Es war bereits weit nach halb zwölf, als Delphine vor dem großen Stadttor von Port Grimaud eintraf. Erst kurz nach Mitternacht hatte sie Jacqueline, Lipaire und Karim eine Nachricht geschrieben, ob einer von ihnen sie zu Hause abholen könne. Die drei hatten zusammen mit Paul Quenot bereits auf einer Bank vor ihrem Laden gewartet.
Nun brauste Jacqueline Venturino auf ihrem Roller heran – samt Delphine, die mit wehendem Haar hinter ihr saß. »Pardon , die Herren, aber ich musste erst noch die Raubtierfütterung hinter mich bringen«, rief sie, als sie nah genug waren. »Meine Familie frisst mir noch die Haare vom Kopf. Und da heißt es immer, Mädchen würden so wenig essen. Meine beiden hauen rein für vier. Von meinem Alten gar nicht zu reden. Sechs ganze Doraden, zwei Baguettes und eine Riesenschüssel taboulé oriental ! Stellt euch das mal vor …«
Die Männer nickten beeindruckt.
»Dann wollten meine Mädels nicht ins Bett, und mein Göttergatte ist ja nicht in der Lage, sich um irgendwas zu kümmern. Nicht mal ums Auto. Mein alter Twingo hat den Geist aufgegeben. Macht keinen Mucks mehr. Lichtmaschine wahrscheinlich. Mindestens.« Sie stieg ab, wobei sie sich so fest an Jacqueline klammerte, dass die beinahe das Gleichgewicht verlor.
Als Jacqueline den Roller auf dem Gehweg vor der Brücke abstellte, nahm Guillaume Delphine zur Seite. »Sag mal, meine Liebe«, flüsterte er, »hast du denn inzwischen so ein … Trojanisches Pferd auf Karims Handy installieren können?«
Delphine langte in ihre Handtasche und zog das Mobiltelefon heraus. »Klar, hab ich. Das war das geringste Problem heute Abend. Es war sogar schon ein anderer drauf.«
»Ein anderer was?«, fragte Lipaire verwirrt.
»Na, ein anderer Trojaner eben.«
Als Guillaume und seine Gruppe Delphines Handyladen erreicht hatten, sahen sie ihn mit großen Augen an. Er hatte ihnen unterwegs mehrmals mit dem Zeigefinger vor dem Mund bedeutet, nicht weiterzureden, als sie auf das Thema ihrer Schatzsuche kamen. Bisweilen hatte er auch versucht, durch Pfeifen oder Singen die Gespräche der anderen zu übertönen oder zu einem belanglosen Thema wie dem richtigen Mischverhältnis eines kir alpin zu wechseln. Doch außer von Delphine erntete er dafür nur fragende Blicke.
Die schob jetzt den metallenen Gitterladen vor ihrem Geschäft hoch, sperrte die Tür auf, bat einen nach dem anderen herein und ließ den Rollladen wieder zurück auf den Boden rattern. Gut so, fand Lipaire, niemand musste mitbekommen, dass sie mitten in der Nacht hier waren – auch wenn das noch besser geklappt hätte, wenn sie das Ganze etwas leiser bewerkstelligt hätte.
Drinnen ließ er sich von ihr sofort Stift und Block geben und schrieb das Wort Abschirmung samt Fragezeichen darauf. Delphine las es, runzelte die Stirn und sah ihn schulterzuckend an. Bleierne Kiste , probierte er als Nächstes. Wieder schien sie nicht zu verstehen, ging aber zu einem ihrer Wandregale, entnahm ihm eine olivgrüne Tasche aus Neopren und ließ Karims Handy wortlos hineingleiten. Dann verschloss sie das Täschchen säuberlich und atmete tief durch. »Darf ich vorstellen? Der Eiserne Vorhang«, verkündete sie stolz.
Lipaire wusste sofort, was sie meinte, die anderen aber sahen sie völlig entgeistert an.
