Quenot hatte die Mosaiksteinchen fest in seiner Faust verschlossen, während er kreuz und quer durch die Gassen des Örtchens wuselte. Immer wieder blieb er stehen, schaute auf den Inhalt seiner Hand, verglich damit den Bodenbelag, schüttelte den Kopf und eilte weiter. Ständig rempelten ihn dabei irgendwelche Menschen an, denn heute, an diesem sonnigen Vormittag, waren die Touristen wie so oft von den umliegenden Campingplätzen in Scharen nach Port Grimaud geströmt. Am Steg für die elektrischen Boote hatte sich bereits eine lange Schlange gebildet, alle wollten im Schneckentempo die Kanäle auf und ab fahren und sich die Leute auf ihren Terrassen und deren Häuser im Hintergrund ansehen. Ein bisschen wirkte das auf ihn wie in einem Zoo, in dem man mit auf Schienen montierten Booten durch die Freigehege fuhr. Doch von ihm aus hätten sich heute ruhig alle Tagesgäste auf dem Wasser tummeln können, denn keiner von ihnen schien irgendein Ziel zu haben, sie schlenderten planlos herum, während er es eilig hatte. Zudem versperrten ihm die Passanten die Sicht auf den Boden, genauer auf die dort befindlichen Mosaike, die sie, da war er sicher, zum Schatz führen würden. Immerhin machten die meisten von selbst Platz, wenn sie den bulligen Ex-Soldaten anrollen sahen.
»Das heißt pardon «, rief ihm eine ältere Frau nach, die er wie ein Schneepflug zur Seite geräumt hatte. Er reagierte gar nicht darauf, ging weiter, den Blick stur nach unten gerichtet und schwer atmend. Nun rächte es sich, dass er bis jetzt nie auf die Bilder im Pflaster geachtet hatte. Über die verschiedenen Bodenarten in den Gärten und deren Nährstoffstatus hätte er stundenlange Vorträge halten können, doch die Gehwege hatten ihn nie interessiert.
Plötzlich blieb er stehen. Da war es, kein Zweifel. Unter den Arkaden eines der Häuser, die den Platz säumten, war ein größeres Mosaik eingelassen. Er schaute in seine Hand, dann wieder auf den Boden – alles dieselben Steinchen. Asymmetrisch geformt, schieferfarben und hellgrau. Erst jetzt hob er den Blick, um sich umzusehen – und war überrascht. Er stand beinahe auf dem Marktplatz. Nur ein paar Meter trennten ihn davon. Unzählige Male musste er hier schon vorbeigegangen sein, ohne dass ihm das Ornament aufgefallen wäre. Heute war das anders. Heute hatte er ein Rätsel zu lösen. Das Mosaik zeigte etwas, das sie weiterbringen würde, ganz bestimmt. Und er würde es entschlüsseln.
Allerdings stand mittendrin ein Kinderwagen. Die dazugehörenden Eltern beugten sich daneben über einen Stadtplan. Quenot steckte kurzerhand die Steine in seine Hosentasche und schob den Wagen ein Stück zur Seite.
»Was machen Sie denn?«, kreischte die Frau panisch, rannte zu ihrem Kind und riss es aus dem Wagen, wodurch es aufwachte und wie am Spieß zu brüllen begann. »Tu doch was, Martin, der grässliche Typ wollte unseren Sohn entführen!«
»Finger weg, Dreckschwein!«, schrie nun auch der Mann.
