Sightseeing mit Hindernissen

»Eine herrliche Fahrt! Das waren eben noch echte Luxuskarossen, damals«, schwärmte Lizzy Schindler, als sie in Gassin dem bronzefarbenen Citroën DS 23, Baujahr 1973, entstieg. Lipaire hatte den Wagen unweit vom Zentrum der von Gilbert Roudeau geplanten Sozialsiedlung im Süden des Örtchens abgestellt. Sofort hatte das hydropneumatische Fahrwerk die Karosserie so weit abgesenkt, dass sie fast den Boden berührte.

Nach Lizzy Schindler sprang erst Pudel Louis freudig bellend aus dem Fond des Wagens, danach krabbelten Jacqueline und Karim heraus. Der Junge sah aus, als wäre er gern noch ein bisschen länger eingezwängt auf der Rückbank neben der Studentin sitzen geblieben.

»Ich weiß ja nicht, musste es ausgerechnet diese alte Chaise sein?«, brummte Delphine, nachdem sie sich aus dem Beifahrersitz geschält und ihr T-Shirt zurechtgezupft hatte.

»Die DS ist groß genug für uns alle, fährt ungemein komfortabel und war außerdem gerade bis zum Rand vollgetankt«, erwiderte Lipaire ein bisschen beleidigt. Das betagte Auto war in makellosem Zustand und gehörte einer Familie aus dem Elsass. Er hätte es ohnehin die Tage noch polieren lassen müssen, wie die Eigentümer sich das für ihre Ankunft in ihrem Sommerhaus wünschten. Eine kleine Ausfahrt würde also absolut folgenlos bleiben. Und außerdem hatte er schon lange vorgehabt, sich den Wagen einmal auszuleihen.

Delphine hatte aber anscheinend keinen Sinn für die Schönheit klassischer Automobile, denn die ganze Fahrt über hatte sie sich über irgendetwas mokiert und auch am eigentlich unvergleichlichen Komfort der Déesse , was übersetzt zu Recht so viel hieß wie »Göttin«, herumgemäkelt. Und das ausgerechnet von jemandem, der einen heruntergekommenen Twingo zur Fortbewegung nutzte.

Lipaire strich fast zärtlich über das Dach des Citroën. Es handelte sich um eine Pallas, das Spitzenmodell der damaligen Baureihe, war die Ikone des Fahrzeugdesigns und über jeden ästhetischen Zweifel erhaben. Hatte nicht sogar der Philosoph Roland Barthes einen Aufsatz über das Modell verfasst und in ihm ein geradezu magisches Objekt, ja, eine Art Kunstwerk gesehen? Vielleicht würde Guillaume sich selbst in ein paar Monaten so ein Auto zulegen, dachte er. Wobei: Möglicherweise stand ihm ein Mercedes SL aus den späten Sechzigern doch besser zu Gesicht. Oder ein klassischer Porsche? Er würde es sehen.

»He, was ist los mit dir?«, riss ihn Karim aus seinen Tagträumereien.

»Nichts, ich war nur in Gedanken«, murmelte er.

»Wollen wir den kleinen Louis nicht lieber dalassen?«, schlug Jacqueline vor. »Nicht, dass er wieder anfängt zu graben …«

»Wird vielleicht ein bisschen heiß für ihn heute«, pflichtete Lizzy Schindler ihr bei. »Der Wagen steht ja im Schatten. Allerdings müssten die Fenster einen Spalt offen bleiben, damit er nicht überhitzt.«

Lipaire seufzte. »Können wir ihn nicht einfach irgendwo anbinden? Die Sitze sind ziemlich empfindlich, und wenn ihm ein Missgeschick passiert …«

»Irgendwo anbinden? Also, das ist doch die Höhe!«, kreischte Lizzy mit knallrotem Kopf. »Wenn das so ist und man uns hier nicht will, laufen wir eben zurück nach Port Grimaud. Komm, mein lieber Louis.« Sie warf energisch den Kopf herum und ging los.

»Madame, so bleiben Sie doch«, lenkte Guillaume sofort ein. »Er darf natürlich wieder ins Auto.«

»Vielleicht will er jetzt aber gar nicht mehr«, gab die alte Dame spitz zurück.

»Aber, Madame, er meint es doch gar nicht so. Stimmt’s, Guillaume?«, versuchte sich Karim als Streitschlichter. Mit Erfolg: Lizzy Schindler ging zurück zum Citroën, deutete mit einer vagen Handbewegung auf die Seitenscheiben, die es herunterzulassen galt, und erklärte schließlich: »Gut, dann wollen wir mal nicht so sein, nicht wahr, Louis? Aber nur, damit das hier vorangeht.«

Lipaire hob den Hund in den Fond des Wagens, drückte die Tür zu und zischte ihm durchs Fenster ein »Mach bloß keinen Scheiß!« zu, was Louis mit einem schwer zu deutenden Winseln quittierte.

»Oh, Gertraud, schau nur, eine DS 23 in Topzustand. Die ist locker fünfzigtausend wert!«, tönte es plötzlich hinter Lipaire, als er sich wieder aufrichtete. Er drehte sich um und sah einen vielleicht siebzigjährigen Mann, der mit seinem Handy begeistert Fotos von der Déesse schoss. Seine Frau wirkte reichlich desinteressiert und drängte ihn zum Weitergehen. Amüsiert beobachtete Lipaire das Paar, da tauchte direkt neben ihm wie ein Schachtelteufel Quenot auf. Der Deutsche zuckte erschrocken zusammen. Er wusste natürlich, dass sie ihn hier, in seinem Wohnort, treffen würden, so hatten sie es schließlich ausgemacht. Warum er sich jedoch nie wie ein ganz normaler Mensch nähern konnte, verstand er beim besten Willen nicht.