Sie atmete erleichtert auf. »Jetzt können wir offen reden. Also, was wolltest du mir denn mit deinem Gekritzel sagen? Ist das Germanisch?«
Lipaire sah auf den Zettel und musste zugeben, dass er in der Eile und Aufregung tatsächlich nicht seine Sonntagsschrift benutzt hatte. »Na ja: dass wir das Handy abschirmen müssen. Ich dachte an eine verbleite Kiste oder was in der Richtung. Aber so eine Tasche …«
»… ist heutzutage Standard«, erklärte sie. »Die sind aus Armeebeständen, und anscheinend ist davon mal eine größere Charge von irgendeinem Laster gefallen. Jedenfalls hat sie mein Großhändler echt günstig angeboten. Kisten braucht für so was niemand mehr, und Blei schon gar nicht.«
»Könnten wir erfahren, wovon ihr redet?«, bat Karim ungeduldig und erntete dafür Kopfnicken von den anderen.
Guillaume wollte ihnen gerade alles erklären, da klopfte es am Ladengitter. Er erstarrte, auch die anderen rührten sich nicht mehr. »Merde , sind sie uns jetzt doch auf die Schliche gekommen?«
»Wer?«, zischte Quenot.
»Die Polizei. Oder die Vicomtes. Und ich weiß nicht, was ich schlimmer fände.«
Es klopfte erneut, und als sie wieder nicht reagierten, folgte ein regelrechter Trommelwirbel.
»Da hat jemand ziemlich Wut im Bauch, glaub ich«, sagte Jacqueline kleinlaut, worauf Karim ihr so vorsichtig die Hand auf die Schulter legte, als könne er irgendetwas daran beschädigen.
»Und wenn es das Phantom ist?«, gab Delphine zu bedenken, da erklang draußen eine Stimme: »Neiiiiiin, doch nicht ausgerechnet hier dein Häufi machen, Louis! Da tritt sonst am Ende noch die Tante Delphine rein, wenn sie aus ihrem Geschäft kommt.«
Lipaire schüttelte erleichtert den Kopf, und Delphine schob erneut das Gitter nach oben, woraufhin Lizzy Schindler den Laden betrat. Sie trug einen gesteppten Hausmantel und Leopardenprint-Pantoffeln. Louis folgte ihr hechelnd. Die fragenden Gesichter der Anwesenden beantwortete sie mit einem: »Hättet ihr die Güte, mir zu erklären, warum mich keiner informiert hat?«
Alle sahen zu Guillaume, der aber zog die Schultern hoch. »Das … also … keine Ahnung, wie das passieren konnte, ehrlich gesagt.«
Lipaire hatte die alte Dame in der Eile schlicht vergessen. Schließlich hatte er es gerade noch geschafft, die Wohnung von Monsieur Mengin fertigzubekommen und seine Post zu holen. Er war ihm sogar auf der Treppe in die Arme gelaufen und hatte erzählt, dass die Trennung von seiner Frau diesmal endgültig und unwiderruflich sei, und ein wenig leiser nachgeschoben: »Außer sie entschuldigt sich.«
Delphine seufzte. »Jetzt sind ja alle da. Hat uns dein Louis aufgespürt, oder wie hast du uns gefunden?«
»Irgendwie schon«, erklärte die alte Dame und nahm auf einem Klappstuhl Platz, den ihr Karim eilig hingeschoben hatte. »Louis hat gewinselt und wollte raus, drum war ich unterwegs mit ihm. Und dein Rollladen weckt ja buchstäblich Tote auf. Tarnung schaut anders aus, wenn ihr mich fragt, Kinder. So, und jetzt lasst uns weiterhirnen.«
»Könnte ich erst mal erfahren, warum wir nicht mehr reden durften und weshalb ihr mein Handy in diesen seltsamen Armeebeutel gepackt habt?«, fragte Karim, der die ganze Zeit ungeduldig von einem Bein aufs andere trat.