Paul überlegte, ob er darauf hinweisen sollte, dass er es gewesen war, der den Sprössling aus der prallen Sonne in den Schatten befördert hatte, doch ehe er sichs versah, war er umzingelt von aufgeregt rufenden Menschen, die in den verschiedensten Sprachen wild gestikulierend herumbrüllten. Für derartige Diskussionen hatte er nun wirklich keinen Nerv, noch dazu, weil man nie wusste, ob sein Fluch wieder für irgendeinen tödlichen Ausgang sorgen würde. Mit dem tiefsten Brummen, zu dem sein Körper fähig war, plusterte er sich auf und machte dazu die gefährlichste Schlägervisage, die er im Repertoire hatte. Das zeigte Wirkung. So wie Guillaume es verstand, die Leute für sich zu gewinnen, war Quenot ein Meister darin, sie auf Abstand zu halten. Die Schaulustigen wichen erschrocken zurück, die Mutter packte ihren Mann am Arm und zog ihn samt Kinderwagen davon, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Endlich Ruhe. Endlich konnte er sich der geheimen Botschaft widmen. Doch was sollte das darstellen, was da mittels kleiner Steinchen in den Boden eingelassen worden war? Es wirkte wie … wie eine riesige Tomate mit, ja, mit einem Schwanz. Oder sollte es ein Apfel sein, und das längliche Gebilde eine Schlange? Eine Anspielung auf die Bibel also? Wie der Spruch von Roudeau mit dem Felsen? Doch der Apfel war im Vergleich zur Schlange viel zu groß. Vielleicht war das ja die Botschaft: Big Apple – New York. Würden sie dort, über dem großen Teich, die Antwort auf ihre Fragen finden? Er atmete tief durch. Das war komplizierter als gedacht. Obwohl er vorgehabt hatte, den anderen die fertige Lösung zu präsentieren, erst ihr Staunen und dann ihre Lobeshymnen entgegenzunehmen, musste er nun umdenken. Er würde ihre Hilfe brauchen, um den Hinweis zu entschlüsseln. Also griff er in eine der Seitentaschen seiner Flecktarnhose, holte einen Block und einen Stift heraus und begann, das Mosaik abzumalen. Ein Handy hätte das Ganze viel einfacher gemacht, doch er besaß keines. Aus seiner Militärzeit wusste er, wie leicht diese Dinger zu knacken und abzuhören waren, und verstand nicht, warum sich alle Welt inzwischen davon so abhängig machte.
Er tat sich schwer, denn das Zeichnen war, wie auch das Schreiben, nie seine Stärke gewesen. Mit verkrampften Fingern und im Mundwinkel eingeklemmter Zunge bewegte er den Stift über das Papier. Als er fertig war, ging er einen Schritt auf das Motiv zu, um es sich noch einmal aus der Nähe anzusehen. Erst jetzt bemerkte er, dass der Boden der gesamten Arkade mit Mosaiksteinchen gestaltet war. Neben der seltsamen Tomate waren noch weitere Symbole zu sehen, etwa eine Art Rugby-Ei, ein Schild oder Buch oder Blatt oder … Er seufzte. Das würde er niemals alles abmalen können, die anderen mussten sich wohl oder übel herbemühen.
»Oh, ein Seeteufel? Haben Sie den aus dem Gedächtnis gezeichnet?«
Verwirrt blickte Paul auf. Er kannte den Mann, der da neben ihm stand und auf seinen Block zeigte. Es war der Polizist, den alle hier nur commissaire Marcel nannten. Niemand hatte wirklich Respekt vor ihm, doch dass er auch von Kunst so wenig Ahnung hatte, war neu.
»Nein, das ist …«
»Ein Fußball, natürlich, jetzt erkenne ich es. Vielleicht sollten Sie sich da besser mal Hilfe suchen. In Sainte-Maxime bietet eine Sommerakademie Kurse in naiver Malerei an.«
»Danke für den Hinweis, aber ich bleibe lieber beim Abstrakten«, knurrte der Belgier, stopfte frustriert seinen Zeichenblock in die Tasche und stapfte davon.
Guillaume Lipaire sah den grimmig dreinblickenden Belgier aus den Arkaden am Ende des Marktplatzes herauskommen. Reflexartig öffnete er den Mund, um ihn zu sich zu rufen, doch dann überlegte er es sich anders. Das würde ihn nur aufhalten.