»Noch auffälliger wär’s nicht gegangen?«, piepste der Belgier vorwurfsvoll. »Stell dich doch gleich noch daneben, damit die Leute Selfies mit dir machen können.«

Lipaire winkte entnervt ab. »Könnten wir dann?«

»Wonach suchen wir denn eigentlich?«, wollte Delphine wissen.

Guillaume kratzte sich am Kopf. »Hm, also so ganz genau … auf jeden Fall nach weiteren Hinweisen, würde ich sagen.«

»Hinweise … wie unten in Port Grimaud also?«

»So ungefähr.«

»Aber da haben wir auch nichts gefunden«, gab Delphine zu bedenken.

»Stimmt schon. Aber das war der falsche Ort. Jetzt sind wir am richtigen, das hab ich regelrecht im Urin.«

»Soso.«

»Und wo fangen wir an?«, fragte Karim in die Runde.

»Ich würde sagen, da wir einen ausgewiesenen Gassin-Experten in unseren Reihen haben, könnte der uns in einem kleinen Referat die Besonderheiten seines Dorfes zusammenfassen, oder, Paul?«

Quenot schien aus allen Wolken zu fallen. »Ich? Wieso?«

»Na, weil du seit Jahren hier oben lebst. Und man beschäftigt sich doch als denkender Mensch automatisch mit der Geschichte seines Wohnortes, oder liege ich da falsch?«

Quenot senkte seinen Blick. »Klar. Und ich kann auf jeden Fall sagen«, begann er zögerlich, »dass wir uns hier in einem Teil des Örtchens befinden, der sich Nouveau Village , also Neues Dorf , nennt, weil er eben … neuer ist als der alte Teil. Es gibt in Gassin eine Kirche, mehrere Läden, eine Schule und einen Kindergarten. Und ein Office de Tourisme. Ach ja, ein Sportgelände am Ortsausgang gibt es auch. Außerdem einen Gemeinschaftssaal für zweihundertfünfzig Leute, da ist samstags immer Bingoabend. Sehr beliebt. Hm, was noch? Einen Bäcker, einen Metzger, Cafés, Restaurants und eine Reihe anderer interessanter Dinge, auf die ich jetzt gar nicht weiter eingehen will.«

Lipaire versuchte, ein Grinsen zu unterdrücken – vergeblich. Quenot hatte ganz offensichtlich keine Ahnung von seinem Wohnort.

»Wo genau wohnst du denn, Paul?«, fragte Delphine.

Der Belgier zeigte auf einen großen, dreistöckigen Gebäudekomplex, der durch mehrere Durchgänge im Erdgeschoss den Blick auf einen weitläufigen Innenhof mit Bäumen, Büschen und gepflasterten Wegen freigab.

Jacqueline nickte. »Das Haus, in dem Paul wohnt, ist der Zentralbau und damit das Herzstück des neuen Dorfteils von Roudeau, der übrigens erst in den Neunzigerjahren eingeweiht wurde«, erklärte sie.

Karim wirkte verwirrt: »Das sieht doch alles viel älter aus.« Er zeigte auf einige verschiedenfarbige Häuschen, alle mit kleinem Garten davor, von denen keins dem anderen glich.

»Denk an Port Grimaud, da hat Roudeau nach demselben Prinzip gearbeitet. Nur dass es ihm hier oben am Berg nicht um Freizeitwohnsitze für Besserverdiener ging, sondern um erschwingliche Wohnungen für Familien und Leute mit schmalerem Geldbeutel. Man wollte der Landflucht entgegenwirken, die immer schlimmer wurde. Mitte der Achtzigerjahre gab es nämlich nur noch eine Handvoll Senioren, die im alten Dorfkern wohnten. Also hat man sich zu dieser Ortserweiterung entschlossen, hier, südlich des alten Zentrums. Und deren Zentralbau sollte ein Dorf im Kleinen sein, die Wohnungen um einen Platz gruppiert, im Erdgeschoss Läden, eine Gemeinschaftsküche, die alle nutzen können, ein Versammlungsraum und sogar eine Grundschule.«

»Genau«, vermeldete Quenot und machte ein wichtiges Gesicht, als hätte er das auch noch angefügt, wenn man ihn nur gelassen hätte.

»Bravo, Jacqueline! Wenigstens eine, die sich auskennt«, gab Lizzy beeindruckt zum Besten. »Aber sag mal, Kindchen: Woher weißt du das denn?«

»Ach, mein Vater wollte vor ein paar Jahren, dass ich auf einen Empfang der Gemeinde Gassin zum fünfundzwanzigsten Jubiläum mitgehe. Und da gab es eben die eine oder andere Rede über die Geschichte. Aber sollten wir jetzt nicht mal reingehen?«

»Moment!«, rief Lipaire. »Wann, hast du gesagt, wurde das hier alles gebaut?«

»In den Neunzigern«, bestätigte sie noch einmal. »Die Feier war 2018, glaube ich, also müsste die Einweihung im Jahr 1993 gewesen sein. Aber nagle mich nicht aufs genaue Jahr fest, ich kann mich auch täuschen.«

»Erinnert ihr euch an die Zahlen auf der Kiste? Neun und drei? Das war eine Jahreszahl.«

Sie machten große Augen.

