécasse ist nur mein Künstlername«, korrigierte Henri.
»Natürlich, ich vergaß. Ich bin von Anfang an ein glühender Verehrer Ihrer Werke«, schmachtete der Polizist. »Habe bis auf das neueste restlos alles gelesen, auch wenn ich zugeben muss, dass mir die Verfilmungen nicht ganz so gut gefallen wie die unvergleichlichen Bücher.«
»Ja, das sagen viele«, stimmte Henri ihm zu, und Marie hatte den Eindruck, dass er sich wirklich geschmeichelt fühlte. Dennoch registrierte sie zufrieden, dass er den commissaire hinhalten würde, bis der Transporter endlich abgefahren war, was sich nun allerdings verzögerte: Die Teppichrolle war allem Anschein nach zu lang für den Laderaum. War sie denn nur von Idioten umgeben? Wahrscheinlich das Schicksal großer Geister – an der Spitze war es nun mal einsam. Derweil bot sich ihr ein bizarres Bild: Während im Hintergrund die Männer verzweifelt versuchten, den Toten in ein viel zu kleines Auto zu quetschen, begockelten sich nur wenige Meter davor der Polizist und ihr Halbbruder.
»Also, wenn Sie mal die Expertise der echten Polizei benötigen«, schwelgte der commissaire , »steht Ihnen meine Bürotür stets offen. Ich bin Tag und Nacht für Sie erreichbar. Bei Mord bin ich ausgewiesener Experte.«
Marie hörte eine Autotür. Endlich hatten die anderen es geschafft. Das schien auch Henri nicht entgangen zu sein.
»Schön, das ist ein wirklich tolles Angebot, Commissaire , ich melde mich.«
»Ich würde mich sehr freuen. Übrigens auch über ein handsigniertes Exemplar Ihres neuesten Buches, der Klappentext klingt sehr spannend.«
»Das sollte sich machen lassen. Jetzt müssen wir aber leider, wir haben noch ein wenig im Haus zu tun. Bonne journée, Commissaire !«
Der Polizist blieb winkend stehen, bis die Vicomtes die Haustür hinter sich geschlossen hatten.
Als die Luft im wahrsten Sinne des Wortes wieder rein war, fanden sich alle auf Maries Wunsch in der Sitzgruppe rund um den offenen Kamin ein. »Wir müssen dringend besprechen, wie wir weiter verfahren wollen«, sagte sie, ging zur kleinen Hausbar auf dem Servierwagen und goss sich ein Glas Armagnac ein. Die Blicke ihrer Verwandten folgten ihr. Nach dem ersten Schluck fuhr sie fort: »Ich gehe inzwischen fest davon aus, dass uns von den Leuten, die uns hier einen ungebetenen Besuch abgestattet haben, auch die Leiche vor die Tür gelegt wurde. Sie sind offenbar weitaus gefährlicher und durchtriebener, als ich zunächst dachte. Wir müssen vorsichtig sein.«
»Wahrscheinlich«, stimmte Henri ihr zu.
»Aber wer sind die eigentlich?«
»Ganz sicher gehört schon mal der Typ vom Schlauchboot dazu«, sagte Yves.
Marie nickte. »Da sollten wir ansetzen.«
»Und wer ist sonst noch dabei?«, fragte Lucas. »Also, ich meine: An wessen Fersen sollen wir uns denn eigentlich heften?«
Marie legte die Stirn in Falten. »Clément hatte ja ganz richtig gesagt, dass unser gardien ein bisschen zu oft auftaucht, in letzter Zeit. Und was ist mit diesem Bootsjungen?«
Yves blickte auf. »Karim? Hm, den hab ja ich selbst herbestellt, um die Jacht zu reparieren.«
»Aber er hat sich komisch verhalten, findet ihr nicht?« Isabelle erntete von allen Seiten Kopfnicken.
»Also, ihr Süßen, dann lasst uns ausschwärmen und zusehen, was wir in Erfahrung bringen können«, erklärte Clément und sprang auf. »Endlich kommt Schwung in die Sache.«
Marie lächelte. Der Junge hatte schon als Kind ständig Action gebraucht, was sich bis heute nicht geändert hatte. »In Ordnung. Fangt mit den dreien an, vielleicht ergibt sich daraus ja mehr.«
Nachdem sie gegangen waren, nahm sich Marie einen der Stühle vom Esstisch und setzte sich neben ihren Vater, der im Rollstuhl vor sich hin döste. Sie strich ihm eine Weile sanft über das weiße Haar. Was würde passieren, wenn er nicht mehr da war? Würden sie jemals wieder alle zusammen hier im Haus sein? Darauf zumindest könnte sie ganz gut verzichten. Sie stand auf und ging zur großen Glastür des Salons, von wo aus sie auf die Comtesse und den Kanal dahinter blickte, auf dem zwei Elektroboote dahindümpelten. Ihnen näherte sich das Shuttle, das die Leute von der Kirche zur capitainerie und damit zum Linienschiff nach Saint-Tropez brachte. Die Sonne tauchte die Fassaden der Häuser gegenüber in warmes, goldenes Licht, als könne nichts und niemand das kleine Städtchen aus der Ruhe bringen. Doch dieser Frieden war trügerisch.