Er sog an seiner Zigarre und wandte den Blick wieder zu der gemalten Statue an der Fassade eines der Häuser am Marktplatz. Sie stellte, in klassizistischem Stil, wenn er richtiglag, einen Jüngling mit einer Amphore dar. Es handelte sich um ein sogenanntes Trompe-l’œuil , also ein Gemälde, das Dreidimensionalität vortäuschte. Erst kürzlich war es restauriert worden, erinnerte sich Lipaire. Irgendwo in diesem Bild, das so realistisch gemalt war, dass man beim flüchtigen Hinschauen denken konnte, da stehe wirklich eine Figur in einer Nische, musste eine Botschaft versteckt sein, denn darunter prangte derselbe Ton-Fisch, der auch in der Truhe gelegen hatte, nur etwas größer. Von hier unten aus war jedoch nichts zu erkennen, es musste sich um ein Detail drehen, das nur aus der Nähe zu sehen war. Doch erstens prangte das Bild in etwa vier Metern Höhe über einem Balkon, und zweitens saß auf ebendiesem Balkon ein älteres Ehepaar und trank Wein. Prinzipiell eine sehr gute Idee, es sich mit Blick über das bunte Treiben des Örtchens in der Sonne bequem zu machen, musste Guillaume einräumen. Aber im Moment waren die beiden ihm einfach im Weg. Wenn er sie doch nur dort wegbekäme … Nachdenklich blickte er sich um. Es herrschte das für diese Zeit übliche Gewusel auf dem Marktplatz: Eis essende Touristen in grellbunten Shorts auf den Bänken, Apéro -Trinker in den Cafés, Wassertaxis, die immer wieder neue Leute anspülten, die Boulespieler, die gerade im Schatten pausierten … Moment, das war es. Lipaire überquerte flugs den Platz, eilte zu einem der Spieler, einem Dicken mit Vollbart, steckte ihm zwanzig Euro zu, flüsterte ihm etwas ins Ohr und lief schnell zurück zum Balkon. Im Geiste ging er schon die Griffe durch, mit denen er sich wie ein Fassadenkletterer behände hinaufschwingen würde, da hörte er, wie in seinem Rücken das Gezeter begann: »Bordel de merde , ich war näher dran. Du hast meine Kugel bewegt, bouffon !« – »Nimm das zurück, sonst hau ich dir eins auf die Mütze, du Scheißhaufen«, ging es munter zwischen den Männern hin und her. Diese Typen waren jeden Cent wert. Tatsächlich trat nach kurzer Zeit genau das ein, was er erwartet hatte: Das Ehepaar wurde neugierig. Die beiden, denen die Sicht auf die Spieler durch eine große Platane versperrt war, reckten zunächst ihre Hälse, standen dann getrieben von Sensationslust auf, gingen ins Haus, um kurz darauf auf dem Bürgersteig wieder aufzutauchen. Lipaire grinste. Er konnte in Menschen lesen wie in einem offenen Buch.
Lipaire nahm Anlauf, hüpfte auf einen kleinen Mauervorsprung und von dort auf das Dach des kleinen Lädchens, das bunte, duftende Seifen aus der Provence anbot. Er richtete sich auf, packte mit einer Hand den unteren Teil des schmiedeeisernen Balkongitters, spürte dann jedoch ein Stechen in der Nierengegend, lockerte unwillkürlich den Griff – und fiel mit dem Rücken voran nach unten. Mit einem dumpfen Knall landete er auf dem Vordach des Lädchens. Für ein paar Sekunden blieb ihm die Luft weg, und er schloss die Augen, um in sich hineinzuhorchen, ob es ernsthafte innere Verletzungen zu beklagen gab. Doch alles schien in Ordnung zu sein. Bis auf die Schmerzen jedenfalls. Er zog sein Handy heraus – das Display hatte einen kleinen Sprung abbekommen. Vielleicht würde Delphine ihm das ja günstig reparieren, jetzt, wo sie »Freunde« waren. Er bezweifelte es.
Immerhin hatte man auch von hier aus schon einen recht guten Blick auf das Gemälde. Doch spontan stach ihm nichts ins Auge, was als Zeichen gemeint sein konnte. Schnell schoss er ein paar Fotos der Wandmalerei, dann ließ er sich vom Blechdach gleiten und humpelte davon. Als er an den Boulespielern vorbeikam, sah er, wie die Streithähne von einem Mann in knittrigem Trenchcoat auf Abstand gehalten wurden. Solange sich commissaire Marcel um derartige Lappalien kümmerte und sich nicht in seine Angelegenheiten mischte, hatte Lipaire nichts zu befürchten.