»1993«, wisperte Jacqueline schließlich.

Guillaume sog die Luft tief in seine Lungen. »Genau. Die Gegenstände in der Kiste waren aber älter.« Er wartete ab, bis alle nickten. Ihm war wichtig, dass sie verstanden, was nun kam. »Das bedeutet, dass Roudeau die Schatulle noch mal ausgegraben hat. Ich hab mich die ganze Zeit schon gewundert, warum so eine einfache Blechkiste so einen wertvollen Deckel hat. Aber jetzt ist es natürlich klar: Wahrscheinlich hatte er den Schatz bei sich versteckt. Und als ihm klar wurde, dass er den nicht mit ins Grab nehmen kann, musste er sich was anderes überlegen. Als er dann das endgültige Versteck für den Schatz gefunden hatte, hat er seine Frau gebeten, dieses mit künstlerischen Mitteln zu verschlüsseln. Das bedeutet, dass wir tatsächlich …« Er stockte mitten im Satz. Sie waren am Ziel.

»Kommt, ich zeig euch jetzt mal alles«, platzte Quenot in die Stille und ging in Richtung des Durchgangs, der auf den neuen Dorfplatz in der Mitte des Zentralbaus führte.

Sie betraten das Atrium und standen auf einer Grünfläche aus Kunstrasen.

»Willst du uns deinen Balkon zeigen?«, mutmaßte Karim.

»Schlecht möglich, ich wohne nämlich im Erdgeschoss«, erklärte der Belgier. »Ich bin auch gar nicht auf Besuch eingerichtet. Hätte nicht mal genügend Stühle für euch alle.«

»Ja, vielleicht ein andermal«, sagte Lipaire. Schließlich hatten sie Wichtigeres zu tun, als auf ein Kaffeekränzchen bei Paul Quenot vorbeizuschauen.

»Mich hätte schon mal interessiert, wie die Wohnungen hier so aussehen«, kommentierte Delphine ein wenig enttäuscht. »Falls ich meinen Alten doch mal verlasse, könnt ich mich vielleicht um eine bewerben.«

Quenot schüttelte den Kopf. »Nichts für eine Mutter mit zwei Kindern. Dafür sind die Appartements zu klein. Es gibt nur zwei Zimmer, und alle haben den gleichen Schnitt. Nur manche spiegelverkehrt, je nachdem, wo sie im Gebäude liegen. Ist hier nämlich alles regelmäßig. Das Gebäude, die Zimmer, die Eingänge.«

»Verdammt!«, rief Lipaire auf einmal aus. Er sah auf die Fassaden der Gebäudeteile um sie herum, die weißen, hölzernen Fenster, die schmalen metallenen Balkone. Alles war streng symmetrisch, selbst die Bögen der kleinen Arkaden, hinter denen sich die Eingänge zu den Häusern, Wohnungen und Läden befanden. Die Anordnung der Bäume und Büsche war regelmäßig, die Rasenflächen und Wege wie mit dem Lineal gezogen. Und sie liefen alle im Zentrum in einem Punkt zusammen: einem vierseitigen steinernen Brunnen!

»Ach, so schlimm ist es gar nicht«, erwiderte der Belgier.

»Nein, das mein ich nicht. Der Brunnen muss es sein, der Brunnen!«, rief der Deutsche, doch Paul zischte ihm sofort ein »Psst!« entgegen und legte seinen Zeigefinger an die Lippen. Sicher: Sie waren schließlich nicht die Einzigen hier, und auch wenn im Moment niemand auf dem Platz zu sehen war, standen dennoch zahlreiche Fenster offen, hinter denen man Fernseher laufen oder Töpfe klappern hörte.

Quenot erklärte leise: »Den Brunnen wollte ich euch … sowieso gerade zeigen.« Er ging drauf zu, die anderen folgten ihm.

»Auf der Stele in der Mitte ist ja auch so eine Bronzeplatte eingelassen«, entfuhr es Lipaire. Er deutete mit dem Finger darauf. Sie trug dasselbe Wappen, das auch die Brücke in Port Grimaud zierte, darunter prangte dieselbe Banderole mit dem Namen Roudeau.

Quenot nickte. »Ja … genau, ihr … lasst mich ja nie ausreden.«

»Lasst mich mal was nachsehen!«, murmelte Delphine, kniff die Augen zusammen und untersuchte den Rand der Platte. »Bingo. Dieselbe Signatur. M. R. 93«, vermeldete sie.

»Da muss er den Schatz versteckt haben. Dann lasst uns loslegen«, drängte Karim, doch Lipaire hielt ihn zurück.

»Nicht jetzt, am helllichten Tag! Wir hätten viel zu viele Zuschauer.«

»Und wenn wir uns als Gemeindearbeiter verkleiden und das Ding hochnehmen?«, schlug Paul vor.

Gar keine so schlechte Idee, musste Guillaume eingestehen, doch er zog den Schutz der Dunkelheit einer solch offenen Aktion vor. »Lasst es uns besser in der Nacht durchziehen«, flüsterte er seinen Mitstreitern zu. »Der Schatz hat lange genug hier gelegen, auf ein paar Stunden kommt es nicht an. Und außer uns weiß niemand, wo es zu suchen gilt. Also, zurück zum Auto und dann geordneter Rückzug, okay?« Er hörte seinen Worten nach und fand, dass sie bedenklich nach Ex-Legionär klangen. Es wurde Zeit, dass ihre gemeinsame Aktion zu einem Abschluss kam.