Lipaire lächelte. »Kannst du die technischen Details übernehmen, Delphine?«
»Sicher. Also, Karim, du hast einen Trojaner auf deinem Handy, mit dem wir anscheinend ausgespäht wurden. Man kann mit diesen kleinen Scheißerchen Gespräche abhören, auf Nachrichten, Mails und Bilder zugreifen und sogar in deinem Namen Telefonate führen. Und nicht zuletzt hat man immer den genauen Standort des Telefons parat – und damit den seines Besitzers. Also deinen.«
Man sah Karim an seinem weit offen stehenden Mund an, wie erstaunt er über diese Neuigkeit war. Doch auch die anderen waren baff.
»Moment, das beweist ja …«, begann Petitbon, doch Lipaire fiel ihm sogleich ins Wort: »Das beweist, dass du nichts mit der Erpressung der Vicomtes zu tun hast. Wie ich es immer gesagt habe!« Er drückte ihn an sich.
»Du hast immer …«, stammelte Karim.
»Natürlich. Ich wusste, dass du so etwas nie machen würdest. Wie wir alle, stimmt’s?« Er nickte auffordernd in die Runde.
»Stimmt«, pflichtete ihm einer nach dem anderen bei, die Blicke auf den Boden gerichtet.
»Ich hätte es ihm schon zugetraut«, polterte Lizzy dazwischen.
»Wie seid ihr denn da überhaupt draufgekommen?«, wollte Petitbon wissen.
Lipaires Blick ging wieder zu Delphine. Sie konnten ihm schlecht sagen, dass sie es just in dem Moment herausgefunden hatten, als sie ihm selbst Spyware aufspielen wollten. »Unsere liebe Delphine wollte dein Telefon reinigen und technisch ein wenig durchsehen, und dabei ist es ihr aufgefallen.«
»Genau. Kundendienst quasi«, sagte sie und deutete vage auf den olivgrünen Beutel. »Mach ich eigentlich immer …«
»Und im Moment kann mein Handy nicht senden, weil es …«
»Weil es abgeschirmt ist«, fuhr Delphine fort.
»Wer hat das Ding denn draufgespielt?«
»Ich sag’s mal so: Ein Geheimagent könnte das bestimmt rausfinden, für meine Wenigkeit ist das aber zu hoch, pardon. «
»Und wenn wir das den Vicomtes zu verdanken haben?«, äußerte Jacqueline eine Vermutung.
Guillaume dachte laut nach. »Hm, das würde schon irgendwie zusammenpassen. Erst der Tote in ihrem Haus, dann die Hinweise von Roudeau ebenfalls in diesem Haus …«
»Und wie kam er auf das Telefon drauf?«, hakte Quenot nach. »Der Trojaner, meine ich.«
»Das weiß ich nicht«, erwiderte Delphine nachdenklich. »Eine Möglichkeit wäre eine Mail mit einem Anhang oder Link. Aber so blöd ist heutzutage ja niemand mehr, dass er so was von einem Unbekannten öffnen würde.«
Lipaire schluckte. »Angenommen, jemand hätte es doch geöffnet. Aus grober Fahrlässigkeit oder so. Und weiter angenommen, der Anhang wäre ein Video gewesen, wo man ein Boot drauf sieht …«
»Moment.« Karim hob die Hand. »Wenn wir, wie Jacky gerade gesagt hat, davon ausgehen, dass es die Vicomtes waren, die durch den Trojaner Informationen von uns bekommen haben …«
»Ja, was ist dann, Poirot?«, unterbrach ihn Lipaire ungehalten. Er fürchtete, dass der Junge nun alles ihm in die Schuhe schieben würde.
»Na ja, ich meine, wenn andererseits das Phantom den Trojaner installiert hat, würde das bedeuten …«
»… dass das Phantom einer von ihnen ist«, vollendete Jacqueline seine Annahme.
Eine Weile sahen alle nur starr vor sich hin und ließen diesen Gedanken sacken. Dann schüttelte Paul den Kopf. »Aber das macht ja keinen Sinn: Wieso sollten sie sich bitte selbst erpressen, hm?«
Lipaire nickte zögerlich.
»Und was, wenn uns die Vicomtes mit dem angeblichen Phantom auf eine falsche Fährte locken wollten? Und das mit der Erpressung nur erfunden haben?«, gab Delphine zu bedenken.