»Louiiiiiis, komm, nicht bellen.« Lizzy Schindler ruckte an der Leine ihres Pudels, der, angestachelt vom lautstarken Wortgefecht der Boulespieler, in seinem Gekläffe kaum zu bremsen war. So kannte sie ihn gar nicht, aber Louis Quatorze war es, wie alle anderen hier auch, nicht gewohnt, dass es gar so laut und hitzig zuging. Als sie die große Brücke überquert hatten und die Streithähne außer Hör- und Sichtweite waren, beruhigte sich der Hund und trottete brav neben seinem Frauchen her. Nun konnten sie ihre Fährte aufnehmen. Ihre Muschelfährte. Lizzy Schindler war von den anderen als Expertin für diese Spur auserkoren worden, und sie wollte das Vertrauen in sie rechtfertigen, indem sie Ergebnisse lieferte. Sie sollten sehen, dass die Entscheidung, sie in ihre Gruppe aufzunehmen, im wahrsten Sinne des Wortes goldrichtig gewesen war.
Also folgte sie den Muscheldarstellungen durch die Stadt – und die waren zahlreicher, als sie erwartet hatte. Sogar auf kleinen Wegweisern waren sie angebracht. Allerdings führten die sie aus der Stadt hinaus, was sie wunderte. Aber was wusste sie schon davon, was sich Roudeau, der Lebenskünstler, in seinem verqueren Hirn zusammengesponnen hatte. Sie durchschritt den Torbogen links vom Tour des Célibataires. Dieser runde Turm am Eingang der Stadt war von Roudeau gebaut worden, um den Bediensteten der Restaurants und Geschäfte als Herberge zu dienen. Daher auch sein Name »Turm der Junggesellen«, was man heutzutage wohl eher mit »Singlesilo« umschrieben hätte. Er bestand aus vielen kleinen und kleinsten Zimmerchen, oft nur mit einem winzigen Fenster, von denen manche inzwischen zu größeren Wohneinheiten zusammengelegt worden waren. Lizzy hatte sich einmal ein Zimmer von dreizehn Quadratmetern angesehen und sich dann für das Rentenmodell entschieden, um in ihrem Appartement bleiben zu können.
Sie verließ das Örtchen durch das Hauptportal, überquerte den äußeren Wassergraben und bog vor dem großen Parkplatz nach links ab. Irgendwann endete der Gehweg, und Lizzy und Louis mussten auf der staubigen Landstraße weitergehen. Doch hierhin zeigte nun mal der vermaledeite Muschelwegweiser, was sollte sie also machen? Sie war bereits jetzt bedeutend weiter von ihrem geliebten Wohnort entfernt, als sie in den letzten Jahren jemals gelaufen war. Ihre Hüfte schmerzte. Sie hätte nicht so hochhackige Schuhe anziehen sollen. Auch Louis schnaufte besorgniserregend, aber sie vermutete, dass ihm ein bisschen mehr Bewegung ganz guttat. Da man seine Beinchen unter dem dicken Bauch kaum noch sah, hatte Lizzy sich schon länger vorgenommen, ihm ein kleines Sportprogramm zu verordnen. Nun trottete er mit eingezogenem Schwanz neben ihr her und blickte sie von unten fragend an, als wolle er sagen: Wär’s nicht langsam Zeit umzukehren?
Als sie eine Weggabelung erreichte, erblickte sie unter einer mächtigen, Schatten spendenden Schirmpinie eine Bank. Die war zwar belegt, aber besser als nichts. Die beiden Wanderer, die dort saßen, ein Pärchen aus ihrer Heimat Österreich, wie sich herausstellte, gaben Louis ein wenig von ihrem Reiseproviant ab, einer hervorragend aussehenden Quiche Lorraine aus der besten Bäckerei des Ortes, was bei ihrem geschundenen Vierbeiner sichtlich die Lebensgeister weckte. Schwanzwedelnd baute sich der Pudel vor seinen neuen Freunden auf und leckte sich über die Schnauze.
»Sie gehen aber nicht mit dem Hund den Jakobsweg, oder?«, fragte die Frau.
»Welchen Weg?«
»Den Pilgerweg. Wir haben gesehen, wie Sie immer den Schildern gefolgt sind.« Sie zeigte auf den Wegweiser mit der stilisierten Muschel darauf, der auch hier am Baum angebracht war.