Als sie den Durchgang passiert hatten, blieb Lipaire so abrupt stehen, dass Karim, der dicht hinter ihm lief, gegen ihn knallte.

»Merde , Guillaume, kannst du mich nicht vorwarnen, wenn du so mir nichts, dir nichts …«

»Psst«, zischte der nur und starrte unverwandt auf den Mann und die Frau, die neben ihrem Auto standen, in dem der Hund wie wild bellte. Er hatte sie noch nie gesehen, doch im Gegensatz zu den Schaulustigen, die sie vorher von dem Wagen vertrieben hatten, schienen die beiden ganz und gar nicht an dem Oldtimer interessiert, sondern vielmehr am Wageninneren. Der Mann machte sogar Fotos mit einer kleinen Kamera. Auch das hätte vielleicht noch als reine Neugier an einem seltenen Fahrzeug durchgehen können. Aber der dritte Mann, der neben dem Wagen auf dem Boden kniete, um darunter zu schauen, nicht mehr. Endgültige Gewissheit brachte der Ausdruck in den Augen des Paares, als sich ihre Blicke kreuzten: eine Mischung aus Entsetzen darüber, ertappt worden zu sein, und offener Feindseligkeit.

»Putain , die sind hinter uns her«, fasste Quenot Lipaires Vermutung in Worte.

»Hinter uns?«, fragte Lizzy ängstlich. »Was ist mit Louis? Ist er in Gefahr? Mein Gott, wir müssen ihm helfen, schnell.«

Delphine schüttelte den Kopf. »Quatsch, was sollen die denn mit einem Dackel anfangen?«

»Louis ist kein Dackel, sondern ein Pudel.«

Lipaire ließ die drei am Auto für keinen Moment aus den Augen, als er sagte: »Könntet ihr bitte ruhig sein? Dem Hund geschieht nichts. Aber wir müssen schnellstens abhauen.«

»Abhauen?« Jacqueline klang nun auch alarmiert. »Was wollen die denn bloß von uns? Mein Gott, ich hätte mich nie darauf einlassen dürfen. Und das alles nur, weil ich dich irgendwie süß fand.«

»Mich?« Karim schien aus allen Wolken zu fallen. »Du findest mich süß?«

»Leute, bitte!« Lipaire spannte seine Muskeln an. Sie hatten nur einen Versuch. »Ich zähle bis drei, dann rennen wir los.«

»Wohin denn?«, wollte Delphine wissen.

»Paul, vielleicht könntest du uns doch mal schnell deine Wohnung zeigen.«

»Aber ich habe gar nicht aufgeräumt«, protestierte der Belgier.

»Das ist doch scheißegal, verdammt!«

»Ihr werdet schon sehen …«

»Die sind hinter uns her, putain. Also, bei drei nimmst du Madame Lizzy huckepack – pardonnez-moi , Madame , aber das muss jetzt leider sein –, und dann los.«

Quenot schien noch immer nicht überzeugt. »Aber ich …«

»Drei!«

Sie machten auf dem Absatz kehrt und begannen zu rennen.

»Paul, du musst uns den Weg zeigen«, keuchte Lipaire, als sie den Innenhof wieder erreicht hatten.

Schon zog der Muskelberg mit Lizzy Schindler, die er sich wie eine große Puppe über die Schulter geworfen hatte, an ihnen vorbei. Der alten Dame schien das jedoch nicht das Geringste auszumachen, im Gegenteil, sie hob die Hand und winkte den anderen zu. Lipaire hätte beinahe gelacht, so grotesk sah das aus, doch ihm war ganz und gar nicht nach Lachen zumute. Sein ganzer Körper war von Adrenalin geflutet. Er wagte einen Schulterblick – und sah, dass sie richtiggelegen hatten. Die drei Unbekannten erschienen gerade am anderen Ende des Durchgangs. Sie waren ihnen dicht auf den Fersen.

»Schneller«, trieb Guillaume die anderen an.

»Da vorn links rein«, presste Quenot hervor und zeigte auf eine der vielen Türen, die von dem Innenhof abgingen.

Lipaire hörte bereits das Klimpern des Schlüsselbunds, sah, wie der Belgier ihn in einer fließenden Bewegung ins Schloss steckte, die Tür aufriss, wartete, bis alle drin waren, und sie schnell, aber geräuschlos wieder zumachte. Dann ging er zu dem kleinen Stuhl neben einem Telefontischchen, um Lizzy Schindler mit einem geschmeidig wirkenden Schulterwurf darauf abzusetzen. Lächelnd saß sie da, als habe sie schon die ganze Zeit dort gewartet.

Die anderen pressten sich gegen die Wand des Flurs, damit sie durch das winzige Fenster neben der Tür nicht gesehen werden konnten. Keine zwei Sekunden später hörten sie die schnellen Schritte ihrer Verfolger. Sie hielten die Luft an. Die Schritte wurden nun langsamer, leiser. Und kamen näher.

Angst ergriff Guillaume. Jedoch nicht um sich selbst. Er hatte Angst um die anderen. Machte sich Vorwürfe, dass er sie in diese Geschichte hineingezogen hatte, ohne zu wissen, was diese Geschichte eigentlich war. Welche Risiken sie barg. Wenn einem oder einer von ihnen etwas passieren sollte, hatte er das zu verantworten. Aber er wollte nicht, dass ihnen auch nur ein Haar gekrümmt wurde. Denn es war etwas passiert, womit er nicht gerechnet hatte: Er hatte sich an sie gewöhnt. Nein, mehr noch, er hatte sie gern. Sie waren unter unmöglichen Bedingungen zur unwahrscheinlichsten Truppe geworden, die man sich nur denken konnte. Ein Haufen unverbesserlicher Individualisten, die sich irgendwie zusammengerauft hatten. Und nach den vielen Jahren, die Lipaire sich allein durchgeschlagen hatte, in denen er, nach den großen Enttäuschungen seines Lebens, echte Bindungen gemieden hatte, fühlte sich das überraschend gut an.