»Nein, wir haben doch das Foto und das Erpresserschreiben rein zufällig gefunden, als wir bei ihnen im Haus waren«, wandte Guillaume ein.
»Auch wieder wahr.«
»Andererseits haben uns die Hinweise echt weitergeholfen«, fand Jacqueline.
Quenot ließ sich von dem Barhocker gleiten, auf dem er Platz genommen hatte. »Auf den ersten Blick vielleicht. Aber wo sind wir denn jetzt? Haben wir wirklich, was wir wollten? Nein. Ich würde eher sagen, er oder sie oder alle oder … was weiß ich, haben mit uns gespielt.« Er ballte seine Rechte zur Faust. »Und das sollte jetzt besser mal aufhören. Los, lasst uns das Handy zerstören, und dann machen wir sie alle platt!«
»Super Idee, Paul«, gab Jacqueline entnervt zurück.
Lipaire überlegte. Mit all diesen Hypothesen und Verdächtigungen kamen sie nicht weiter. Und mit sinnlosen Gewaltaktionen schon gar nicht. »Nichts und niemand wird hier plattgemacht«, stellte er unmissverständlich klar. »Wir lassen das Telefon fürs Erste in diesem abgeschirmten Säckchen. Wer weiß, vielleicht kann uns der Trojaner ja noch mal nützlich sein, dann drehen wir den Spieß um und lassen das ominöse Phantom nach unserer Pfeife tanzen. Aber jetzt haben wir anderes zu tun. Wir sollten uns wohl die Reliefkarte noch einmal vorknöpfen, oder?« Er erntete allgemeines Nicken, dann stellte er die Schatulle auf den Verkaufstresen.
Er hätte nicht sagen können, wie viel Zeit sie damit verbrachten, das bronzene Relief wieder und wieder mit dem gedruckten Plan des office de tourisme abzugleichen, den Delphine stapelweise im Laden ausliegen hatte, Hypothesen über Privathäuser zu bilden, auf die der Pfeil deuten könne. Und erneut die Frage nach der Werft zu diskutieren, um sie schließlich doch gänzlich zu verwerfen.
Irgendwann kam er für sich selbst an einen Punkt, an dem er zugeben musste, dass sie in eine Sackgasse geraten waren. Sie kamen so einfach nicht weiter, und wenn sie jeden Stein in Port Grimaud in Gedanken umdrehen würden.
»Also mir fehlt einfach der Durchblick«, murmelte Delphine und bestätigte damit seine nüchternen Überlegungen.
»Oder der Über blick«, ergänzte Paul. »Orientierung in unüberblickbarem Gelände ist eine der schwierigsten Disziplinen beim Militär. Auf mich konnten die Kameraden sich allerdings stets verlassen. Ich erinnere mich, wie meine Einheit im Dschungel von Guyana unterwegs war, um Gebiete zu kartieren, von denen …«
»Wir sind aber hier nicht im Dschungel, und die Karte liegt bereits vor uns«, brummte Guillaume und deutete auf das Relief. »Also, Monsieur Fremdenlegion, sag uns doch bitte, was du darauf siehst, wenn du schon der große Orientierungsexperte bist.«
Der Belgier hob abwehrend die Hände. »Ist ja schon gut. Ich wollte ja nur erzählen, dass wir im Urwald oft auf Bäume geklettert sind, um uns zu orientieren.«
»Leider haben wir außer Palmen nichts, was als Ausguck dienen könnte«, gab Lizzy zu bedenken.
»Putain , das ist es!«, stieß Jacqueline aus, und die anderen nickten aufgeregt.
Nur Lizzy Schindler sah sie stirnrunzelnd an.
»Der Kirchturm, Madame Lizzy, wir müssen auf den Kirchturm. Von dort aus haben wir den Überblick!«
»Jetzt verstehe ich«, sagte die alte Dame lächelnd. »Komm, Louis, es geht los!«
»Wartet, ich pack noch schnell ein paar Schokoriegel ein, falls der kleine Hunger kommt«, erklärte Delphine, dann brachen sie auf.