»Ach, jetzt versteh ich …«
»Mit Verlaub, aber der Jakobsweg, in Ihrem Alter? Ich mein, so ganz ohne Gepäck und in Ihrer Aufmachung …« Die Frau ließ ihren Blick über Lizzys Garderobe wandern, von ihrer bunten Kappe über das ärmellose Top, die hautengen Glitzerjeans bis zu den königsblauen Stöckelschuhen.
»Ach wo, aber mein Hund liebt lange Spaziergänge«, erwiderte Lizzy, worauf Louis einmal kurz aufjaulte. »Jetzt muss ich aber wirklich zurück, sonst wird’s zu spät. Gute Pilgerei noch.«
Delphine biss gerade in ihr pain aux raisins , ein unverschämt süßes Gebäck mit Rosinen, als sie eine erschöpft wirkende Lizzy Schindler die Brücke zum Marktplatz hinaufgehen sah. Ihr war schleierhaft, wie man sich auf solch dürren Stelzen fortbewegen konnte. Und wie man überhaupt solche Stelzen bekam. Das konnte nur durch jahrelange Nahrungsverweigerung zu erreichen sein, dachte sie schaudernd und spülte ihr Gebäck mit einem Schluck Orangina hinunter. Sie war froh, dass ihr Teil der Aufgabe auch im Sitzen erfüllbar war. Man hatte ihr aufgetragen, die Straßennamen der Stadt auf Auffälligkeiten hin zu untersuchen. Warum genau, hatte sie nicht verstanden, allerdings auch nicht weiter nachgefragt. Denn statt wie die anderen wild durch die Gassen zu rennen, hatte sie an ihre Ladentür das Bin gleich zurück -Schild mit ihrer Notfallnummer für besonders eilige Kunden gehängt, sich in der Touristeninformation einen kostenlosen Stadtplan geholt, sich dann in das kleine Café an der Rue des Artisans gesetzt und versucht, in dem scheinbar zufälligen Gewirr einen tieferen Sinn zu erkennen. Sie konnte Zeichnungen von Schaltkreisen lesen, Pläne von Platinen, die deutlich komplizierter aufgebaut waren als ihr überschaubares Städtchen, doch ein Zusammenhang, der ihr bisher nicht aufgefallen war, wollte sich auch jetzt nicht aufdrängen. Nicht einmal, als sie versuchte, die Quadrate des Stadtplans mit den Namen der Straßen in irgendeine Beziehung zu bringen. Einmal dachte sie, sie hätte etwas gefunden, hatte die Kinder angerufen und ihnen aufgetragen, auf einem der Straßenschilder etwas zu überprüfen, doch wie sich herausstellte, handelte es sich nur um einen Druckfehler. Nach einer Stunde, zwei Oranginas und drei weiteren Rosinenschnecken gab sie auf. Sie würde noch einen café allongé trinken, vielleicht ein wenig Tetris auf einem ihrer Handys spielen, um dann mit leeren Händen zu den anderen zurückzukehren. Wo nichts war, konnte man eben auch nichts finden. Sich selbst zunickend, griff sie nach dem Zuckerstreuer, hielt ihn über die Tasse, doch er war leer. »Merde« , zischte sie. Heute klappte wohl gar nichts.
»Darf ich, Madame?«, fragte da eine näselnde Stimme vom Nebentisch.
Sie drehte sich um und sah, wie ein Mann mit Trenchcoat ihr seinen Zucker anbot. Weshalb man bei dieser Hitze einen Mantel trug, war ihr völlig schleierhaft. Aber bei dem Typen wunderte sie gar nichts mehr. »Vielen Dank, Commissaire. «
»Oh, Sie kennen mich?« Er schien nicht im Geringsten überrascht, seine Frage klang eher wie eine Bestätigung.
Delphine biss sich auf die Lippen. Natürlich kannte sie ihn, sie waren sich erst kürzlich begegnet. Er schien sich offenbar nicht mehr daran zu erinnern, was sie ein wenig ärgerte. »Aber ja. Wir haben uns in der Buchhandlung getroffen. Wie hätte ich das vergessen können?«
Der Typ nickte tatsächlich und lächelte sie stolz aus seinem zerknautschten Gesicht an. »Natürlich«, gab er zurück.
»Eben«, entfuhr es ihr, dann stand sie auf und ging. Die Gegenwart derart selbstverliebter Typen war ihr zutiefst unangenehm.