Er sah einen nach dem anderen an: Quenot hatte die Augen zusammengekniffen und starrte wie hypnotisiert auf die Tür. Seine Hand wanderte zu seinem hinteren Hosenbund, wahrscheinlich hatte er ein Messer oder irgendetwas anderes Tödliches im Gürtel stecken. Delphine schaute eher genervt denn erschrocken drein, Jacqueline wirkte voll konzentriert. Und Karim? Er blickte unablässig grinsend zu dem Mädchen. Als er bemerkte, dass Lipaire ihn musterte, hob er entschuldigend die Schultern und formte mit den Lippen ein unhörbares »süß«. Madame Lizzy saß noch immer dort, wo Paul sie abgesetzt hatte. Offenbar waren sich nicht alle des Ernstes ihrer Lage bewusst. Vielleicht war das auch ganz gut so.

In diesem Moment verdunkelte sich das Fensterchen. Wahrscheinlich, weil jemand davorstand und zu ihnen hereinlugte. Lipaire wagte nicht zu atmen. Er schickte ein Stoßgebet zum Himmel, etwas, das er schon seit vielen Jahren nicht mehr getan hatte.

Dann verschwand der Schatten wieder. Und auch die Schritte entfernten sich langsam.

»Ist doch eigentlich ganz schön aufgeräumt«, flüsterte Jacqueline plötzlich.

Lipaire verstand nicht, was sie meinte. Erst als Quenot antwortete: »Na ja, aber wenn ich Besuch kriege, stell ich schon gern ein paar Blumen auf den Tisch«, fiel der Groschen. Ganz offensichtlich hatten die anderen deutlich bessere Nerven als er selbst.

»Blumen, echt jetzt?« Delphine schüttelte den Kopf. »Musst mal zu mir kommen, da kannst du froh sein, wenn keine Essensreste am Boden rumliegen.«

»Aber in deinem Laden war es doch sehr sauber«, zischelte Lizzy vom Telefontischchen herüber.

»Ja? Da lass ich meinen Alten auch nicht rein.«

Quenot wollte etwas antworten, da hob Lipaire die Hand. »Leise, verdammt.« Er lauschte in die Stille. »Ich glaube, sie sind weg. Wir sollten versuchen, zum Auto zu kommen, bevor sie zurück sind. Paul, kannst du schauen, ob die Luft rein ist?«

Der Belgier nickte, öffnete langsam die Tür, spähte durch den Spalt nach draußen, machte dann mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis, gefolgt von ein paar seiner unverständlichen Militär-Pantomime-Handzeichen.

Genervt stieß Lipaire die Luft aus. »Lasst uns abhauen.«

Alle nickten, Quenot pflückte kommentarlos Lizzy von ihrem Stuhl, dann stieß er die Tür auf, und sie rannten los.


Kurz darauf saßen sie alle wieder in der DS, Quenot neben Lipaire, die anderen, nun zu viert, auf den Rücksitz gezwängt, wo Louis einen Freudentanz aufführte und sein Frauchen schwanz­wedelnd begrüßte, als habe er sie monatelang nicht gesehen. Lipaire startete das Auto, das durch das hydropneumatische Fahrwerk erst einmal wie ein Aufzug nach oben gehoben wurde. Das war einzigartige, begeisternde Technik von Citroën, doch jetzt löste das kein erhebendes Gefühl aus, sondern setzte ihn zusätzlich unter Stress, denn jede Sekunde zählte. Vor allem, weil in diesem Moment ihre drei Verfolger aus dem Durchgang auf sie zugerannt kamen, wie er im Augenwinkel sah.

»Ha, die haben wir schön ausgetrickst«, jubilierte Jacqueline.

Guillaume legte den Gang ein und spielte mit dem Gedanken, das Fenster runterzulassen und ihnen zum Abschied den Mittelfinger zu zeigen, da kam vom anderen Ende der Straße ein schwarzer Bentley angeprescht und hielt direkt auf sie zu.

»Merde« , entfuhr es dem Deutschen, dann setzte sich der Citroën schwerfällig in Bewegung, als die dunkle Limousine an ihnen vorbeirauschte.

»Da, am Steuer, das ist Henri Vicomte«, schrie Karim.

Lipaire konnte das nicht erkennen, sah aber im Rückspiegel, wie der Bentley vor ihren Verfolgern scharf bremste, wie die Tür aufflog und sie in den Wagen sprangen. Der Deutsche drückte so stark aufs Gaspedal, als wolle er es durch den Boden pressen. Auch wenn das Modell zu seiner Entstehungszeit das technisch innovativste Auto der Welt gewesen war: Inzwischen wirkte die Beschleunigung doch ziemlich gemächlich. Hätte er gewusst, dass sie in eine Verfolgungsjagd geraten würden, hätte er sich das Porsche-SUV von Familie Schmittke geliehen. Doch alles Lamentieren half nichts, nun mussten sie eben mit dem klarkommen, was sie hatten. Außerdem waren die engen Serpentinen hinunter nach Port Grimaud sowieso nicht für hohe Geschwindigkeiten gemacht, egal mit welchem Fahrzeug.

Schon bei der ersten Abzweigung vor dem steinernen Portal des Gassiner Friedhofs haderte er aber wieder mit seiner Entscheidung. Während die DS auf gerader Strecke wie eine Sänfte über die Straße zu schweben schien, lösten Kurven in Verbindung mit hoher Geschwindigkeit eine Schaukelbewegung aus, als säße man bei starkem Seegang in einem Schiff. Seinen Mitfahrern entrang sich ein überraschter Laut, als er sich mit dem tonnenschweren Gefährt in die Kurve legte. Noch bevor er den Scheitelpunkt erreicht hatte, schaltete er herunter und drückte das Gaspedal wieder bis zum Anschlag durch. Auf der engen Straße preschten sie durch ein Waldstück aus Steineichen, und Lipaire konnte nur hoffen, dass kein Traktor eines Weinbauern vor ihnen auftauchte – oder, noch schlimmer, ihnen entgegenkam.

»Haben wir sie abgehängt?«, fragte Jacqueline und versuchte, sich umzudrehen, was ihr aber wegen der Enge auf der Rückbank nicht recht gelang.

Lipaire blickte in den Rückspiegel. Der Bentley war nicht zu sehen, aber das musste nichts heißen, die Strecke war kurvig und durch die Bäume schwer einsehbar. Doch gleich würden sie aus dem Wäldchen heraus sein und wieder bessere Sicht haben. Als es so weit war, tat sich auf einer Seite ein steiler Abhang auf, nur durch eine hölzerne Leitplanke von der Straße getrennt. Die würde dem Gewicht ihrer Karosse kaum Widerstand bieten, sollte er eine der Kurven nicht kriegen und …

»Da sind sie!« Karim zeigte mit ausgestrecktem Arm nach oben.

Auch Lipaire sah es: Als sie eine Haarnadelkurve samt Hundertachtzig-Grad-Wende passiert hatten, tauchte am Ausgang des Wäldchens die schwarze Limousine der Vicomtes über ihnen auf.

»Fahr schneller«, kiekste Quenot neben ihm, doch Guillaume ignorierte ihn. Er war bereits am Limit, und lieber würde er sich von ihren Verfolgern schnappen lassen, als freiwillig in den Tod zu rasen. Konzentriert lenkte er den schwankenden Luxusdampfer weiter bergab, um in jeder Kehre festzustellen, dass der Bentley aufholte.

»Ich glaube, Louis ist schlecht«, hörte er plötzlich die besorgte Stimme von Lizzy Schindler, gefolgt von einem kehligen Würgen des Hundes und einem scharfen, sauren Geruch, der sich im Auto ausbreitete.

»Hat der Hund etwa gekotzt?«, fragte Lipaire mit einer Stimme, die fast genauso schrill klang wie die des Belgiers. »Das Auto ist nur geliehen, ich komm in Teufels Küche, wenn an die Sitze was drankommt.«

»Dann fahr nicht so deppert, crétin «, keifte Lizzy Schindler. So hatte er sie noch nie erlebt und hielt sich mit weiteren Äußerungen über das Tier lieber zurück. Er hatte sowieso andere Sorgen. Im Geiste versuchte er, die weitere Strecke durchzugehen, Abzweigungen vorherzusehen, die sie nehmen konnten, alte Schuppen, die ihnen als Unterschlupf dienen konnten …

»Auch das noch«, tönte Jacqueline von der Rückbank.

»Musst du auch kotzen?«, fragte Lipaire panisch.

»Nein, aber da steht die Polizei. Verkehrskontrolle, wie’s aussieht.« Sie deutete nach vorn.

Tatsächlich waren dort, einige Kehren weiter unten, mehrere Polizisten auf der Straße zu sehen. »Putain« , fluchte er.

»Ausdruck«, merkte Karim von hinten aus an, doch dem Deutschen war nicht nach Geplänkel zumute.

Zum ersten Mal seit ihrer überstürzten Abfahrt meldete sich auch Delphine zu Wort. »Die flics ! Jetzt sind wir am Arsch«, unkte sie.

Da spürte Guillaume, wie sich eine Hand wie ein Schraubstock um seinen Oberarm legte. »Paul, was soll das?«

Der Belgier blickte ihn durchdringend an. »Vertraust du mir?«

»Was?«

»Ob du mir vertraust.«

»Nein, natürlich nicht, das solltest du eigentlich …«

»Nur dieses eine Mal!«

»Ich hab dir früher vertraut, mehr als jedem anderen. Wohin uns das gebracht hat, wissen wir beide.«

»Ich habe eine Idee.«

»Was denn für eine?«

»Keine Zeit für Erklärungen. Verlass dich einfach auf mich.«

»Ich werd nicht ausgerechnet jetzt damit anfangen, mich auf dich zu …«

»Verdammt noch mal, Liebherr, jetzt halt die Klappe, und lass mich machen«, brüllte der Belgier. »Oder weißt du was Besseres?«

Lipaire nickte erschrocken. »Okay. Was soll ich tun?«

»Lass mich raus.«

»Du willst abhauen?«

»Nein. Lass mich einfach da vorn raus, beim Schafstall.«

»Beim Schafstall?« Lipaire wusste, welches Gebäude er meinte. Ein paar Hundert Meter weiter stand ein ehemaliger Stall, der vor einiger Zeit restauriert worden war und nun für kleine Feste und vor allem vom örtlichen Kindergarten als Indoor-Spielplatz genutzt wurde. »Was willst du …«

»Vertrau ihm, Himmel noch mal«, bellte Delphine von hinten, und Lipaire nickte wieder.

»Wenn ich raus bin, gib Gas, und fahr die Nächste links rein.«

»Aber das ist doch eine Schleife, da komm ich oberhalb vom Stall später wieder auf dieser Straße raus.«

Quenot nickte. »Genau. Dann sammelst du mich wieder ein.«

Der Deutsche rang mit sich. Sollte er wirklich nachgeben und den Belgier machen lassen? Sein Schicksal in Quenots Hände legen? Der klang tatsächlich, als habe er einen Plan. Andererseits: Was konnte der Belgier sich in dieser kurzen Zeit schon ausgedacht haben, worauf Lipaire nicht selbst gekommen wäre? Nein, das war alles zu undurchsichtig und zu … In diesem Moment öffnete Quenot die Beifahrertür und ließ sich aus dem Auto fallen.

Lizzy und Jacqueline kreischten erschrocken auf, Lipaire verriss kurz das Lenkrad, während Karim geistesgegenwärtig nach vorn kletterte und die Tür wieder zuzog.

»Was war das denn jetzt?«, fragte Delphine, doch Guillaume antwortete nur: »Vertrauen!«

Dann bog er nach links ab, wie Quenot es gewollt hatte. Diese Straße war schmaler und unbefestigt, doch mit dem hochbeinigen Fahrwerk kamen sie gut voran. Der Bentley würde hier mehr Probleme haben, vermutete Lipaire, und langsam begann er, tatsächlich einen Plan hinter dieser Aktion zu vermuten. Im Rückspiegel sah er die mächtige Staubwolke, die sie hinter sich herzogen. Sie waren leicht auszumachen, ihre Verfolger würden keinerlei Probleme haben, ihre Spur aufzunehmen. Dennoch war er zumindest etwas weniger beunruhigt als zuvor. Die Verbundenheit zu seinem früheren Freund Paul war wohl doch nicht gänzlich verschwunden.

Lizzy lachte plötzlich laut los.

»Was ist, Madame?«, fragte Karim besorgt und drehte sich um.

»Ach, ich musste nur gerade an die Dreharbeiten zu einem dieser Gendarmen-Filme denken, da kommt auch so eine wilde Verfolgungsjagd in einem Citroën vor.«

»Waren Sie etwa dabei?« Jacquelines Stimme klang geradezu ehrfürchtig.

»Natürlich. Sie brauchten ja immer viele Komparsen.«

»Wahnsinn. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich bedaure, dass ich damals noch nicht gelebt habe.«

»Kann ich verstehen. Das war schon immer eine große Sache, wenn Louis in der Gegend war.«

»Ihr Hund?«, fragte Karim.

Jacqueline schnalzte mit der Zunge. »Du Knallkopf. De Funès natürlich, n’est-ce pas , Madame

»C’est ça. Eine Szene haben sie in Port Grimaud gedreht, ganz in der Nähe meines damaligen Hauses. Louis war sogar auf einen Kir bei mir auf der Terrasse, und danach …«

»Sie sind hinter uns«, platzte Guillaume heraus, der keinen anderen Weg sah, eine weitere Geschichte von Lizzy Schindler zu unterbinden.

»Und jetzt?«, wollte Karim wissen.

Lipaire konnte selbst kaum glauben, dass er antwortete: »Machen wir genau das, was Paul gesagt hat.« Sie waren nun kurz vor der Abzweigung, die sie wieder auf die Hauptstraße und damit hinunter nach Port Grimaud bringen würde. Er bremste leicht ab und zog dosiert das Lenkrad herum, um das Heck des Citroëns ausbrechen zu lassen. Die Karosse schlitterte seitlich in die Kurve, und sie waren wieder auf der asphaltierten D 89. Schlagartig hörte das Holpern auf. Alle, wahrscheinlich sogar Louis und die DS, atmeten erleichtert auf. Keiner sagte etwas, bis sie fast die Stelle erreicht hatten, an der Quenot vorher aus dem Auto gesprungen war.

»Scheiße, er ist nicht da!«, entfuhr es Delphine.

Lipaire sah es auch. Besser gesagt, er sah nichts. »Putain de merde« , schimpfte er. Wie hatte er sich nur auf diese dämliche Idee einlassen können. Er hätte es besser wissen müssen.

»Und jetzt?« Karim klang verzweifelt.

Lipaire blickte kurz zu ihm. »Kannst du auch mal was anderes fragen, als immer …«

»Pass auf!«, schrie der Junge auf einmal und zeigte nach vorn.

Instinktiv trat Lipaire auf die Bremse, dann erst schaute er in Richtung Straßenrand – wo Quenot wieder einmal wie aus dem Nichts aufgetaucht war. Wie machte er das nur immer? Als das Auto quietschend zum Stehen kam, riss der Belgier die Tür auf und quetschte sich neben Karim auf den Beifahrersitz. Alle starrten ihn mit offenem Mund an.

»Allez, allez« , kiekste er nur, und Lipaire beschleunigte. Im Rückspiegel konnte er sehen, dass der Bentley gefährlich aufgeholt hatte. Und als er nach vorn blickte, entdeckte er auch wieder die Polizei. In weniger als dreißig Sekunden würden sie sie erreichen. Und dann? Wenn jetzt nicht noch ein Wunder geschah …

»Fahr langsam«, zischte der Belgier, als sie die letzte Kurve vor den flics nahmen.

Mangels Alternativen tat Lipaire wie ihm geheißen. Als die Polizisten die DS kommen sahen, machten sie ein paar Schritte auf die Fahrbahn zu. Da hob einer der Beamten unvermittelt die Hand – und winkte sie hektisch vorbei. Die anderen hatten sich geduckt, um von den Polizisten nicht gesehen zu werden, doch die hatten gar keine Augen für sie, sondern starrten nur nach oben. Im Rückspiegel konnte Lipaire erkennen, dass sie etwas auf der Straße ausrollten.

Keiner sagte ein Wort, alle blickten nach hinten, wo nun der Bentley aus der letzten Kurve heranpreschte. Erneut fingen die Polizisten an zu winken, doch diesmal nicht, um ihre Verfolger zum Weiterfahren zu animieren. Im Gegenteil, sie wollten sie genau daran hindern. Und tatsächlich: Die Limousine bremste zwar ab, fuhr aber dennoch über das Nagelband, das die Polizei ausgerollt hatte, um sie zu stoppen – und geriet ins Schlingern, als die spitzen Nägel die Vorderreifen durchstachen. Das Letzte, was Lipaire sah, bevor die nächste Kurve sie aus dem Blickfeld führte, war ein verzweifelt wirkender Henri Vicomte, der aus dem Auto sprang und ihnen entmutigt nachblickte.


»Ich kann’s nicht fassen«, sagte Karim nach ein paar stillen Sekunden. »Du hast uns gerettet, Paul!« Er klopfte dem Belgier auf die Schulter.

»Fantastisch!«, entfuhr es Lizzy, und Delphine kommentierte das Ganze mit: »Respekt.«

Nur Jacqueline stellte die Frage, die auch Lipaire mehr als alles andere umtrieb: »Wie hast du das gemacht?«

Quenot winkte ab. »Ach, das war doch gar nichts.«

»Gar nichts?« Karim klang fassungslos. »Das war … der Wahnsinn.«

»Ich bin aber auch verdammt gut gefahren«, mischte sich Lipaire ein, doch sein Einwurf wurde ignoriert. Zu neugierig waren alle auf Pauls Geschichte.

»Jetzt sag schon, du Riesenbaby«, drängte Jacqueline. »Wie hast du das fertiggebracht? Das war wirklich …«

»Danke, danke. Spielt doch keine Rolle, wie es sich genau zugetragen hat.«

»Oh, und ob das eine Rolle spielt«, beharrte Delphine. »Speis uns hier nicht mit so einem Scheiß ab. Was hast du gemacht?«

»Ich hab angerufen.«

Sie warteten, ob er diese kryptische Aussage noch präzisieren würde. Da das nicht der Fall war, fragte Lizzy: »Wo denn?«

»Bei der Polizei.«

»Bei der … und warum musstest du dafür aussteigen?«, platzte es nun aus Lipaire heraus, der eigentlich seine Neugier hatte verbergen wollen.

»Ich wollte ja nicht von einem eurer Handys anrufen, sondern so, dass man es nicht zurückverfolgen kann.«

»Also?«, ermunterte Delphine ihn weiterzureden. »Herrje, jetzt lass dir nicht jedes Wort aus der Nase ziehen.«

»Also bin ich zum Schafstall. Ich kenn den ganz gut, ich fahr da schließlich jeden Tag vorbei. Meistens sind vormittags die vom Kindergarten drin, die kenn ich auch. Ich hab denen nämlich den Garten angelegt. Jedenfalls hängt da draußen noch ein öffentliches Kartentelefon.«

»Ach, die gibt’s noch?«, warf Jacqueline ein.

»Zum Glück«, erwiderte Paul Quenot. »Und dann hab ich den flics was erzählt.«

»Mon Dieu , was denn?«, presste Delphine durch ihre Zähne hervor.

Doch Quenot lenkte ab: »Oh, wir sind ja schon da!«

Tatsächlich fuhren sie gerade auf den großen Parkplatz vor dem Ortseingang, an dem sie zuvor eingestiegen waren. Der Wagen stand noch nicht richtig, da riss der Belgier schon die Tür auf und stieg aus.

»Warum ziert er sich denn so?«, fragte Delphine.

Jacqueline zuckte mit den Schultern. »Irgendwie scheint es ihm peinlich zu sein, dass wir ihn so loben.«

»Warum, immerhin hat er uns den Arsch gerettet.«

»Das kriegen wir schon noch raus«, sagte Lipaire leise und verließ ebenfalls den Citroën. Mit zitternden Händen zündete er sich einen Zigarillo an. Als sie neben dem Auto standen, fügte er hinzu: »Das war ziemlich aufregend heute. Jetzt erholen wir uns erst mal, und morgen früh treffen wir uns zur Besprechung, ja? Ich mach so lange den Wagen sauber. Wohl oder übel.« Dabei blickte er vorwurfsvoll zu Lizzy Schindler, die jedoch nur nickte, sich ihren apathisch wirkenden Hund unter den Arm klemmte und davonstakste. Auch die anderen setzten sich langsam in Bewegung, offensichtlich noch etwas mitgenommen von der gerade überstandenen Verfolgungsjagd. Nachdem sie ein paar Schritte gegangen waren, rief Lipaire ihnen nach: »Paul?«

Der Belgier blieb stehen und drehte sich langsam um. »Ja?«

Lipaire rang mit sich, dann brummte er: »Gar nicht mal so übel, die Aktion eben.«